Anthony
Verfasst: 31.10.2007, 09:31
„Scheußlich, Lola, heut’ läuft ja gar nix ...“ Mia drückt ihr einen Kuss auf die Wange, zieht den Plüschmantel aus und wirft sich auf das Sofa in Lolas Etablissement.
Es ist kalt in dieser Novembernacht im kurzen Latexröckchen, den ungefütterten Lacklederstiefeln. Die Mädchen kommen immer wieder herein, um sich aufzuwärmen. Im Moment ist die Bar leer bis auf die beiden Frauen. Nicht ein einziges Zimmer hat Lola heute vermietet. Doch sie lässt das nicht an den Nutten aus, die ihre Freundinnen sind. Sie erinnert sich noch gut daran, wie es ist, in der Kälte auf einen Freier zu warten oder bei schwüler Hitze in Sommernächten.
Nach dreißig Jahren im Milieu weiß sie, dass dieser Abend ein mieser Abend bleiben wird.
„Nein, es läuft wirklich nix.“ Lola bringt Mia Tee mit Rum. „Dabei brauch ich die Knete verdammt dringend. Anthony hat einen neuen Therapeuten, der kostet Schweinegeld ...“
„Meine Güte“, sagt Mia zähneklappernd. „Dass das nix wird mit deinem Jungchen ...“
„Jungchen? Mia, er ist so alt wie du ...“
„Bei diesem Wetter traut sich kein Kerl raus! Die sitzen alle schön daheim bei Mutti ...“ Mia schlürft den heißen Tee.
„Recht hast du! Ich glaub, ich sperr zu für heute.“
„Klar, du hast ja keinen Stecher, der dir eine knallt, wenn’st ohne Zaster ankommst ...“ Mia schüttelt sich. „Dieses Arschloch!“
Lola lächelt. „Siehste, ich habe immer auf eigene Rechnung gearbeitet, so konnte ich was auf die hohe Kante legen für den Laden da. Weihnachten sind’s zehn Jahre, dass ich nicht mehr auf der Strasse steh’. Steig aus, Mia, du bist jung, du schaffst das bestimmt. Kannst doch so schön singen, hm?“
„Aber ich liebe den Mistkerl. Du hast halt keinen geliebt, oder?“
„Doch keinen Luden! Einen Freier ... damals hab ich mir das Kind ... also dann, Mia, trink deinen Tee aus, ich werde nach Anthony sehen, weil ich heut mal Zeit hab.“
Anthony war ein toller Junge, Lola zeigte ihm die ganze Welt. In den Schulferien bereisten sie die Kontinente. Während des Jahres saßen sie beieinander und erinnerten sich daran. Lola machte kein Geheimnis aus ihrem Job. Anthony kam gut damit zurecht. Gab es Zoff auf dem Schulhof, die üblichen Reibereien zwischen den Jungs, bei denen sie sich anblafften und gegenseitig als ‚Hurensöhne’ beschimpften, feixte er nur.
Lola war glücklich mit ihrem Jungen. Den Schmerz hatte sie schon lange überwunden. Auch die Wut auf sich selbst, dass sie an die Liebe des Kindsvaters geglaubt hatte. Es war nicht mehr wichtig. Das Einzige, was zählte war Anthony.
„Mein Wunderknabe“, sagte sie stolz und reichte Fotos und seine vorzüglichen Schulzeugnisse bei den Mädchen herum.
Zu seinem siebzehnten Geburtstag schenkte sie ihm eine Interrailreise durch Europa; er wollte mit ein paar Kumpels losziehen.
„Jetzt wird er groß, mein Anthony, toll, was?“, sagte sie zu Mia.
Nach vier Wochen kam er zurück. Etwas hatte sich verändert. Anthony wich aus, wenn Lola ihn bat, von seiner Reise zu erzählen. Er verbrachte auffallend viel Zeit im Badezimmer, beantwortete Lolas Fragen dazu nur mit: „Ich bin schmutzig, da wäscht man sich eben ...“
Vorher pünktlich, kam er nun regelmäßig zu spät zur Schule, schließlich ging er gar nicht mehr hin. Er sperrte sich entweder im Bad oder in seinem Zimmer ein.
Oft bettelte Lola vor seiner Türe. „Anthony, Junge! Komm, sprich mit mir. Was ist denn los? Bitte, sag doch etwas.“
„Mama, lass mich, ich muss nachdenken, geh weg“, antwortete er mit dumpfer Stimme.
Lola suchte einen Jugendpsychologen auf.
Er sagte: „Es scheint sich um eine Adoleszenz-Krise zu handeln, das passiert immer wieder und heißt ‚depressive Episode’. Das wird schon wieder. Am besten, Sie lassen den Jungen mal machen.“
„Ja, alles wird gut“, sagte Lola mit fester Stimme.
