Kinderlieder
Verfasst: 02.11.2007, 07:05
Kinderlieder
In den Jahren 1986 und 1987 arbeitete ich für die Zeitung von Neustadt, einer kleinen Stadt im Taunus. Man hatte mich dort angestellt, um die Buchhaltung und andere Büroarbeiten zu machen. Aufgrund des Personalmangels wurde ich von Charlie jedoch auch als Feierabendreporter eingesetzt, der fleißig das Kinoprogramm der nächsten zwei Wochen recherchierte, auf Schüleraustauschfeten pickelige Studenten interviewte und unzählige Samstagabende auf Vereinsfeiern verbrachte, deren nachrichtentechnische Aufarbeitung einen eher kleinen Platz in dem Lokalteil des Blattes einnahm. Einen Buchhalter brauchte Charlie nur, weil er sein Geld hauptsächlich mit einer großen Buch- und Schreibwarenhandlung verdiente. Seine Leidenschaft aber gehörte der Neustädter Zeitung, Ableger des Wiesbadener Kuriers und, bis auf den Lokalteil, mit diesem identisch.
Neustadt ist so ein Ort, den keiner kennen würde, läge er nicht direkt an der Autobahn zwischen Frankfurt und Köln. Es passierte hier seit der Überschwemmung 1954, bei der die ganze Altstadt zwei Meter unter Wasser stand, nichts mehr Außergewöhnliches. Bis zu jenem Tag im August siebenundachtzig.
Es war am späten Nachmittag. Ich saß schon seit Stunden in der Kanzlei unseres Steuerberaters, um mit ihm den Jahresabschluss vorzubereiten, als das Telefon klingelte. Es war Charlie, der mich aus dem Hörer heraus anschrie, ich solle sofort in die Redaktion kommen. Alarmstufe Rot. Also sprang ich in meinen orangefarbenen Käfer 1300 und düste durch die engen Altstadtgassen ins Büro.
Als ich ankam, saßen Lolle der Fotograf, unsere zwei Praktikantinnen und Charlie um den runden Konferenztisch und redeten aufgeregt durcheinander. Charlie bemerkte mich und begann sofort zu erzählen:
Am Morgen war die sechzehnjährige Tochter des Bürgermeisters in die Polizeiwache in der Gerichtsstraße hineinmarschiert und hatte gesagt, sie wolle ihren Vater anzeigen. Wegen Vergewaltigung. Die Polizisten waren zunächst etwas ratlos. Also tippten sie erst einmal einen Bericht auf ihrer alten Adler zusammen. Sagten ihr, sie müsse das unterschreiben. Ohne ihn zu lesen, setzt das Mädel ihren Namen unter den Wisch, zog eine Pistole aus ihrer Jackentasche und schoss sich in den Kopf. Als man daraufhin den Vater verhörte, gestand dieser, über Jahre hinweg seine Tochter missbraucht zu haben.
Charlie machte gar nicht erst den Versuch zu verbergen, wie sehr ihn dieses Ereignis erfreute. Endlich passierte mal was jenseits der Bankenmetropole und diesseits der Pappnasen vom Rhein. Endlich zuckten die Blitze mal nicht von einer Seite des Horizonts zur anderen, sondern fuhren mit allem Krachen und Zischen direkt in die trockene Scheune vor unserer Nase und entzündeten alles in einem hellen Feuerschein. Seine Aknenarben wechselten ständig die Farbe, und Lolle rauchte so angestrengt, dass die Kippe in seinem Mund erigierte wenn er daran zog. Für mich klang das alles sehr dramatisch, als ob aufgrund unkontrollierter Privatentnahmen das Eigenkapital auf die Aktivseite der Bilanz gewandert war, sagte aber nichts. Sie müssen wissen, ich war damals genau, wie man sich einen richtigen Buchhalter vorstellt: Klamotten so modern wie Omas Schirmlampe, introvertiert, behaglich eingerichtet in einer Welt aus Zahlen und Tabellen. Jemand, der seinen Feierabend mit Büchern über Mathematik und Astronomie verbrachte, der Eltern und Freunde verlassen hatte, um endlich ungestört seinen Schrullen zu frönen, unfähig sich auf längere Beziehungen einzulassen, weil diese irgendwie immer an den täglichen Banalitäten zugrunde gingen, über die er sich keinerlei Gedanken machen und erst recht nicht reden wollte.
