Kinderlieder

Der Publicus ist die Präsentationsplattform des Salons. Hier können Texte eingestellt werden, bei denen es den Autoren nicht um Textarbeit geht. Entsprechend sind hier besonders Kommentare und Diskussionen erwünscht, die über bloßes Lob oder reine Ablehnungsbekundung hinausgehen. Das Schildern von Leseeindrücken, Aufzeigen von Interpretationsansätzen, kurz Kommentare mit Rezensionscharakter verleihen dem Publicus erst seinen Gehalt
Sam

Beitragvon Sam » 02.11.2007, 07:05

Kinderlieder

In den Jahren 1986 und 1987 arbeitete ich für die Zeitung von Neustadt, einer kleinen Stadt im Taunus. Man hatte mich dort angestellt, um die Buchhaltung und andere Büroarbeiten zu machen. Aufgrund des Personalmangels wurde ich von Charlie jedoch auch als Feierabendreporter eingesetzt, der fleißig das Kinoprogramm der nächsten zwei Wochen recherchierte, auf Schüleraustauschfeten pickelige Studenten interviewte und unzählige Samstagabende auf Vereinsfeiern verbrachte, deren nachrichtentechnische Aufarbeitung einen eher kleinen Platz in dem Lokalteil des Blattes einnahm. Einen Buchhalter brauchte Charlie nur, weil er sein Geld hauptsächlich mit einer großen Buch- und Schreibwarenhandlung verdiente. Seine Leidenschaft aber gehörte der Neustädter Zeitung, Ableger des Wiesbadener Kuriers und, bis auf den Lokalteil, mit diesem identisch.
Neustadt ist so ein Ort, den keiner kennen würde, läge er nicht direkt an der Autobahn zwischen Frankfurt und Köln. Es passierte hier seit der Überschwemmung 1954, bei der die ganze Altstadt zwei Meter unter Wasser stand, nichts mehr Außergewöhnliches. Bis zu jenem Tag im August siebenundachtzig.

Es war am späten Nachmittag. Ich saß schon seit Stunden in der Kanzlei unseres Steuerberaters, um mit ihm den Jahresabschluss vorzubereiten, als das Telefon klingelte. Es war Charlie, der mich aus dem Hörer heraus anschrie, ich solle sofort in die Redaktion kommen. Alarmstufe Rot. Also sprang ich in meinen orangefarbenen Käfer 1300 und düste durch die engen Altstadtgassen ins Büro.
Als ich ankam, saßen Lolle der Fotograf, unsere zwei Praktikantinnen und Charlie um den runden Konferenztisch und redeten aufgeregt durcheinander. Charlie bemerkte mich und begann sofort zu erzählen:
Am Morgen war die sechzehnjährige Tochter des Bürgermeisters in die Polizeiwache in der Gerichtsstraße hineinmarschiert und hatte gesagt, sie wolle ihren Vater anzeigen. Wegen Vergewaltigung. Die Polizisten waren zunächst etwas ratlos. Also tippten sie erst einmal einen Bericht auf ihrer alten Adler zusammen. Sagten ihr, sie müsse das unterschreiben. Ohne ihn zu lesen, setzt das Mädel ihren Namen unter den Wisch, zog eine Pistole aus ihrer Jackentasche und schoss sich in den Kopf. Als man daraufhin den Vater verhörte, gestand dieser, über Jahre hinweg seine Tochter missbraucht zu haben.
Charlie machte gar nicht erst den Versuch zu verbergen, wie sehr ihn dieses Ereignis erfreute. Endlich passierte mal was jenseits der Bankenmetropole und diesseits der Pappnasen vom Rhein. Endlich zuckten die Blitze mal nicht von einer Seite des Horizonts zur anderen, sondern fuhren mit allem Krachen und Zischen direkt in die trockene Scheune vor unserer Nase und entzündeten alles in einem hellen Feuerschein. Seine Aknenarben wechselten ständig die Farbe, und Lolle rauchte so angestrengt, dass die Kippe in seinem Mund erigierte wenn er daran zog. Für mich klang das alles sehr dramatisch, als ob aufgrund unkontrollierter Privatentnahmen das Eigenkapital auf die Aktivseite der Bilanz gewandert war, sagte aber nichts. Sie müssen wissen, ich war damals genau, wie man sich einen richtigen Buchhalter vorstellt: Klamotten so modern wie Omas Schirmlampe, introvertiert, behaglich eingerichtet in einer Welt aus Zahlen und Tabellen. Jemand, der seinen Feierabend mit Büchern über Mathematik und Astronomie verbrachte, der Eltern und Freunde verlassen hatte, um endlich ungestört seinen Schrullen zu frönen, unfähig sich auf längere Beziehungen einzulassen, weil diese irgendwie immer an den täglichen Banalitäten zugrunde gingen, über die er sich keinerlei Gedanken machen und erst recht nicht reden wollte.

Charlie sprach. Charlie war der Chef. Wurde auf einmal wütend, als er erzählte, dass alle schon da waren: die Bild, die Frankfurter, die Wiesbadener, nichts für uns, alles vom Haupthaus aus geregelt.
Was wir hier dann machen, fragte Lolle und Charlie wurde wild. Was wohl? Die Knochen abnagen. Der Kadaver war ja schon gefressen.
Für mich hatte Charlie eine Spezialaufgabe: »Schau mal nach Selbsthilfegruppen«, sagte er. »Ich will irgendwas über Selbsthilfegruppen bei Kindesmissbrauch. So was muss es doch geben. Gibt’s doch für alles. Wie für die Alkoholiker.«

Später saß ich wieder in meinem Käfer und fuhr heim. Selbsthilfegruppen. Eine Selbsthilfegruppe waren für mich Primzahlen, oder vielleicht, ums mal ein bisschen zu komplizieren, Bedeckungsveränderliche. Ich will nicht sagen, dass Sex für mich unwichtig gewesen wäre. Er war einfach nur nicht der Rede wert. Sex hatte man und vergaß es wieder. Aber dass hier ein Vater seine Tochter vergewaltigt hatte und sie sich daraufhin erschossen hatte, löste in mir ein eigenartiges Brennen aus, ein Unbehagen, von dem ich mich fragte, ob es noch eine andere Ursache haben könnte. Ich versagte mir allerdings längeres Nachdenken und beschäftigte mich den Rest des Abends mit einem tausendseitigen Buch über die erste Nanosekunde nach dem Urknall.

Dann, ich hatte einen Tag lang lustlos herumtelefoniert, aber außer dem ein oder anderen teilnahmsvollen Seufzer irgendwelcher Psychologen aus dem Rhein-Main-Gebiet nichts erreichen können, warf mir Charlie eine Adresse auf den Schreibtisch und sagte: »Ruf den an, der ist in dem Thema voll drin. Ne Korophäe.«
Koryphäe, dachte ich. Ich hatte ja wirklich noch eine Menge Wichtiges zu tun und nun sollte ich mich, ein Blick auf den Zettel verriet es mir, mit einem Dr. Brenner-Menier in Köln treffen. Ich lief Charlie hinterher in sein Büro.
»Ja was denn?«
»Ja was wohl, was soll das, Köln! Ich mach gerade den Jahresabschluss. Der Steuerberater kommt...« weiter konnte ich nicht sprechen. Charlie machte sein typisches Charliegesicht mit grotesken Verformungen seiner fleischigen Wangen und der wulstigen Stirn und sprach vom Supergau auf lokalpolitischer Ebene, da sei ein Jahresabschluss so interessant wie ein totgefahrener Igel auf der B 275. Lolle und die Praktikantinnen brauche er vor Ort, deswegen sei mein Arsch nach Köln zu bewegen, damit ich dort mit dem Doktor spräche - über den Erfolg von Selbsthilfegruppen. Was er wolle, seien Infos über die Möglichkeiten, die sich für Missbrauchsopfer auftun, um Erleichterung zu finden. Er sprach davon, als gäb´s die hier an jeder Straßenecke, diese Opfer.
»Ruf den Doktor an und mach einen Termin aus. O.K.? Der wird dir schon weiter helfen.«