Am darauffolgenden Sonntag verbrachte Anthony acht Stunden im Bad, Lola sah den Wasserdampf unter dem Türspalt hervorquellen und sie verhielt sich so, wie der Psychologe ihr geraten hatte. Sie blieb ruhig und ‚ließ den Jungen mal machen’.
Als Lola hörte, wie er die Tür entriegelte, lief sie in die Diele, um ihn zu erwischen, ehe er in seinem Zimmer verschwand. Da stand er, ein Handtuch um die Hüften, mit aufgeweichten, verschrumpelten Händen und Füßen, hochrot seine Haut.
„Anthony, was machst du denn? Wozu soll das gut sein, Junge“, rief Lola erschrocken. Sie konnte ihn nicht einfach mal machen lassen und schlug den Rat des Experten in den Wind.
Aber Anthony drückte sich stumm an ihr vorbei, ging in sein Zimmer und sperrte ab. In Lola schrillten alle Alarmglocken, sie glaubte nicht mehr, dass es sich um eine Pubertätsmarotte handelte. Ihr riss die Geduld, sie hämmerte mit den Fäusten an die Tür, schrie: „Mach sofort auf, du bist ja irre!“
Lola kauerte sich auf den Boden in der Diele und weinte. Sie zitterte vor Angst. Die ganze Nacht blieb sie dort hocken und lauschte. Sie fühlte die Stille hinter der Tür wie ein riesiges schwarzes Loch in ihrem Bauch.
Am Morgen, als Anthony herauskam, aufs Klo ging, sah er sie hohläugig an. „Mach das nicht, Mama, ich will schlafen, verstehst du, schlafen!“
Lola rappelte sich hoch. „Wir gehen zum Arzt! Das sehe ich mir nicht mehr an.“
Ihre Tränen rührten ihn wohl, denn er willigte ein.
„Nun, irgendetwas bedrückt Ihren Sohn, ich gebe Ihnen die Adresse für einen sehr guten Gesprächstherapeuten für Jugendliche mit. Vielleicht kommt er an den Jungen ran“, sagte der Psychiater in der Psycho-Ambulanz, nachdem er eine gute Stunde mit Anthony gesprochen hatte und danach Lola hereinbat.
„Seit er von der Reise zurück ist, redet er nicht mehr richtig mit mir. Er ist so anders geworden.“ Ihre Hände zitterten, sie ballte sie zu Fäusten, damit das aufhörte.
„Nur nicht nervös werden, gnädige Frau, Heranwachsende haben manchmal merkwürdige Verhaltensmuster, die geben sich bestimmt wieder. Ein paar Stunden Therapie und alles wird gut werden.“
„Alles wird gut ...“ Lola wollte ganz fest daran glauben und nickte.
Es folgte eine Zeit, in der sich Anthony nicht mehr wusch. Gar nicht mehr. Es roch muffig in der Wohnung, obwohl Lola die Fenster ständig gekippt ließ.
„Nein“, sagte Anthony, wenn sie ihn anflehte, endlich wieder das Bad aufzusuchen. „Nie wieder!“
„Wisst ihr, wie eine Socke aussieht, wenn sie drei Monate lang Tag und Nacht an einem Fuß bleibt“, fragte Lola eines Abends die Mädchen vom Strich, als sie bei ihr saßen.
„Nö. Wie denn?“
„Sie ist ein großes Loch, an dem hinten eine Ferse und vorne noch ein Hütchen für die Zehen hängen.“
In dieser Nacht gab Anthony den Kampf gegen das Waschen auf. Als Lola morgens heimkehrte, war die Diele in Wasserdampf gehüllt. Diesmal badete ihr Junge ganze zwölf Stunden. Die Haut war dunkelrot geschrubbt, an einigen Stellen offen.
Lola rief die Rettung an. Während sie auf den Wagen warteten, fragte sie: „Anthony? Was ist es? Warum kannst du nicht mit mir darüber reden? Wir konnten doch immer über alles sprechen miteinander.“
Anthony saß mit gesenktem Kopf da und kratzte an einer der Wunden auf dem Unterarm herum. „Darüber nicht, Mama. Du kannst das nicht verstehen.“
Dann sagte er nichts mehr, bis die Sanitäter kamen und ihn in die Psychiatrie einlieferten. Lola blieb zurück und schlug die Stirn so lange gegen den Türrahmen, bis sie blutete.
Anthony übte in der Klinik sein Verhalten zu ändern. Er badete unter Aufsicht. Nach exakt einer Stunde musste er die Wanne verlassen. Tat er das nicht, griffen die Pfleger ein. Verweigerte Anthony das Waschen länger als zwei Wochen, wurde er geduscht. Eine schwere Depression stellte sich ein.