Charlie sprach. Charlie war der Chef. Wurde auf einmal wütend, als er erzählte, dass alle schon da waren: die Bild, die Frankfurter, die Wiesbadener, nichts für uns, alles vom Haupthaus aus geregelt.
Was wir hier dann machen, fragte Lolle und Charlie wurde wild. Was wohl? Die Knochen abnagen. Der Kadaver war ja schon gefressen.
Für mich hatte Charlie eine Spezialaufgabe: »Schau mal nach Selbsthilfegruppen«, sagte er. »Ich will irgendwas über Selbsthilfegruppen bei Kindesmissbrauch. So was muss es doch geben. Gibt’s doch für alles. Wie für die Alkoholiker.«
Später saß ich wieder in meinem Käfer und fuhr heim. Selbsthilfegruppen. Eine Selbsthilfegruppe waren für mich Primzahlen, oder vielleicht, ums mal ein bisschen zu komplizieren, Bedeckungsveränderliche. Ich will nicht sagen, dass Sex für mich unwichtig gewesen wäre. Er war einfach nur nicht der Rede wert. Sex hatte man und vergaß es wieder. Aber dass hier ein Vater seine Tochter vergewaltigt hatte und sie sich daraufhin erschossen hatte, löste in mir ein eigenartiges Brennen aus, ein Unbehagen, von dem ich mich fragte, ob es noch eine andere Ursache haben könnte. Ich versagte mir allerdings längeres Nachdenken und beschäftigte mich den Rest des Abends mit einem tausendseitigen Buch über die erste Nanosekunde nach dem Urknall.
Dann, ich hatte einen Tag lang lustlos herumtelefoniert, aber außer dem ein oder anderen teilnahmsvollen Seufzer irgendwelcher Psychologen aus dem Rhein-Main-Gebiet nichts erreichen können, warf mir Charlie eine Adresse auf den Schreibtisch und sagte: »Ruf den an, der ist in dem Thema voll drin. Ne Korophäe.«
Koryphäe, dachte ich. Ich hatte ja wirklich noch eine Menge Wichtiges zu tun und nun sollte ich mich, ein Blick auf den Zettel verriet es mir, mit einem Dr. Brenner-Menier in Köln treffen. Ich lief Charlie hinterher in sein Büro.
»Ja was denn?«
»Ja was wohl, was soll das, Köln! Ich mach gerade den Jahresabschluss. Der Steuerberater kommt...« weiter konnte ich nicht sprechen. Charlie machte sein typisches Charliegesicht mit grotesken Verformungen seiner fleischigen Wangen und der wulstigen Stirn und sprach vom Supergau auf lokalpolitischer Ebene, da sei ein Jahresabschluss so interessant wie ein totgefahrener Igel auf der B 275. Lolle und die Praktikantinnen brauche er vor Ort, deswegen sei mein Arsch nach Köln zu bewegen, damit ich dort mit dem Doktor spräche - über den Erfolg von Selbsthilfegruppen. Was er wolle, seien Infos über die Möglichkeiten, die sich für Missbrauchsopfer auftun, um Erleichterung zu finden. Er sprach davon, als gäb´s die hier an jeder Straßenecke, diese Opfer.
»Ruf den Doktor an und mach einen Termin aus. O.K.? Der wird dir schon weiter helfen.«
Dr. Brenner-Menier war ein groß gewachsener Mann, extrem dünn und mit langen Fingern, deren leicht verdickte Kuppen an die Hände von einem Konzertpianisten erinnerten. Er war sehr freundlich und hatte eine tiefe, fast einschläfernde Stimme.