Dr. Brenner-Menier war ein groß gewachsener Mann, extrem dünn und mit langen Fingern, deren leicht verdickte Kuppen an die Hände von einem Konzertpianisten erinnerten. Er war sehr freundlich und hatte eine tiefe, fast einschläfernde Stimme.
Ja, er habe davon gehört, was passiert sei, in Neuhof, Neuburg ... »Neustadt.« »Ach ja danke, Neustadt. Erschütternd, aber nicht ungewöhnlich. Ganz und gar nicht. Wut richtet sich immer gegen andere und gleichzeitig«, er betonte das Wort `gleichzeitig´, indem er mit seinem Zeigefinger eine Delle in die Luft drückte, »gegen sich selbst. Und der Wut auf sich selbst kann man viel leichter Ausdruck verleihen, als derjenigen auf eine andere Person, verstehen Sie? Deswegen der Selbstmord, die Selbstverstümmelungen und all das. Der Schlüssel ist die Wut. Wut und auch Ohnmacht, aber das geht Hand in Hand. Was wollen Sie nun eigentlich?«
»Selbsthilfegruppen.«
»Ja?«
»Naja, vielleicht mal mit dem ein oder anderen sprechen. Fragen, ob´s was hilft. Es geht ja ums Helfen, nicht?«
»Sind Sie Reporter?«
»Oh, nein, Buchhalter, aber eben auch ein bisschen soetwas wie ein Reporter. Mach ansonsten das Kinoprogramm und Interviews bei den Spielen der TSG Neustadt in der B-Klasse Untertaunus-Ost.«
»Wieso schickt mir Charlie seinen Buchhalter? Er sagte, es wäre so wichtig, aber ...«
»Hören Sie, Charlie meint, dass es vielleicht noch mehrere gibt mit dem gleichen Problem, und er will darauf aufmerksam machen, wo und wie man Hilfe finden kann. Der Dunkelziffer zeigen, wo der Lichtschalter ist, hat er gesagt.«
Jetzt lachte der lange Doktor und klatschte seine Kunstwerke von Händen auf die Lehne des Ledersessels.
»Sie sind witzig. Aber haben Recht. Ich sag Ihnen was. In zwanzig Jahren wird dieses Thema wie kein anderes in den Köpfen der Leute sein. Politiker werden stürzen, Konzerne zerbrechen, weil die Zeit kommt, in der die Opfer ihr Schweigen brechen. Zumindest hoffe ich das.«
Ich nickte eifrig.
»Gut«, sagte der Doktor, der nun sehr guter Laune zu sein schien, »was wollen Sie wissen?«
»Charlie meinte, ob man nicht mal mit jemanden reden könnte, der in so einer Selbsthilfegruppe ist. Fragen, ob es ihnen was bringt.«
»Natürlich bringt es was. Zu reden bringt immer was. Gehen Sie mal zu ihrem Nachbarn und sagen Sie: Hallo-ho, ich bin missbraucht worden`. Meinen Sie, der hört ihnen zu? Nein, der dreht sich um und geht, weil er gar nicht weiß, was er damit anfangen soll. Selbst die Eltern wissen es nicht. Wissen Sie, was passiert, wenn ein Kind seinen Eltern erzählt, dass es vom lieben Onkel Fritz oder manchmal sogar von der lieben Tante Frieda oder vom lieben Stiefpapa auf eine Art angefasst wurde, die ihm ein bisschen komisch vorkam?«
»Ich würde es gerne mal von einem Betroffenen hören.«, sagte ich. Ganz einfache Rechnung, dachte ich. Den kleinsten gemeinsamen Nenner finden, den Betroffenen selbst. Der Doktor war ein immer noch teilbarer Bruch.
Er wirkte ein wenig indigniert.
»Junger Mann«, hob er an und formte aus seinen Fingern ein Zelt, das er vor seinem schmallippigen Mund aufbaute. »Die werden nicht unbedingt mit Ihnen reden wollen. Die sind in einer solchen Gruppe, weil sie eben nicht mit anderen reden wollen, sondern nur mit ihresgleichen. Da stoßen sie nämlich auf Verständnis, nicht bei irgendwelchen Zeitungen. Pardon.«
»Sie betreuen solche Gruppen?«
»Ja, alles meine Patienten, und ich bin stolz auf die Fortschritte.«
»Ja, darum geht’s doch, um die Fortschritte. Charlie will ja keine Sensationsstory. Die Fortschritte interessieren ihn. Also, mal so ein Gespräch mit dem ein oder anderen, was es ihm gebracht hat sich jemanden zu öffnen. Keine Fallbeispiele, die liest man momentan überall. Wir wollen, dass jemand, dem das Gleiche passiert ist, weiß was er tun kann.«
»Sie schreiben den Artikel?«
»Nein, nur ein bisschen unterstützen, bin ja ...«
»Der Buchhalter.«
»Genau.«
»Ich werde sehen, was ich machen kann. Ich rede mit den Leuten aus den Gruppen und wenn einer bereit ist was zu erzählen, sag ich Ihnen Bescheid. Eine Woche wird’s aber dauern.«
Er schüttelte meine Hand, die er fest umgriff wie eine Nektarine, um den Saft rauszupressen.
»Schulen sie doch um auf Reporter, ist doch interessanter als nur am Schreibtisch zu hocken, da kommt man wenigstens unter Menschen.«
Ich schaute auf meine rot gefleckte Hand und sagte was von Schreibtische können ganz angenehme Zeitgenossen sein. Niemand, dachte ich beim Hinausgehen, ist je von seinem Schreibtisch missbraucht worden, da muss man schon unter Menschen gehen.

Er rief mich drei Tage später an und sagte, fünf aus der Gruppe hätten sich bereit erklärt mit mir zu reden. Keine Namen, keine Fotos, kein Tonband. Mit der Option jederzeit zu gehen und eine saftige Spende für eine gemeinnützige Organisation.
»Alles klar, wann?«
»Morgen?«
»Morgen.«