„Das ist normal in dieser Umlernphase“, beruhigte der zuständige Psychiater die Mutter.
„Ach ja? Anscheinend ist alles ganz üblich, was mein Sohn durchmacht. Zuerst ist es nur eine Pubertätssache, dann bloß eine kleine Zwangsneurose, und jetzt soll plötzlich sein depressives Verhalten eine normale Reaktion sein? Wann hört das auf? Warum hat er das?“
Der Doktor schüttelte den Kopf. „Wir müssen abwarten“, sagte er und begleitete sie bis zur Tür.
„Wie soll das nur gut werden?“ Lola weinte.
Bei ihren Besuchen war Anthony von kühler Freundlichkeit. Weder Lola noch seine Ärzte erfuhren, was in ihm vorging. Jedes Mal hoffte sie, ein Wunder würde geschehen, doch es veränderte sich nichts. Immer noch wurde er kontrolliert in seinem Waschverhalten, weil er den Zwang nicht beherrschen konnte. Auch das Antidepressivum zeigte keinerlei Wirkung. Anthony blieb unangreifbar, zwanghaft und verzweifelt.
Er flüsterte ihr ins Ohr: „Mama, ich nehme diese Pillen nicht, das ist Gift.“
Einmal versuchte Lola an ihn heranzukommen, indem sie von den wunderbaren Reisen anfing, die sie zusammen gemacht hatten. Er hörte zu und lächelte sogar.
Nun versuchte sie das Gespräch zu vertiefen. „Junge, bitte sag mir doch, warum kannst du über dein Problem nicht mit mir reden?“
„Du kannst es nicht verstehen, Mama“, sagte er, verschloss sein Gesicht, der Körper krampfte und Anthony erbrach sich mitten auf den Tisch.
Nach einigen Monaten bat der behandelnde Arzt Lola zu sich. „Anthonys Verhalten ist unveränderbar, wir können nichts bewirken. Sie sollten ihn in einer betreuten Wohngemeinschaft unterbringen.“
Lola antwortete nicht einmal, packte Anthonys Tasche und fuhr mit ihm nach Hause.
Zweimal wöchentlich besuchte sie mit ihm eine Selbsthilfegruppe für Zwangskranke und ihre Angehörigen.
Die Waschphasen wechselten sich mit den stinkenden ab. Lola versorgte die Körperstellen, wo die Haut weggeschrubbt war, mit Heilsalbe.
Anthony war durch Lolas Beruf viel zu lange allein, oft die ganze Nacht, und die Zwänge vermehrten sich. Es schien, als würde er einen Tic gegen einen anderen austauschen. Entweder er schlief tagelang oder wanderte Tag und Nacht ruhelos durch die Zimmer. Er aß den Kühlschrank leer, dann wieder nahm er lange Zeit außer Wasser nichts zu sich. Was er auch anstellte, am Ende siegte der Zwang, sich waschen zu müssen. Irgendwann schaffte Lola es nicht mehr, ihr Etablissement und die Betreuung des Jungen unter einen Hut zu bringen. Ihr blieb keine Wahl, sie musste ihn in einer Wohngemeinschaft unterbringen.
Das Zimmer dort war klein und düster, das Gebäude alt, aber Lola hatte den Eindruck, dass Anthony kein Problem damit hatte. Ihr war wichtig, dass der Junge rund um die Uhr versorgt war, jemand auf die Badezeiten achtete, ihn rechtzeitig aus dem Wasser holte. Meistens klappte das recht gut.
So oft es Lola möglich war, besuchte sie Anthony, die andere Zeit verbrachte sie damit, Geld zu verdienen. Sie wollte so viel verdienen, dass sie eine private Pflegerin engagieren könnte. Dann würde sie Anthony wieder nach Hause holen.
„Alles wird gut “, sagte sie wieder zu sich selbst und animierte die Freier zum Champagnertrinken. Sie veranstaltete Karaoke- und Stripteasewettbewerbe, um die Einnahmen zu erhöhen.
Heute nutzt sie den freien Abend, um Anthony zu besuchen. Merkwürdig, denkt Lola, als sie das Haus betritt, sie vermisst die übliche Betriebsamkeit, die Hintergrundgeräusche. Sie schaut in das Büro des Sozialdienstes, das mit dem Nachtpfleger besetzt sein sollte. Beim Schließen der Tür entdeckt Lola einen Zettel, der an der Außenseite klebt. ‚Komme gleich wieder – Notfall’ steht darauf in flüchtig hingeworfenen Buchstaben.
„Anthony?“ Sie rennt die Treppe hoch, außer Atem erreicht sie den zweiten Stock und damit das Zimmer von Anthony. Es ist leer.
„Junge“‚ sagt sie. Angst lässt ihr Herz zucken. Er ist der Notfall! Sie will die Stiegen wieder hinunterlaufen. Da lässt sie ein Plätschern vom Ende des Gangs, dort, wo das Gemeinschaftsbadezimmer ist, verharren.