Mein Käfer verreckte kurz vor Königswinter und während der ADAC den Kadaver entsorgte, fuhr ich den Rest der Strecke mit der Bahn. Wir trafen uns bei Doktor Brenner-Menier in der Praxis. Ich war mit dem Doktor der Erste. Dann kamen Susanne und Martina, Karin und Peter und als letzter Thomas. Als sich alle gesetzt hatten, bot Doktor Brenner-Menier Tee, Kaffee und Cola an, dazu ein paar Kekse und Chips. Die Stimmung war irgendetwas zwischen Skepsis und Neugier, Ablehnung und Hoffnung. Der Doktor sagte ein paar Sätze über den Grund des Treffens und übergab mir das Wort. Ich erzählte kurz die Begebenheit von der Tochter unseres Bürgermeisters, und dass wir von der lokalen Zeitung gerne allen, die sich in einer ähnlichen Situation befänden, eine Hilfestellung geben wollten.
Zunächst, sagte Martina, solle ich doch mal was von mir erzählen. Ups, von mir. Ich war doch nicht ... aber gut, es ging um Vertrauen. Also erzählte ich ein wenig von meiner Arbeit und meiner stressfreien Beziehung zu Loga- und Algorithmen.
Allmählich löste sich die Spannung. Dann, angeregt durch ein paar gezielte Fragen des Doktors, begannen sie zu erzählen. Ich selbst sagte kaum etwas, blieb beim Sie um Abstand zu wahren und machte unleserliche Notizen. Alle, so hörte ich heraus, hatten sie versucht auf die ein oder andere Art über das Geschehene mit einem Elternteil, einem ihrer Geschwister oder einer anderen vertrauten Person zu reden, und überall erfuhren sie die gleiche ungläubige und verschämte Reaktion. Sie äußerten sich sehr positiv über den Doktor und die Arbeit in der Gruppe. Der Einzige, der sich kaum am Gespräch beteiligte, war Peter.
Nach ungefähr zwei Stunden meinte Doktor Brenner-Menier, dass ich wohl genug Informationen hätte, und beendete das Gespräch. Ich versprach allen einen Abzug des Artikel zuzuschicken, bevor er veröffentlicht würde.
Als sie gingen, blieb ich mit dem Doktor allein. Nicht lange allerdings. Peter kam zurück und fragte, ob ich nicht noch Lust hätte auf ein Kölsch. Er würde mich einladen. Erstaunt und erfreut nahm ich die Einladung an, verabschiedete mich vom Doktor und ging mit Peter in eine Kneipe in der Altstadt, wo sie zum Kölsch Erdnüsse reichten. Die Schalen wurden einfach auf den Boden geschmissen.
Wir setzten uns auf die Empore, in ein dunkles Eck. Peter bestellte gleich sechs Kölsch, die man uns kurz darauf in einem runden Aluständer auf den Tisch stellte.
»Ich hoffe, du glaubst nicht alles, was man dir heute erzählt hat.«, sagte Peter, nachdem er das erste Kölsch heruntergekippt hatte und nun fleißig Erdnussschalen auseinander bröselte.
»Wieso?«
»Naja, weil eben nicht immer alles so dramatisch ist. In unserer Situation ist man so auf sich selbst fixiert, da neigt man schnell zur Übertreibung.«
»So?« Das Erdnussbearbeiten erinnerte mich an das Glückskekseauseinanderfuzzeln beim Chinesen in Neustadt.
»Natürlich. Außerdem sind die Ereignisse in den meisten Fällen lange her und Erinnerungen nur selten so vertrauenswürdig, wie sie sich darstellen.«
»Sie meinen?«, fragte ich nun sichtlich erstaunt.
»Peter«, unterbrach er mich, »sag einfach Peter und schau mich nicht so an, als wäre ich behindert oder krebskrank. Mir geht es wunderbar und ich bin nur in dieser Gruppe, weil ich vor einiger Zeit den Fehler machte, meiner Frau zu erzählen, wie gerne mich mein Onkel als Kind hatte. Sie meint nun, dass ich so etwas brauche. Also, die Dinge sind nicht so, wie sie zu sein scheinen. Es ist oftmals nicht so schlimm oder manchmal viel schlimmer. Verstehst du? Wir sitzen zusammen und reden und sehen die Vergangenheit durch das beschlagene Fenster der Gegenwart. Die Versionen unterscheiden sich von Mal zu Mal. Was bleibt ist die Verletzung, die Narbe, die ihre Form und Farbe stetig ändert.«
Mittlerweile hatte er sein drittes Kölsch getrunken und nahm das nächste Röhrchen aus dem Ständer. Ich schaute ihn an und wartete darauf, dass er weiter redete, weil ich nicht wusste, was ich erwidern sollte.
»Du wunderst dich? Mir kommt es so vor, als wärst du ziemlich naiv. Das muss aber kein Nachteil sein. Die Naiven in der Welt sind besser, als diejenigen, die meinen auf alles eine Antwort zu haben. Wie unser lieber Doktor. Der hat immer eine Antwort. Nichts ist so dramatisch, dass es ihm die Sprache verschlagen würde. Aber vielen von denen, die da zwei Mal die Woche im Kreis sitzen, denen hat es die Sprache verschlagen. Eine Sprache aber, die nichts mit Reden zu tun hat, sondern mit der Art und Weise, wie sie mit der Welt kommunizieren. Sie haben sich zurückgezogen und öffnen nur diese zwei Mal die Woche den Mund, um in einen luftleeren Raum hineinzureden. Zum Glück umarmen wir uns nicht ständig oder machen irgendeinen sentimentalen Scheiß. Dann würde ich gehen. Mich interessieren die anderen im Grunde gar nicht und ich sie auch nicht. Vielleicht ist das die eigentliche Verletzung, dass man sich nur noch auf sich selbst konzentriert, sich herausnimmt aus dem Kontext des täglichen Lebens und nur noch denkt ‚die da’ und ‚ich’ und nicht mehr ‚wir’. Das heilt aber auch keine Gruppe und kein Gespräch. Die Sprachlosigkeit rührt daher, dass die, die eigentlich zuhören müssten, gar nicht da sind. So redet jeder mit jedem, aber eigentlich spricht man zu einem Phantombild, zu einem Hologramm in der Mitte des Kreises, das so stumm und ignorant ist wie die Wirklichkeit.«
Peter hatte braune Augen, die im dämmrigen Licht dunkel leuchteten. Er lispelte leicht, sprach aber fließend und mit großem Selbstbewusstsein. In seinem rechten Ohrläppchen steckte ein umgedrehtes Kreuz.
»Mit wem redest du?«, fragte ich.
»Mit meinem Vater, dabei ist es nicht mal gerecht, ihm eine zweite Chance zu geben, wo er die eine, die er hatte, nicht genutzt hat. Aber es ist ja nur....«
»Ein Phantom?«
»Ein Placebo, eine Medizin aus Luft und Vorstellung. Ob es wirklich was hilft, wer weiß? Es war mein Onkel, sein eigener Bruder. Das ist das Problem, verstehst du, diese Nähe, diese Vertrautheit, die ihn wohl daran hinderte zu verurteilen. Und zu handeln. Ich hatte lange gebraucht, um ihm davon zu erzählen. Erst nachdem ich so alt war, dass ich uninteressant wurde für meinen Onkel, als ich mich ihm verweigerte. Das sexuelle Selbstverständnis wächst eben mit den Jahren und es entstehen Kategorien, in die wir gewisse Handlungen einordnen. Man nennt das wohl Moral oder vielleicht ist es einfach ein naturgegebenes Empfinden. Damit geht jedenfalls ein gewisses Bewusstsein dessen, was einem widerfahren ist, einher. Aber in diesem Moment“, er hob sein Bierglas etwas in die Höhe und streckte den Zeigefinger zu Seite, „ist die Schuldfrage noch ganz klar. Mir ist etwas passiert. Jemand hat mit mir etwas gemacht, das nicht richtig ist. In diesem Moment! Naja, und dann gehst du hin zu demjenigen, dem du am meisten vertraust, demjenigen, der dir eigentlich noch näher steht, als du dir selbst. Und du erzählst ihm, was dir widerfahren ist. Erlebst es nochmals, öffnest dich auf eine Weise, wie du es in deinem Leben nie wieder tun wirst. Du lässt diese Person deines Vertrauens daran teilhaben, sie zuschauen, in der Hoffnung, dass sie einschreitet. Vielleicht erwartet man zu viel. Dass es ungeschehen gemacht wird, ausgetilgt, verbrannt. Aber es geschieht nichts dergleichen. Genau in diesem Augenblick, mein Freund, wird aus dem Opfer der Täter, weil die Opferrolle übergeht auf den Vater oder die Mutter oder eben denjenigen, dem man sich anvertraut. Plötzlich ist nämlich er der Missbrauchte, du siehst, wie seine Gesichtszüge sich verändern, als hätte man vor ihm ein faules Stück Fleisch ausgebreitet und würde ihn zwingen, es zu essen. Dieser Abscheu, der seine Augen glänzen, der die Pupillen umherirren lässt. Die Arme, die er steif in die Rückenlehne presst, die Hände flach auf das Polster gedrückt, der Mund, der sich ein wenig spitzt, dabei die Lippen kräuselt, die Farbe, die aus den Ohren und der Nasenspitze weicht, das alles in Bruchteilen einer Sekunde, nachdem man fertig gesprochen hat, ist des Missbrauchs zweiter Teil. Erst jetzt erwacht in einem das Gefühl schuldig zu sein, weil man merkt, wie das, was einem bisher als uneinnehmbare Trutzburg vorkam, von einem weicht, sich verschließt. Man kann es nur so verstehen, als Kind, als Jugendlicher. Fortan ist der Vater der Missbrauchte, windet sich in dem Schmerz, den ich ihm angetan habe, schlägt mir seine Ohnmacht um die Ohren und aus jede Pore trieft der Zweifel. Das Schweigen, das lange, das jahrelange Schweigen zaubert dann das Vergessen herbei, eine ungemütliche Erleichterung, eine tektonische Verwerfung, verborgen unter der Gemütlichkeit des trauten Heims. Und völliges Unverständnis für kommende Rebellionen. Er hatte mir damals gesagt, er werde mit dem Onkel reden, und Jahre später, in einer Zeit da man seine Jugend durchforscht, um Rückschlüsse zu ziehen auf den Menschen, der man nun geworden ist, da stößt man wieder auf diese Dinge. Ich hatte ihn dann gefragt, vor ein paar Jahren, ob er je mit dem Onkel gesprochen habe, und sein Herumgedruckse war mir Antwort genug. Seitdem reden wir nur noch über Fußball und Mutters Tinnitus. Sein einziges Schuldeingeständnis besteht darin, dass er nie fragt, wann denn eigentlich mal Enkelkinder kommen«
Dann erzählte er mir, was sein Onkel mit ihm gemacht hatte. Schließlich winkte er dem verschwitzten Kellner zu, zahlte mit einem großen Schein ohne Trinkgeld zu geben, stand auf und reichte mir die Hand.
»Muss gehen, war nett. Schreib keinen Scheiß.«
Peter war weg, aber ich saß nicht alleine am Tisch. Etwas war dageblieben, eine Art akustischer Schatten, ein metallenes Surren, das alle Geräusche der Kneipe überlagerte. Es war die Präsenz seiner Geschichte, die für mich nun eine betastbare Vertiefung in der Raumzeit hinterlassen hatte.
Auf der Heimfahrt machte ich mir Gedanken, ob man den Artikel überhaupt schreiben sollte. Ich musste ständig an das denken, was Peter und auch die anderen erzählt hatten. Unwillkürlich begann ich meine Kindheit nach Vergleichbarem zu durchforsten, fand aber im ersten Moment nur eine beunruhigende, gleichmäßige Abfolge von Ereignissen, voller Normalität und Unspektakulärem. Dazwischen eine Menge Leerstellen. Und in diese Leerstellen sickerte langsam Peters Geschichte, füllte sie aus, veränderte sich dabei, bekam vertraute Konturen, vertraute Gesichter und Orte.

Ich ging nicht mehr in die Redaktion. Tagelang verkroch ich mich in meiner Wohnung, ließ das Telefon klingeln und ignorierte das Klopfen an der Tür. Unzählige Male nahm ich ein Buch zu Hand, ohne mehr als ein oder zwei Zeilen zu lesen. Die Worte und die Zahlen hatten ihre Wirkung verloren. Wie alte Backsteine zerfielen sie zu Staub und konnten nicht mehr das sein, was sie so lange waren.
Es ist egal, wurde mir klar, mit welcher Geschwindigkeit man beschließt durchs Leben zu gehen, es gibt immer etwas, das einen Schritt schneller ist. Wenn du stehen bleibst und ruhig verharrst, so wie ich es gemacht hatte, in der Hoffnung, es rennt einfach an dir vorbei, dann brauchst du nur lange genug zu warten, und es ist wieder da.
Stehenbleiben ist keine Lösung. Man muss einfach versuchen schneller zu sein. Immer einen Schritt schneller.
Als ich das erkannte, packte ich meine Koffer und verließ das Land.

Warum ich jetzt diese alte Geschichte erzähle? Nun, ich habe gerade Dr. Brenner-Menier getroffen. Hier im Paradise Fun Park auf Vancouver Island, wo ich schon seit dem Frühjahr im Sea Shell Motel als Kellner arbeite. Ganz unverändert sah er aus, der lange Schlaks mit den Klavierspielerhänden. Ich sprach ihn an und es schien ihm beinahe Leid zu tun, dass er mich völlig vergessen hatte. Ich fragte nach Peter. An Peter konnte er sich erinnern, traurige Sache. Scheidung, Alkohol, irgendwas mit der Polizei, Depressionen. Lebt jetzt in Düsseldorf, so eine Art betreutes Wohnen für psychisch Kranke. Ja, er werde ihn schön grüßen.

Ich werde wieder weggehen, vielleicht in den Süden, Mexiko oder Guatemala. Nur keine Konstante mehr in das Leben bringen. Die Konstante ist es, die dein Leben beherrscht. Es ist die Melodie, die man dir als Kind vorgesungen hat. Sie wird dich immer und überall hin begleiten. Das, so scheint es mir, ist es, dem Menschen wie Peter nicht entfliehen können. Die vorgegebene Melodie ihres Lebens, die in stakkatohafter Tonfolge den frühen Verlust der inneren Heimat besingt.

Maija

Beitragvon Maija » 02.11.2007, 12:00

Ein trauriges Thema, was sich hier der Autor ausgesucht hat und beim Lesen kann man zwischen den Zeilen, die stumme Gewalt und die hilflosen Schreie hören. Sehr tiefgründig und weitsichtig geschrieben, ohne Übertreibungen und mit viel Gefühl.
Ein Text den man nicht so schnell vergessen kann und wie ein Stachel tief im Fleisch sitzt.
Die Person Peter muss ich nocheinmal näher betrachten und überdenken.

Gruß, Maija

Charly

Beitragvon Charly » 02.11.2007, 16:36

Hallo Sam,

üble Sache, das Thema deiner Geschichte.
An und für sich ist sie gut rübergebracht.
Aber.
Die Proportionen stimmen nicht.
Du nimmst dir Zeit für eine Einleitung, charakterisierst Leute (Charlie (hast mich gut getroffen :mrgreen: ), bringst Lolle ins Spiel und die beiden Praktikantinnen) - aber wozu? Für die Geschichte ist das ohne Bedeutung. Diese Akteure bewegen nichts. Gut, Charlie, aber auch von ihm hat die Story mehr als gebraucht wird.
Dann der Dr., muss man sich wirklich am Arsch der Welt treffen, um mehr über Peter zu erfahren? Nein. Also, warum tut das der Autor? Ich habe keine Antwort gefunden.
Am Anfang der Geschichte lässt du mich miterleben, am Schluss erzählst du mir.
Bis zum Treffen mit Peter könnte ich alles akzeptieren. Auch was Peter zu erzählen hat, ist wichtiges Hintergrundwissen, zweifelsohne, aber genauso gut hätte das der Dr. erzählen können, oder jemand anderes. Wozu also ist Peter wichtig für die Geschichte? Auch hier habe ich keine Antwort gefunden.
Dann kapiere ich nicht warum der erzählende Buchhalter so handelt wie er handelt. Hier hätte ich mehr erwartet.
Für mein Verständnis reagiert der Ich-Erzähler über.
Mich hinterlässt sie Geschichte unbefriedigt.

Fazit: In dieser Geschichte steckt viel mehr drin. Es ist viel Text, aber das fehlt noch eine Menge.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 03.11.2007, 19:17

Schrulliger, überforderter Buchhalter im Dschungel des Schweigens
oder:
Wer missbraucht hier wen?

Die Einleitung ist etwas zu lang und umständlich geschrieben. Dass in Neustadt sehr wenig passiert, hätte man auch kürzer schildern können, ebenso, wieso der Buchhalter als Journalist tätig ist.

Zu Beginn denke ich, das wird eine Satire, da hier gleich mit entsprechenden Attributen gearbeitet wird. (pickelige Studenten).
Als, ich bin überrascht, die Anzeige des Bürgermeisters Tochter wegen Vergewaltigung und ihrem sofortigem Selbstmord über den Leser hereinbricht, ohne, dass dieses Geschehen groß aufgemotzt dargestellt wird, sondern lediglich erzählt wird und Charlie sich über dieses Ereignis freut, weil endlich etwas passiert und das von Charlie herausgegebene Blättchen endlich auch einmal Aufmerksamkeit ernten wird, denke ich: oh ha, eine ziemlich zynische Angelegenheit, wobei ich die Stirn runzelne. Ein gewisses Unbehagen schleicht sich bei bei mir ein. Auch die vor Aufregung "erigierende Kippe" im Mund der Assistentin sowie die sich "verändernden Farben der Aknennarben" Charlies lassen mich auf eine Satire schließen. Wie sich das wohl weiterentwickelt. Meine Neugierde, aber auch Skepsis ist geweckt.

Der Buchhalter selbst stuft die Fakten so dramatisch ein, "als ob aufgrund unkontrollierter Privatentnahmen das Eigenkapital auf die Aktivseite der Bilanz gewandert wäre".
Er rechtfertigt diese Haltung, in dem er sich selbst als den Klischeebuchhalter beschreibt, "Klamotten so modern wie Omas Schirmlampe, introvertiert ... Feierabend mit Mathematik und Astronomie verbringt ... keine Freunde, will mit niemandem reden, sondern seine Ruhe haben, um seinen schrulligen Hobbies zu frönen".
Wieder ein Indiz für eine Satire.