„Anthony?“
Er liegt im rosa gefärbten Badewasser, sieht Lola an. „Mama, hilf mir ... ich kann nicht mehr ... bitte tu was!“ Kleine Hautfetzchen dümpeln um ihn herum, er weint.
„Mama, das ist kein Leben, nur noch Schmerz.“ Wieder beginnt er seine Haut mit der Bürste zu zerreiben. Lola lässt ihn gewähren, krallt hinter ihrem Rücken die Hände in den Pullover, reißt Löcher hinein.
Die Bürste rutscht ihm aus der Hand. „Ich werde nie mehr sauber sein ... bitte, Mama, hilf ...“
Lola blickt sich suchend um, entdeckt einen Föhn auf der Etagere.
„Mein Anthony, ja, ich helfe dir. Es geht ganz schnell und dann wird alles gut sein.“
Sie drückt den Kopf ihres Jungen an ihre Brust, streichelt sein Haar und flüstert immer wieder, als würde sie ein Kinderlied singen: „Alles wird gut, alles wird gut, mein Engel, wirst sehen, alles wird gut ...“
„Ja, Mama“, schluchzt er.
„Wir befreien dich jetzt von der Quälerei, ja?“ Lola lächelt unter Tränen, sie zittert vor Anstrengung, um nicht loszubrüllen.
„Mein Prachtjunge“, sagt sie.
Dann steckt sie den Stecker des Föhns in die Stromdose an der Wand.
Anthony streckt die Hand aus. „Ja, Mama, das ist es, danke“, sagt er, ergreift den Föhn, schaltet auf Höchststufe und lässt ihn in die Wanne fallen. Es blitzt. Einen Moment sieht es aus, als würde das Wasser um den zuckenden Anthony aufkochen, dann ist es finster.
Auf allen Vieren rutscht Lola zur Wanne, ertastet Anthonys Kopf und streichelt ihn.
„Alles ist gut, mein Junge.“
Nach der Beerdigung geht Lola nach Hause.
Die Reisetasche mit Anthonys Sachen, die sie vor Tagen aus der Wohngemeinschaft geholt hat, steht unberührt in der Diele. Lola räumt sie aus, um alles in den Schrank zu legen. Dabei stößt sie auf ein kleines Buch. ‚Anthony’ steht darauf und ‚Logbuch’.
Kleine und größere Einträge für jeden Tag der Interrailreise in seiner zügigen Schrift. Immer wieder lächelt Lola während des Lesens. „Was für ein begabter Junge du bist, mein Anthony, wie gut du schreiben kannst.“
Plötzlich bricht der fließende Stil ab. Mit krakeligen Buchstaben steht da: Es ist zuviel! Nie hätte ich mich betrinken dürfen, einladen lassen von Matthieu und seinen Freunden – 5 Matrosen – Matrosen stehen doch auf Frauen? Diese nicht – Männerärsche
Warum? Was ist mit mir? Hurensohn, das ist mit mir, die haben das
Hurensohn
Hurensohn
Hurensohn
Marseille bei Nacht
Warum bin ich nicht wie meine Freunde auch einfach schlafen gegangen? Und weshalb ausgerechnet diese Pinte dort? Abenteuersucht – Verblödung – krass
Ich muss mich verstecken, man sieht das oder riecht das
Die Schrift ist nun fast unleserlich.
Nie darf Mama das erfahren, niemals! es bricht ihr sonst das Herz
ach, Mama ich werde dieses Geheimnis hüten solange ich lebe!
Nicht schuldig! Ich bin es
Wie sie mich abgeschleppt
Weggetreten
ewig spüren
festhalten
Blut Sperma Dreck
Weg mit mir, weg
ich muss kotzen
ich bin zerrissen
ich bin tot, besudelt
für immer und immer
ich werde nie ein Mädchen –
Die restlichen Seiten sind leer. Lola drückt das kleine Buch an ihre Brust, fühlt wie es zittert, weil das Herz so rasch hämmert. Sie hält Anthonys Worte fest an sich gepresst, während sie eine ganze Packung Rohypnol schluckt.
Sie ruft Mia an. „Ich höre auf zu arbeiten, Kleine. Ich möchte, dass du alles in meinem Sinne weiterführst. Versprich mir, dass du von der Straße weg bleibst.“
„Aber ...“, sagt Mia.
Lola unterbricht die Verbindung und legt sich ins Bett. Während sie wartet, schaut sie den Videofilm von ihrer letzten Amerikareise an. Anthony mit einem Tropenhut auf dem Kopf mitten in der bizarren Wüstenlandschaft des Death Valley. Sie hatten in den Badlands einen komischen Film gedreht, Anthony spielte die Hauptrolle.