Diese Selbstbeschreibung möchte ich jedoch nicht aus dem Munde des Buchhalters hören, sondern aus der Handlung der Geschichte erfahren. --> Faux pas des Autors.

Der nächste Lapsus folgt. Charlie wird nun erst wütend, dass alle großen Zeitungen bereits vor Ort waren und berichtet haben und fordert den Buchhalter jetzt auf, "die Knochen abzunagen" und sich nach Selbsthilfegruppen umzuschauen, die mit Kindesmissbrauch zu tun haben.
Ich bin irritiert. Geht die Story jetzt doch in Richtung Ernsthaftigkeit? Was wird das hier? Ein Mischmasch? Man kann doch ein solch heikles Thema nicht auf diese Art und Weise angehen?
Und es geht so weiter: Der Buchhalter konstatiert, dass Selbsthilfegruppen für ihn so etwas wie "Primzahlen" seien oder "Bedeckungsveränderliche". Er denkt kurz über Sex nach, was Sex für ihn bedeutet, nämlich nichts. (Was hat Sex mit Missbrauch zu tun?) Der Gedanke an die Vergewaltigung löst bei ihm ein kurzes Unbehagen aus, aber nur kurz, er widmet sich lieber der "ersten Nanosekunde nach dem Urknall".

Jetzt werde ich ärgerlich, lese trotzdem, aber empört weiter.

Lustlos (genau so wie ich inzwischen) telefoniert der Buchhalter mit Psychologen herum, hört "teilnahmsvolle Seufzer" und bekommt schließlich von Charlie die Adresse eines angeblich gut informierten Arztes. Auch hier kommt wieder ein deplazierter Gag. Charlie sagt: dieser Dr. wäre eine "Korophäe", der Buchhalter denkt " Koryphäe".
Der Buchhalter muss nach Köln, wo der Dr. wohnt, ärgert sich über diese Reise, der Jahresabschluss wäre doch wichtiger. Charlie kontert, spricht "vom Supergau auf lokalpolitischer Ebene, da sei ein Jahresabschluss so interessant wie ein totgefahrener Igel auf der B 275" --> erneut ein völlig deplazierter Gag. Direkt folgend kommt die Ansage von Charlie: "Was er wolle, seien Infos über die Möglichkeiten, die sich für Missbrauchsopfer auftun, um Erleichterung zu finden."
Ich fühle mich als Leser über den Tisch gezogen. Was soll das hier? Das wird ja immer schlimmer! Ich bin nicht mehr ärgerlich, sondern wütend. Diese wird geschürt durch die Meinung des Buchhalters: "Er sprach davon, als gäb´s die hier an jeder Straßenecke, diese Opfer."
Auch, wie "diese Opfer" hier gesetzt wurde, ist absurd.

Danach folgt ein viel zu langatmiges Gespräch zwischen Buchhalter und Dr., welches lediglich einen Absatz an Ernsthaftigkeit und Tiefe enthält, in welchem der Dr. etwas über die Wut der Opfer beschreibt.
Ansonsten verliert sich das Gespräch in Nebensächlichkeiten über Neustadt, den Beruf des Buchhalters und die Zeitschrift, die der Chef des Buchhalters herausbringt.
Als über die "Dunkelziffer" der Opfer gesprochen wird, findet der Dr. dies auch noch witzig und bläht die Dunkelziffer zu einer gigantischen Sprengladung auf, die, wenn die Opfer eines Tages reden werden, "Politiker stürzen und Konzerne zerbrechen werden". Der Dr., erst etwas missmutig, ist nun plötzlich bester Laune, die jedoch gleich wieder umschlägt, als er hört, dass der Buchhalter mit Leuten aus den Selbsthilfegruppen sprechen möchte. Seine Aussage: "Zu reden bringt immer was. Gehen Sie mal zu ihrem Nachbarn und sagen Sie: Hallo-ho, ich bin missbraucht worden`" ist völlig unglaubwürdig und nimmt das ernste Thema des Missbrauchs zum wiederholten Male in dieser Story eben nicht ernst. Dann folgt, wieder abrupt, ein bisschen Tiefgang, indem der Dr. erklärt, dass Opfer nicht darüber mit ihren Verwandten reden können. Es geht hin und her.
Der Buchhalter konstatiert für sich selbst, dass er es von einem Betroffenen hören möchte und das dies eine "Ganz einfache Rechnung" wäre. "Den kleinsten gemeinsamen Nenner finden, den Betroffenen selbst. Der Doktor war ein immer noch teilbarer Bruch." Sprich: der Buchhalter befindet sich immer noch in seiner kleinkarierten Buchhalterwelt.
Offensichtlich findet der Autor es witzig, diesen "Buchhalter-Faden" durch die Story zu ziehen. Ich hingegen finde dies alles andere als witzig.
Im weiteren Dialog folgen noch weitere "Gags", die keine sind, wie der Handdruck des Drs., der so fest sei, als wolle er eine Nektarine auspressen und die Gedanken des Buchhalters über "Schreibtische, die ganz angenehme Zeitgenossen seien und niemand je von seinem Schreibtisch missbraucht worden sei, da muss man schon unter Menschen gehen."
Das ist an Zynismus nicht mehr zu überbieten.

Der Dr. arrangiert ein Treffen zwischen dem Buchhalter und seiner Selbsthilfegruppe. Zuvor folgt noch eine Einlage über den verreckten Wagens des Buchhalters (wen interessiert das?), und dann schließlich findet das Treffen statt, in dem der Buchhalter kurz etwas von sich erzählen soll. Wie ich inzwischen erwartete, kommt, was kommen musste. Er erzählt etwas von seiner "stressfreien Beziehung zu Loga- und Algorithmen". Ich fange an zu überlegen, ob ich weiterlesen soll.
Nach diesem "gehaltvollen" Statement über sich selbst, löst sich allmählich die Spannung in der Gruppe. Wie bitte soll das gehen? --> absurd.
Aus der nachfolgenden Beschreibung, was in der Gruppe gesprochen wurde, geht lediglich hervor, dass eigentlich nichts gesprochen wurde, bis auf die Tatsache, dass die Opfer mit niemandem wirklich reden können. Was für eine neue Erkenntnis.
Der einzige, der kein Wort sagte, Peter, lädt den Buchhalter auf ein Bier ein.

Erst lästert Peter einmal ab über die anderen, pauschaliert, meint, es wäre nichts Echt, was da erzählt worden wäre. Nach ein paar Bier jedoch, sagt Peter endlich etwas Tiefsinniges (eigentlich das Einzige in dieser Story), nämlich, dass die Gruppenmitglieder gar nicht miteinander reden, sondern an Sprachlosigkeit leiden, weil diejenigen, die eigentlich zuhören müssten, nicht da sind, jeder einzelne eigentlich zu einem "Phantombild" spreche, und sich das Opfer zum Täter, zum Schuldigen mache, so zumindest fühle, wenn er sich jemanden (Peter in diesem Fall bei seinem Vater) anvertraut habe. In diesem Moment sei der Eingeweihte zum Missbrauchten geworden.

Die Ausführungen von Peter sind in dieser Story der essentielle Teil, weil sie sich wirklich um das Thema Missbrauch drehen und nicht von irgendwelchen aberwitzigen Gags missbraucht werden.
Schließlich erzählt der Buchhalter, dass Peter ihm anvertraut, wie er missbraucht wurde.

Jetzt erfolgt ein Cut, ein Bruch, der mir aber nicht glaubwürdig erscheint, sondern zu gewollt. Das, was der Buchhalter von Peter erfahren hat, wirft ihn total aus der Bahn. Er projiziert die Erlebnisse von Peter auf sich selbst, sucht nach Lücken in seinem eigenen Leben und füllt diese mit den Erlebnissen von Peter, als wäre er selbst missbraucht worden. Er geht nicht mehr zur Arbeit, Zahlen interessieren ihn nicht mehr und er verlässt das Land.
Erfreulicherweise kommen nach diesem Gespräch keine absurden Gags mehr, der Text bleibt ernst, wie er es von Anfang an hätte sein sollen.