„Jetzt ist wirklich alles gut“, sagt sie. Dann schläft sie ein.
Es ist kalt in dieser Novembernacht im kurzen Latexröckchen, den ungefütterten Lacklederstiefeln. Die Mädchen kommen immer wieder herein, um sich aufzuwärmen. Im Moment ist die Bar leer bis auf die beiden Frauen. Nicht ein einziges Zimmer hat Lola heute vermietet. Doch sie lässt das nicht an den Nutten aus, die ihre Freundinnen sind. Sie erinnert sich noch gut daran, wie es ist, in der Kälte auf einen Freier zu warten oder bei schwüler Hitze in Sommernächten.
Nach dreißig Jahren im Milieu weiß sie, dass dieser Abend ein mieser Abend bleiben wird.
„Nein, es läuft wirklich nix.“ Lola bringt Mia Tee mit Rum. „Dabei brauch ich die Knete verdammt dringend. Anthony hat einen neuen Therapeuten, der kostet Schweinegeld ...“
„Meine Güte“, sagt Mia zähneklappernd. „Dass das nix wird mit deinem Jungchen ...“
„Jungchen? Mia, er ist so alt wie du ...“
„Bei diesem Wetter traut sich kein Kerl raus! Die sitzen alle schön daheim bei Mutti ...“ Mia schlürft den heißen Tee.
„Recht hast du! Ich glaub, ich sperr zu für heute.“
„Klar, du hast ja keinen Stecher, der dir eine knallt, wenn’st ohne Zaster ankommst ...“ Mia schüttelt sich. „Dieses Arschloch!“
Lola lächelt. „Siehste, ich habe immer auf eigene Rechnung gearbeitet, so konnte ich was auf die hohe Kante legen für den Laden da. Weihnachten sind’s zehn Jahre, dass ich nicht mehr auf der Strasse steh’. Steig aus, Mia, du bist jung, du schaffst das bestimmt. Kannst doch so schön singen, hm?“
„Aber ich liebe den Mistkerl. Du hast halt keinen geliebt, oder?“
„Doch keinen Luden! Einen Freier ... damals hab ich mir das Kind ... also dann, Mia, trink deinen Tee aus, ich werde nach Anthony sehen, weil ich heut mal Zeit hab.“
Anthony war ein toller Junge, Lola zeigte ihm die ganze Welt. In den Schulferien bereisten sie die Kontinente. Während des Jahres saßen sie beieinander und erinnerten sich daran. Lola machte kein Geheimnis aus ihrem Job. Anthony kam gut damit zurecht. Gab es Zoff auf dem Schulhof, die üblichen Reibereien zwischen den Jungs, bei denen sie sich anblafften und gegenseitig als ‚Hurensöhne’ beschimpften, feixte er nur.
Lola war glücklich mit ihrem Jungen. Den Schmerz hatte sie schon lange überwunden. Auch die Wut auf sich selbst, dass sie an die Liebe des Kindsvaters geglaubt hatte. Es war nicht mehr wichtig. Das Einzige, was zählte war Anthony.
„Mein Wunderknabe“, sagte sie stolz und reichte Fotos und seine vorzüglichen Schulzeugnisse bei den Mädchen herum.
Zu seinem siebzehnten Geburtstag schenkte sie ihm eine Interrailreise durch Europa; er wollte mit ein paar Kumpels losziehen.
„Jetzt wird er groß, mein Anthony, toll, was?“, sagte sie zu Mia.
Nach vier Wochen kam er zurück. Etwas hatte sich verändert. Anthony wich aus, wenn Lola ihn bat, von seiner Reise zu erzählen. Er verbrachte auffallend viel Zeit im Badezimmer, beantwortete Lolas Fragen dazu nur mit: „Ich bin schmutzig, da wäscht man sich eben ...“
Vorher pünktlich, kam er nun regelmäßig zu spät zur Schule, schließlich ging er gar nicht mehr hin. Er sperrte sich entweder im Bad oder in seinem Zimmer ein.
Oft bettelte Lola vor seiner Türe. „Anthony, Junge! Komm, sprich mit mir. Was ist denn los? Bitte, sag doch etwas.“
„Mama, lass mich, ich muss nachdenken, geh weg“, antwortete er mit dumpfer Stimme.
Lola suchte einen Jugendpsychologen auf.
Er sagte: „Es scheint sich um eine Adoleszenz-Krise zu handeln, das passiert immer wieder und heißt ‚depressive Episode’. Das wird schon wieder. Am besten, Sie lassen den Jungen mal machen.“
„Ja, alles wird gut“, sagte Lola mit fester Stimme.