Es folgt noch ein Epilog, der nicht nötig ist. (Eine Begegnung mit dem Dr. auf Vancouver Island, wo sich der Buchhalter nach Peter erkundigt). Hier spricht der Buchhalter von einer Konstanten, die das Leben beherrscht, von Melodien, die man als Kind gehört hat und einen immer begleiten, nicht loslassen, eine vorgegebene Melodie des Lebens. Dieser Epilog scheint mir überflüssig und nur geschrieben, um den Titel "Kinderlieder" gerecht zu werden.

Fazit:
Wer missbraucht hier wen? Die Story das Thema Missbrauch? Das Thema Missbrauch den Buchhalter?
Die Geschichte wird dem so ernsten Thema keinesfalls gerecht, ganz im Gegenteil. Der Missbrauch wird durch die vielen satirischen Elemente ins Lächerliche gezogen, nimmt es auf die Schippe, so dass einem das Lachen nicht einmal im Halse steckenbleibt.
Zu langatmig geschrieben. Das Wesentliche zu kurz angerissen, dafür jede Menge unwesentliche Dinge nicht nur zu lang beschrieben, sondern auch völlig deplaziert.
Thema verfehlt. Keine gelungene Story, kein Lesegenuss.
Saludos
Mucki

Sneaky

Beitragvon Sneaky » 03.11.2007, 20:57

Woody Allen?

Der Erzähler ist ein Buchhalter, der eingestellt wurde weil er in der Buchhandlung gebraucht wird? Nebenher ist er noch für unnütze Beiträge in einem unnützen Lokalteil Reporter. Die Langeweile des Nebenjobs zum Quadrat erhoben, gegen die (implizierte) Langeweile des Berufes Buchhalter.

Dann passiert ein Skandal, der den Buchhalter kaum berührt. Er vergleicht ihn mit einem Buchhaltererbegriff. Die Aufregung lässt ihn vielleicht nicht kalt, aber ob das mit der Buchhaltung verglichene Ereignis ein "kapitales" Ereignis ist, weiß ich nicht. ABer es hat keinen Biss für mich, den Vergleich seh ich als staubtrocken an, ein weiterer Hinweis auf den staubtrockenen Erzähler.

Er muss Selbsthilfegruppen ausfindig machen, das sind für ihn Primzahlen, Zahlen die nur durch eins und sich selber teilbar sind. Sie gehen nicht auf. Das lese ich als "sind die zu was nütze?"

Die Passage mit dem Doktor ist lang. Und der Doktor ist ein komischer Vogel wie der Buchhalter. ER hat Hände, die pressen können. Nektarinen auspressen ist ein mühsames Geschäft, die sind meist harte Früchte. Was also ist der Doktor? Jemand, der mit Gewalt operieren muss, um etwas aus den PAtienten herauszuholen? Jemand, der viel Kraft braucht, um zu ERgebnissen zu kommen. Und der nicht unbedingt will, dass der Buchhalter in dieser Szene stochert.

Der Buchhalter bekommt Informationen in der Gruppe. Derjenige, der kaum was gesagt hat in der Gruppe lädt ihn zum Bier ein. Es braucht ein paar Bier, aber der Buchhalter erhält mehr: Wenn Missbrauch angeklagt wird, wird das Opfer zum Täter. Das spielt wohl auf die Klischees aus einschlägigen Sendungen an: Der/die wollte das, hat nicht ausreichend um Hilfe geschrien etc. Ein Seitenhieb darauf, wie das Rechtssystem und die Umwelt die Täter schützen?

Die Geschichte, die der Buchhalter gehört hat, ruft ein Echo hervor. Er erinnert sich, dass er selber auch ein Opfer war, seine Welt der Zahlen ist nicht mehr konstant. Er steigt aus und versucht was anderes. Wo er vorher Zuflucht zu Beständigem genommen hatte, das sich letztlich als nutzlos erwies, sucht er Zuflucht im Unbekannten. Beides bleibt eine Flucht.

Mein Problem mit der Geschichte ist die Länge, spätestens ab dem Bericht über den Selbstmord weiß ich, dass auch der Buchhalter missbraucht worden ist. DAs Hinführen zu dem Wie, die Auflösung lässt sich zuviel Zeit dafür.

Die Geschichte geht trotzdem auf für mich. Das Ende ist ein wenig sehr bunt, Kellner in einem Fun Paradies, MExico, Guatemala. Naja

aber trotz der Längen gut lesbar.

Sneaky

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Sethe
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Beitragvon Sethe » 03.11.2007, 21:27

Ist denn der sexuelle Mißbrauch hier wirklich das wesentliche Thema, welches angeblich zu kurz kommt?

Es ist die Geschichte eines Menschen, der eine Wandlung durchmacht.
Die Geschichte spielt im Jahr 1987 und beginnt in einem kleinen Ort, einem Kuhdorf, einem Kaff.
In einem Ort, in dem sich bis zu der tragischen Geschichte der Tochter des Bürgermeisters wahrscheinlich noch nie jemand mit dem Thema sexueller Mißbrauch von Kindern beschäftigt hat. Und schon gar nicht im Jahr 1987.
Allein schon der Umstand, daß nach Selbsthilfegruppen gesucht werden muß spricht dafür. Heute im Jahr 2007 ist das anders.
Dem Buchhalter ist so ziemlich alles egal was sich außerhalb seiner Zahlen ereignet. Keinerlei Bewußtsein, keine Sensibilität für dieses Thema. Kein Interesse. Er lebt lieber in seiner Welt. Er hat keine Leidenschaften neben seine Zahlen. Er läßt auch nicht zu, daß irgendetwas seine strukturierte Welt in Unordnung bringt. Er hinterfragt im Grunde sein Leben und das Leben um ihn herum nicht. Vielleicht hat er auch bis zu dieser Geschichte nicht den Mut, sich mit dem zu befassen was um ihn herum passiert und die Konsequenzen daraus zu ziehen. Was mich in diesem Zusammenhang irritierte, ist der Umstand, daß der Buchhalter einen knallorangen Käfer gefahren hat. Nicht unbedingt etwas, was man mit einem typischen Buchhalter - auch im Hinblick auf die Selbstbeschreibung - in Verbindung bringt. Vielleicht ein kleiner Hinweis darauf, daß der Buchhalter doch nicht so festgefahren in seinen Handlungen ist, und sich doch aufraffen könnte, sein Leben zu ändern.

Der erste Teil der Geschichte bis zu dem Moment wo der Arzt ins Spiel kommt, unterscheidet sich meiner Meinung nach auch im Schreibstil von dem restlichen Stellen.
Es werden am Anfang der Geschichte Wörter verwendet, die ich mal als salopp und schnodderig bezeichnen würde. "düste", "schlürfte". Wörter, die ich so nicht unbedingt in einer ernsthaften Geschichte erwarten würde. Auch die Beschreibung von Charly und den anderen Mitarbeitern paßt dazu ins Bild.
Eine sprachliche Umsetzung des Umstandes, daß der sexuelle Mißbrauch als reine Nachrichtenstory angesehen wird. Typisch halt, daß es Zeitungsmacher nur darum geht, eine gut zu verkaufende Story zu veröffentlichen. Auch eine sprachliche Umsetzung für das damalige Desinteresse an diesem Thema.
Edit:
Die Stellen, die von Mucki angeführt werden, die sie als zynisch, oder als nicht gelungene Gags ansieht, sind für mich eben das sprachliche Ausdrucksmittel, um die Diskrepanz zwischen der Haltung der Beteiligten zu dem Thema und dem Ernst des Themas "sexueller Mißbrauch" darzustellen.

Auch der Buchhalter bringt ja kein Interesse dafür auf. Es stört seinen tagtäglichen Ablauf.

Dies - die Einstellung des Buchhalters und die Sprache der Geschichte- beginnen sich zu ändern, ab dem Moment, wo der Arzt auftaucht.