Am darauffolgenden Sonntag verbrachte Anthony acht Stunden im Bad, Lola sah den Wasserdampf unter dem Türspalt hervorquellen und sie verhielt sich so, wie der Psychologe ihr geraten hatte. Sie blieb ruhig und ‚ließ den Jungen mal machen’.
Als Lola hörte, wie er die Tür entriegelte, lief sie in die Diele, um ihn zu erwischen, ehe er in seinem Zimmer verschwand. Da stand er, ein Handtuch um die Hüften, mit aufgeweichten, verschrumpelten Händen und Füßen, hochrot seine Haut.
„Anthony, was machst du denn? Wozu soll das gut sein, Junge“, rief Lola erschrocken. Sie konnte ihn nicht einfach mal machen lassen und schlug den Rat des Experten in den Wind.
Aber Anthony drückte sich stumm an ihr vorbei, ging in sein Zimmer und sperrte ab. In Lola schrillten alle Alarmglocken, sie glaubte nicht mehr, dass es sich um eine Pubertätsmarotte handelte. Ihr riss die Geduld, sie hämmerte mit den Fäusten an die Tür, schrie: „Mach sofort auf, du bist ja irre!“
Lola kauerte sich auf den Boden in der Diele und weinte. Sie zitterte vor Angst. Die ganze Nacht blieb sie dort hocken und lauschte. Sie fühlte die Stille hinter der Tür wie ein riesiges schwarzes Loch in ihrem Bauch.
Am Morgen, als Anthony herauskam, aufs Klo ging, sah er sie hohläugig an. „Mach das nicht, Mama, ich will schlafen, verstehst du, schlafen!“
Lola rappelte sich hoch. „Wir gehen zum Arzt! Das sehe ich mir nicht mehr an.“
Ihre Tränen rührten ihn wohl, denn er willigte ein.
„Nun, irgendetwas bedrückt Ihren Sohn, ich gebe Ihnen die Adresse für einen sehr guten Gesprächstherapeuten für Jugendliche mit. Vielleicht kommt er an den Jungen ran“, sagte der Psychiater in der Psycho-Ambulanz, nachdem er eine gute Stunde mit Anthony gesprochen hatte und danach Lola hereinbat.
„Seit er von der Reise zurück ist, redet er nicht mehr richtig mit mir. Er ist so anders geworden.“ Ihre Hände zitterten, sie ballte sie zu Fäusten, damit das aufhörte.
„Nur nicht nervös werden, gnädige Frau, Heranwachsende haben manchmal merkwürdige Verhaltensmuster, die geben sich bestimmt wieder. Ein paar Stunden Therapie und alles wird gut werden.“
„Alles wird gut ...“ Lola wollte ganz fest daran glauben und nickte.
Es folgte eine Zeit, in der sich Anthony nicht mehr wusch. Gar nicht mehr. Es roch muffig in der Wohnung, obwohl Lola die Fenster ständig gekippt ließ.
„Nein“, sagte Anthony, wenn sie ihn anflehte, endlich wieder das Bad aufzusuchen. „Nie wieder!“
„Wisst ihr, wie eine Socke aussieht, wenn sie drei Monate lang Tag und Nacht an einem Fuß bleibt“, fragte Lola eines Abends die Mädchen vom Strich, als sie bei ihr saßen.
„Nö. Wie denn?“
„Sie ist ein großes Loch, an dem hinten eine Ferse und vorne noch ein Hütchen für die Zehen hängen.“
In dieser Nacht gab Anthony den Kampf gegen das Waschen auf. Als Lola morgens heimkehrte, war die Diele in Wasserdampf gehüllt. Diesmal badete ihr Junge ganze zwölf Stunden. Die Haut war dunkelrot geschrubbt, an einigen Stellen offen.
Lola rief die Rettung an. Während sie auf den Wagen warteten, fragte sie: „Anthony? Was ist es? Warum kannst du nicht mit mir darüber reden? Wir konnten doch immer über alles sprechen miteinander.“
Anthony saß mit gesenktem Kopf da und kratzte an einer der Wunden auf dem Unterarm herum. „Darüber nicht, Mama. Du kannst das nicht verstehen.“
Dann sagte er nichts mehr, bis die Sanitäter kamen und ihn in die Psychiatrie einlieferten. Lola blieb zurück und schlug die Stirn so lange gegen den Türrahmen, bis sie blutete.
Anthony übte in der Klinik sein Verhalten zu ändern. Er badete unter Aufsicht. Nach exakt einer Stunde musste er die Wanne verlassen. Tat er das nicht, griffen die Pfleger ein. Verweigerte Anthony das Waschen länger als zwei Wochen, wurde er geduscht. Eine schwere Depression stellte sich ein.
„Das ist normal in dieser Umlernphase“, beruhigte der zuständige Psychiater die Mutter.