Ich persönlich halte die Beschreibung des Arztes für gelungen.
Die Hände, die Gestalt, sein Verhalten. Auch der Arzt scheint nicht mehr als nur berufliches Interesse aufbringen zu können.
Bei der Beschreibung des Arztes, insbesonder der Hände, mußte ich spontan an die Marfan Krankheit denken. Wieso, ich weiß nicht.
Aus der Beschreibung der Hände, wie er seine Hände verwendet, läßt sich auch einige herauslesen.
Der Arzt als Pianospieler, der das "Konzert" der Opfer dirigiert und vielleicht mit ihnen "spielt". Er läßt nur das zu, was seiner Meinung notwendig ist, um den Opfer zu helfen. Aber wie gesagt, über das berufliche Interesse geht es bei dem Arzt auch nicht heraus.

Ab dem Moment, wo dieser Arzt auftaucht, habe ich mich bei den ersten 2-3 mal Lesens gelangweilt. Dies muß ich zugeben.
Weil, all das was ab diesem Zeitpunkt erzählt wird, nicht wirklich neu ist für mich.
Aber: Die Geschichte spielt im Jahr 1987. Die Informationen, die ich persönlich jetzt zu diesem Thema habe, hatte ich 1987 auch noch nicht. Das heißt, ich kann die im Jahr 1987 spielende Geschichte nicht an dem Wissen messen, was ich jetzt im Jahr 2007 habe. Ich denke, das wäre nicht fair.

Von anderen hier wurde bemängelt, daß viel zu viel Nebensächliches erwähnt wird.
Diesen Eindruck hatte ich zunächst auch.
Aber die genaue Beschreibung am Anfang von Charly und co. macht das Klima und die gesellschaftlichen Situation deutlich, die damals 1987 in einem Kuhdorf herrschte, in dem eine Gewalttat mit Gewalt das behagliche Leben aus den Fugen haut.

Der Buchhalter wird beschrieben, als jemand der sich in seiner Welt introviert behaglich eingerichtet hat.
Für so einen Menschen sind banale Nebensächlichkeiten des täglichen Lebens wichtig, weil sie seinem Leben Struktur geben. Er will nichts von Abweichungen wissen, und schon garnicht über Abweichungen und Veränderungen in seinem behaglichen Nest reden. Sein Leben läuft in konstanten Bahnen ab.
Jede Abweichung von der Norm bringt so etwas wie Chaos in sein Leben. Dies können auch solche Dinge sein, wie nach Köln zu fahren, der Defekt seines Autos.
Der größte Einbruch in sein konstantes, strukturiertes Leben ist die Begegnung mit Mißbrauchopfern. insbesonder mit Peter.
Dies hat ihm deutlich gemacht, daß es nichts nutzt, so zu Leben wie er es bislang gemacht hat. Immer stehen zu bleiben und im Bestehenden zu verharren.
Sicher, die Reaktion darauf, einfach die Koffer zu packen, mag etwas überzogen sein.
Aber ich finde sie paßt ins Bild. Es war halt ein Buchhalter, der einen knallrorangen Käfer fuhr.

Das Thema sexueller Mißbrauch wird mit dieser Geschichte aus einer anderen Perspektive heraus angegangen.
Nicht aus der Perspektive der Opfer oder der Täter.
Sondern aus der Perspektive eines Unbeteiligten, der sich bis zu diesem Ereignis all das von sich wegschoben hat, was sein Leben in Unordnung bringen kann, und sich auch nicht damit beschäftigten wollte.
Insofern ist auch das wesentliche Thema eben nicht zu kurz gekommen.
.
.
.
Ich denke, dies reicht erstmal.

viele Grüße
Sethe
Was ich tu, das tu ich, was ich tat, das wollte ich tun.
(aus: "Ich schließe mich selbst ein" von Joyce Carol Oates)

Gast

Beitragvon Gast » 04.11.2007, 23:32

Wiedererkennen einer Melodie

„Kinderlieder“ hat Sam seine Geschichte genannt.

Was mich nachhaltig an diesem Text beeindruckt hat ist, dass der Autor, ein Familiendrama, (Vergewaltigung einer Bürgermeistertochter durch den Vater – dramatisch in Szene gesetzter Suizid des Opfers), das allein zu erzählen sicher manchem Autor gereichen würde, recht unaufgeregt nur als die Grundlage dessen erzählt, worauf er die eigentlich Geschichte aufbaut.

Es geht hier nicht um Öffentlichkeit und Quoten, sondern um eine Recherche, die den Icherzähler, einen trockenen Buchhalter, als Aushilfsreporter zu Vergewaltigungsopfern führt, von denen zwar jedes seine eigene Geschichte hat, die sich jedoch darin ähneln, wie sie mit dem Erlebnis umgehen.

Die Selbsthilfegruppe, die den Opfern ein Stück Normalität vermitteln sollte, so wird dem Aushilfsreporter von einem der Opfer in einem Privatgespräch erklärt, dient eigentlich nur dazu um „diese zwei Mal die Woche in den luftleeren Raum hineinzureden“.
An dieser Stelle wird unterstellt, dass das Reden in der Selbsthilfegruppe zur Sprachlosigkeit führt, weil die Täter, die eigentlich zuhören müssten nicht anwesend sind.
Mich hat dieser Gedanke sehr beschäftigt. Ich bin mir sicher, und es entspricht wohl dem Verständnis einer modernen Verhaltenstherapie, dass die Opfer lernen, nicht nur ihr Schweigen zu brechen sondern ggf. auch den Bann, die Tat im Interesse des Peinigers zu vertuschen, um ihre vermeintliche „Schuld“ los zu werden.

Interessant wird dann aber ein völlig anderer Aspekt der Verarbeitung beleuchtet. Vergewaltigungsopfer erleben es wohl häufig, und fühlen sich dann erneut besonders miserabel, wenn sie sich Vertrauenspersonen öffnen und dort auf Unglauben stoßen, frei nach dem Motto: Was nicht sein darf, das kann nicht sein“, stoßen.
In diesem Teil der Geschichte hätte ich mehr persönliches Erzählen näher an der Person des Peter gewünscht. Peter doziert zu sehr ist zu abstrakt zu allgemein. Es klingt weniger nach dem Erlebten, als nach etwas, das er sich angelesen hat oder was er allgemein über das Rollenverhalten von Vergewaltigungsopfern weiß.
Jedenfalls ist so mein Eindruck.

Der Bogen schließt sich, indem unausgesprochen klar wird, dass der Icherzähler sich seiner eigenen Vergewaltigung erinnert.
Er beschließt zu fliehen, vor dem Hintergrund des Wissens, über die Unmöglichkeit einer echten Aufarbeitung ... es sind immer die gleichen Melodien ... Kinderlieder, die ihn einholen.

Ich nehme dem Autor diese Geschichte ab, so wie sie geschrieben ist annehmen. Sie ist insgesamt gut ausgeführt (abgesehen vom bemäkelten Teil).
Natürlich kann man sich an Textstellen festbeißen und sich fragen, ob dieses oder jenes überhaupt erzählt werden muss, dass es für den Fortgang der Geschichte nicht wesentlich ist. (Beispiel das liegen gebliebene Auto). Aber gerade solche kleine Schlenker machen das Salz in der Suppe, wenn sich der Autor nicht darin ergeht sondern seinen Erzählstrang fest im Griff hat, was ich Sam ausdrücklich bescheinigen möchte.
Da wäre noch zu erwähnen, zugegeben reichlich spitzfindig von mir, aber es fiel mir auf, dass man eine Nektarine für gewöhnlich nicht von Hand auspresst, und dass es sicher passender wäre von einer Zitrusfrucht, beispielsweise einer Orange zu schreiben. ;-)
Auch dass Dr. Brenner-Menier (hat bestimmt den Familiennamen seiner Ehefrau zu seinem hinzugefügt), von „Charlie“ spricht ist mir nicht erklärlich, wird nicht ausgeführt.
Aber das sind peanuts, und so möchte ich zum Schluss meiner Betrachtung gern noch hervorheben, dass mir u. a. eine Beschreibung zu Beginn, in ihrer Bildhaftigkeit besonders gefallen hat.
Zitatanfang
Endlich zuckten die Blitze mal nicht von einer Seite des Horizonts zur anderen, sondern fuhren mit allem Krachen und Zischen direkt in die trockene Scheune vor unserer Nase und entzündeten alles in einem hellen Feuerschein. Zitatende

Ich kann diese Geschichte Lesern empfehlen, denen es nicht darum geht gut unterhalten zu werden, sondern gern vor einen psychologisch reflektierten Hintergrund auch noch zu eigenen Gedankengängen angeregt werden.
©GJ20071104

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 08.11.2007, 16:50

Das Leben, eine Konstante gegründet auf Missbrauch/Verwundung – immer schon die erste Nanosekunde nach dem Urknall. Was bleibt ist die Verletzung, die Narbe, die ihre Form und Farbe stetig ändert, wie eine Melodie, die sich aus der Form des Ohres erspielt, das auch schon das ganze Universum wäre.