„Ach ja? Anscheinend ist alles ganz üblich, was mein Sohn durchmacht. Zuerst ist es nur eine Pubertätssache, dann bloß eine kleine Zwangsneurose, und jetzt soll plötzlich sein depressives Verhalten eine normale Reaktion sein? Wann hört das auf? Warum hat er das?“
Der Doktor schüttelte den Kopf. „Wir müssen abwarten“, sagte er und begleitete sie bis zur Tür.
„Wie soll das nur gut werden?“ Lola weinte.
Bei ihren Besuchen war Anthony von kühler Freundlichkeit. Weder Lola noch seine Ärzte erfuhren, was in ihm vorging. Jedes Mal hoffte sie, ein Wunder würde geschehen, doch es veränderte sich nichts. Immer noch wurde er kontrolliert in seinem Waschverhalten, weil er den Zwang nicht beherrschen konnte. Auch das Antidepressivum zeigte keinerlei Wirkung. Anthony blieb unangreifbar, zwanghaft und verzweifelt.
Er flüsterte ihr ins Ohr: „Mama, ich nehme diese Pillen nicht, das ist Gift.“
Einmal versuchte Lola an ihn heranzukommen, indem sie von den wunderbaren Reisen anfing, die sie zusammen gemacht hatten. Er hörte zu und lächelte sogar.
Nun versuchte sie das Gespräch zu vertiefen. „Junge, bitte sag mir doch, warum kannst du über dein Problem nicht mit mir reden?“
„Du kannst es nicht verstehen, Mama“, sagte er, verschloss sein Gesicht, der Körper krampfte und Anthony erbrach sich mitten auf den Tisch.
Nach einigen Monaten bat der behandelnde Arzt Lola zu sich. „Anthonys Verhalten ist unveränderbar, wir können nichts bewirken. Sie sollten ihn in einer betreuten Wohngemeinschaft unterbringen.“
Lola antwortete nicht einmal, packte Anthonys Tasche und fuhr mit ihm nach Hause.
Zweimal wöchentlich besuchte sie mit ihm eine Selbsthilfegruppe für Zwangskranke und ihre Angehörigen.
Die Waschphasen wechselten sich mit den stinkenden ab. Lola versorgte die Körperstellen, wo die Haut weggeschrubbt war, mit Heilsalbe.
Anthony war durch Lolas Beruf viel zu lange allein, oft die ganze Nacht, und die Zwänge vermehrten sich. Es schien, als würde er einen Tic gegen einen anderen austauschen. Entweder er schlief tagelang oder wanderte Tag und Nacht ruhelos durch die Zimmer. Er aß den Kühlschrank leer, dann wieder nahm er lange Zeit außer Wasser nichts zu sich. Was er auch anstellte, am Ende siegte der Zwang, sich waschen zu müssen. Irgendwann schaffte Lola es nicht mehr, ihr Etablissement und die Betreuung des Jungen unter einen Hut zu bringen. Ihr blieb keine Wahl, sie musste ihn in einer Wohngemeinschaft unterbringen.
Das Zimmer dort war klein und düster, das Gebäude alt, aber Lola hatte den Eindruck, dass Anthony kein Problem damit hatte. Ihr war wichtig, dass der Junge rund um die Uhr versorgt war, jemand auf die Badezeiten achtete, ihn rechtzeitig aus dem Wasser holte. Meistens klappte das recht gut.
So oft es Lola möglich war, besuchte sie Anthony, die andere Zeit verbrachte sie damit, Geld zu verdienen. Sie wollte so viel verdienen, dass sie eine private Pflegerin engagieren könnte. Dann würde sie Anthony wieder nach Hause holen.
„Alles wird gut “, sagte sie wieder zu sich selbst und animierte die Freier zum Champagnertrinken. Sie veranstaltete Karaoke- und Stripteasewettbewerbe, um die Einnahmen zu erhöhen.
Heute nutzt sie den freien Abend, um Anthony zu besuchen. Merkwürdig, denkt Lola, als sie das Haus betritt, sie vermisst die übliche Betriebsamkeit, die Hintergrundgeräusche. Sie schaut in das Büro des Sozialdienstes, das mit dem Nachtpfleger besetzt sein sollte. Beim Schließen der Tür entdeckt Lola einen Zettel, der an der Außenseite klebt. ‚Komme gleich wieder – Notfall’ steht darauf in flüchtig hingeworfenen Buchstaben.
„Anthony?“ Sie rennt die Treppe hoch, außer Atem erreicht sie den zweiten Stock und damit das Zimmer von Anthony. Es ist leer.
„Junge“‚ sagt sie. Angst lässt ihr Herz zucken. Er ist der Notfall! Sie will die Stiegen wieder hinunterlaufen. Da lässt sie ein Plätschern vom Ende des Gangs, dort, wo das Gemeinschaftsbadezimmer ist, verharren.
„Anthony?“
Er liegt im rosa gefärbten Badewasser, sieht Lola an. „Mama, hilf mir ... ich kann nicht mehr ... bitte tu was!“ Kleine Hautfetzchen dümpeln um ihn herum, er weint.
„Mama, das ist kein Leben, nur noch Schmerz.“ Wieder beginnt er seine Haut mit der Bürste zu zerreiben. Lola lässt ihn gewähren, krallt hinter ihrem Rücken die Hände in den Pullover, reißt Löcher hinein.
Die Bürste rutscht ihm aus der Hand. „Ich werde nie mehr sauber sein ... bitte, Mama, hilf ...“
Lola blickt sich suchend um, entdeckt einen Föhn auf der Etagere.
„Mein Anthony, ja, ich helfe dir. Es geht ganz schnell und dann wird alles gut sein.“
Sie drückt den Kopf ihres Jungen an ihre Brust, streichelt sein Haar und flüstert immer wieder, als würde sie ein Kinderlied singen: „Alles wird gut, alles wird gut, mein Engel, wirst sehen, alles wird gut ...“
„Ja, Mama“, schluchzt er.
„Wir befreien dich jetzt von der Quälerei, ja?“ Lola lächelt unter Tränen, sie zittert vor Anstrengung, um nicht loszubrüllen.
„Mein Prachtjunge“, sagt sie.
Dann steckt sie den Stecker des Föhns in die Stromdose an der Wand.
Anthony streckt die Hand aus. „Ja, Mama, das ist es, danke“, sagt er, ergreift den Föhn, schaltet auf Höchststufe und lässt ihn in die Wanne fallen. Es blitzt. Einen Moment sieht es aus, als würde das Wasser um den zuckenden Anthony aufkochen, dann ist es finster.
Auf allen Vieren rutscht Lola zur Wanne, ertastet Anthonys Kopf und streichelt ihn.
„Alles ist gut, mein Junge.“
Nach der Beerdigung geht Lola nach Hause.
Die Reisetasche mit Anthonys Sachen, die sie vor Tagen aus der Wohngemeinschaft geholt hat, steht unberührt in der Diele. Lola räumt sie aus, um alles in den Schrank zu legen. Dabei stößt sie auf ein kleines Buch. ‚Anthony’ steht darauf und ‚Logbuch’.
Kleine und größere Einträge für jeden Tag der Interrailreise in seiner zügigen Schrift. Immer wieder lächelt Lola während des Lesens. „Was für ein begabter Junge du bist, mein Anthony, wie gut du schreiben kannst.“
Plötzlich bricht der fließende Stil ab. Mit krakeligen Buchstaben steht da: Es ist zuviel! Nie hätte ich mich betrinken dürfen, einladen lassen von Matthieu und seinen Freunden – 5 Matrosen – Matrosen stehen doch auf Frauen? Diese nicht – Männerärsche
Warum? Was ist mit mir? Hurensohn, das ist mit mir, die haben das
Hurensohn
Hurensohn
Hurensohn
Marseille bei Nacht
Warum bin ich nicht wie meine Freunde auch einfach schlafen gegangen? Und weshalb ausgerechnet diese Pinte dort? Abenteuersucht – Verblödung – krass
Ich muss mich verstecken, man sieht das oder riecht das
Die Schrift ist nun fast unleserlich.
Nie darf Mama das erfahren, niemals! es bricht ihr sonst das Herz
ach, Mama ich werde dieses Geheimnis hüten solange ich lebe!
Nicht schuldig! Ich bin es
Wie sie mich abgeschleppt
Weggetreten
ewig spüren
festhalten
Blut Sperma Dreck
Weg mit mir, weg
ich muss kotzen
ich bin zerrissen
ich bin tot, besudelt
für immer und immer
ich werde nie ein Mädchen –
Die restlichen Seiten sind leer. Lola drückt das kleine Buch an ihre Brust, fühlt wie es zittert, weil das Herz so rasch hämmert. Sie hält Anthonys Worte fest an sich gepresst, während sie eine ganze Packung Rohypnol schluckt.
Sie ruft Mia an. „Ich höre auf zu arbeiten, Kleine. Ich möchte, dass du alles in meinem Sinne weiterführst. Versprich mir, dass du von der Straße weg bleibst.“
„Aber ...“, sagt Mia.
Lola unterbricht die Verbindung und legt sich ins Bett. Während sie wartet, schaut sie den Videofilm von ihrer letzten Amerikareise an. Anthony mit einem Tropenhut auf dem Kopf mitten in der bizarren Wüstenlandschaft des Death Valley. Sie hatten in den Badlands einen komischen Film gedreht, Anthony spielte die Hauptrolle.
„Jetzt ist wirklich alles gut“, sagt sie. Dann schläft sie ein.