Davon handelt für mich der Text. Ich glaube kaum je einen besseren Reflexionstext über Missbrauch gelesen, eben weil es gar nicht um den Sexuellen geht (2), der nur als Illustration dafür herangezogen wird, dass das Maß, für das, was einem widerfahren ist, fehlt und man doch die ganze Zeit als Landvermesser verbringt.
Immer fehlt einem das Maß, weil der Urknall der eigenen Wunde stattfand, als die Gesetzmäßigkeiten eben noch nicht existierten, ja erst durch das Zufügen einer Wunde (1) entstehen ja diese Gesetzmäßigkeiten, von denen dann aber das Leben bestimmt wird –von einem selbst. Wir verbringen dann die Zeit damit, Physiker (Dr.) unserer eigenen Befindlichkeiten zu werden, wollen – weil man ja geheilt sein will (das will man bei allem absurden, widersinnigen und anderswirkendem Verhalten wirklich) – an den Punkt gelangen, an den man nicht gelangen kann, weil man die falschen Instrumente und Formeln anwendet, weil man überhaupt (und immer) Instrumente und Formeln anwendet, sie sind dadurch, dass sie in einer bestimmten Ausprägung (Physik) bestehen, immer schon falsch geeicht.

Nach der Kindheit will man geheilt werden, indem man erklärt. Aber man kann nicht erklären. Es fehlt, zu dem man sprechen müsste (anders abgeleitet, aber für mich letztlich dasselbe: Man kann nicht dazu sprechen, weil es sonst einem die Wunde nicht zugefügt hätte).

Wieso man nicht davon sprechen kann: Manchmal kann man es nicht, weil man es nicht will („unfähig sich auf längere Beziehungen einzulassen, weil diese irgendwie immer an den täglichen Banalitäten zugrunde gingen, über die er sich keinerlei Gedanken machen und erst recht nicht reden wollte“), aber das Nichtwollen, das kommt erst viel später. Davor probiert man es bei denen, bei denen ein Gespräch kein Selbstgespräch wäre (aus verschiedenen Gründen (Verortung im Urknall = „Täter“/ Mit_menschen =Stellvertretersyndrom), doch dies ist (in einem existentiellem Sinne) unmöglich(ob aus eigenem oder aus fremdem Versagen will der Text nicht entscheiden und emanzipiert sich so gegenüber der Frage nach dem Schuldigen), so bleibt noch, sich Gleichgesinnte zu suchen, und sich anhand des Rückkopplungseffektes zu wiederholen oder zu ergötzen (denn die eigene Wiederholung der Wunde bereitet ja auch Lust, ist ein Trieb). Selbst aber wenn man auf Gleichgesinnte verzichtet, so wie Peter und der Protagonist, die eigenen Melodiekonstanten bleiben.
Mathematik, damit lässt sich noch ein gegenüber der Lust an der eigenen Wunde sich asketisch verhaltenes Leben verbringen, Formeln ohne(!) Datensätze (im Vergleich zur Physik) rezipieren (Luft essen, dass man nicht verdaut, denn Verdauen, das ist Wiederholung), aber das gelingt nur so lange, bis man sich nicht in einem anderen gesehen hat (Peter) und weiß, darum weiß. Dann bleibt nur noch wieder und wieder die Zelte abreißen.

Sprachlich abgesehen von einigen Rechtschreibfehlern (3) stilsicher. Besonders die Verwendung der Vergleiche und Bilder, und zwar im Kleinen (erigierte Zigarette) als auch im Großen (Melodie, Physik/Mathe), sind in ihrer Unauffälligkeit ein (weher) Genuss, denn – ich will es mit Kleist versuchen, der vielleicht nicht ganz Recht hat, aber wenn dem schon so sein sollte (ich bin unsicher), so doch nur das Falsche aus dem richtigen Grund sagt: Wenn die Form auffällig wird, so ist sie schon gescheitert, hat sie denn doch nur ein Anrecht darauf, Mittel von etwas zu sein, weil der Dichter nicht den Gedanken, die Empfindung nicht aus seiner Brust reißen kann, um sie den Menschen mit den Händen vors Gesicht zu halten. – In eben diesem Sinne, und das ist nicht oft der Fall, stimmen Bilder und Intention des Textes gekonnt und berührend überein.
Versteckte Verweise im Text ganz nebenan angetippt, erhöhen nochmals den Lesegenuss (Tinitus der Mutter in Bezug auf das Bild der Melodie, als „psychologische Variante der Melodietreue usf.). Schön auch, wie der Text im Kontext anderer bekannter Texte des Autors ein Netz spannt (Südamerikatext) und so die Texte untereinander die Stimmungsbreite vertiefen und ankern, weil sie denselben Grund aufweisen und trotzdem ihre Beweglichkeit behalten. Für mich ein Text der aufgeht (in meinen Augen).






(1) Das Wort „Wunde“ ist dabei natürlich zugespitzt und damit dramatisch überbetont, erst wenn man in seiner Gesetzmäßigkeit ist, nötigt einen der Schmerz es eine einzelne große Wunde zu nennen, was uns ausmacht, aber eigentlich geht das viel ruhiger von statten)
(2) Übrigens deshalb ist der Text auch ganz konkret auf das Thema des sexuellen Missbrauchs bezogen ohne Druck und trifft deshalb (und nur so geht das!) auch etwas Wahres in Bezug auf dieses ganz konkrete Thema –soweit mir möglich ist, das zu beurteilen. Ich empfinde jedenfalls nicht die Anmaßung, die der Text erhebt.
(3) Weiterhin fällt noch ein einziger Bruch auf, der für mich eine Erzählschwäche bildet, die im Anfang dieser Passage liegt: „Ich ging nicht mehr in die Redaktion. (Besonders dieser Satz:) Tagelang verkroch ich mich in meiner Wohnung, ließ das Telefon klingeln und ignorierte das Klopfen an der Tür. Unzählige Male nahm ich ein Buch zu Hand, ohne mehr als ein oder zwei Zeilen zu lesen. Die Worte und die Zahlen hatten ihre Wirkung verloren. Wie alte Backsteine zerfielen sie zu Staub und konnten nicht mehr das sein, was sie so lange waren.“ Für mich könnte der Text hier mehr Ausführlichkeit /Innerlichkeit vertragen oder eben gar keine. (Vielleicht entsteht alles auch nur durch das Wort „Verkroch“, ein Wort, das für mich nicht erzählt, sondern suggiert).

Mucki
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Beitragvon Mucki » 09.11.2007, 12:29

Hallo Lisa,

ich finde deinen Kommentar sehr interessant und aufschlussreich und vor allem die Perspektive, aus der du die Geschichte von Sam liest. Und ja, ich gebe dir Recht. Von dieser Warte aus betrachtet, ist der Text gelungen.
Es ist offensichtlich, dass meine Perspektive eine völlig andere war, mein Fokus sich ganz auf das Thema Missbrauch konzentriert hat und deshalb fiel meine Replik auch entsprechend negativ aus.
Ist schon verblüffend, wie sehr die Perspektive den Ausschlag gibt,-)
Saludos
Mucki

Maija

Beitragvon Maija » 09.11.2007, 15:01

Dank Lisa,s Kommentar wurde ich nun auch weitsichtiger, ja, ja der Landvermesser fiel mir auch auf (s. Kafka) aber ich konnte einen Zusammenhang nicht finden. Gute Arbeit Lisa und...? :eusa_shhh:


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