Ja, er habe davon gehört, was passiert sei, in Neuhof, Neuburg ... »Neustadt.« »Ach ja danke, Neustadt. Erschütternd, aber nicht ungewöhnlich. Ganz und gar nicht. Wut richtet sich immer gegen andere und gleichzeitig«, er betonte das Wort `gleichzeitig´, indem er mit seinem Zeigefinger eine Delle in die Luft drückte, »gegen sich selbst. Und der Wut auf sich selbst kann man viel leichter Ausdruck verleihen, als derjenigen auf eine andere Person, verstehen Sie? Deswegen der Selbstmord, die Selbstverstümmelungen und all das. Der Schlüssel ist die Wut. Wut und auch Ohnmacht, aber das geht Hand in Hand. Was wollen Sie nun eigentlich?«
»Selbsthilfegruppen.«
»Ja?«
»Naja, vielleicht mal mit dem ein oder anderen sprechen. Fragen, ob´s was hilft. Es geht ja ums Helfen, nicht?«
»Sind Sie Reporter?«
»Oh, nein, Buchhalter, aber eben auch ein bisschen soetwas wie ein Reporter. Mach ansonsten das Kinoprogramm und Interviews bei den Spielen der TSG Neustadt in der B-Klasse Untertaunus-Ost.«
»Wieso schickt mir Charlie seinen Buchhalter? Er sagte, es wäre so wichtig, aber ...«
»Hören Sie, Charlie meint, dass es vielleicht noch mehrere gibt mit dem gleichen Problem, und er will darauf aufmerksam machen, wo und wie man Hilfe finden kann. Der Dunkelziffer zeigen, wo der Lichtschalter ist, hat er gesagt.«
Jetzt lachte der lange Doktor und klatschte seine Kunstwerke von Händen auf die Lehne des Ledersessels.
»Sie sind witzig. Aber haben Recht. Ich sag Ihnen was. In zwanzig Jahren wird dieses Thema wie kein anderes in den Köpfen der Leute sein. Politiker werden stürzen, Konzerne zerbrechen, weil die Zeit kommt, in der die Opfer ihr Schweigen brechen. Zumindest hoffe ich das.«
Ich nickte eifrig.
»Gut«, sagte der Doktor, der nun sehr guter Laune zu sein schien, »was wollen Sie wissen?«
»Charlie meinte, ob man nicht mal mit jemanden reden könnte, der in so einer Selbsthilfegruppe ist. Fragen, ob es ihnen was bringt.«
»Natürlich bringt es was. Zu reden bringt immer was. Gehen Sie mal zu ihrem Nachbarn und sagen Sie: Hallo-ho, ich bin missbraucht worden`. Meinen Sie, der hört ihnen zu? Nein, der dreht sich um und geht, weil er gar nicht weiß, was er damit anfangen soll. Selbst die Eltern wissen es nicht. Wissen Sie, was passiert, wenn ein Kind seinen Eltern erzählt, dass es vom lieben Onkel Fritz oder manchmal sogar von der lieben Tante Frieda oder vom lieben Stiefpapa auf eine Art angefasst wurde, die ihm ein bisschen komisch vorkam?«
»Ich würde es gerne mal von einem Betroffenen hören.«, sagte ich. Ganz einfache Rechnung, dachte ich. Den kleinsten gemeinsamen Nenner finden, den Betroffenen selbst. Der Doktor war ein immer noch teilbarer Bruch.
Er wirkte ein wenig indigniert.
»Junger Mann«, hob er an und formte aus seinen Fingern ein Zelt, das er vor seinem schmallippigen Mund aufbaute. »Die werden nicht unbedingt mit Ihnen reden wollen. Die sind in einer solchen Gruppe, weil sie eben nicht mit anderen reden wollen, sondern nur mit ihresgleichen. Da stoßen sie nämlich auf Verständnis, nicht bei irgendwelchen Zeitungen. Pardon.«
»Sie betreuen solche Gruppen?«
»Ja, alles meine Patienten, und ich bin stolz auf die Fortschritte.«
»Ja, darum geht’s doch, um die Fortschritte. Charlie will ja keine Sensationsstory. Die Fortschritte interessieren ihn. Also, mal so ein Gespräch mit dem ein oder anderen, was es ihm gebracht hat sich jemanden zu öffnen. Keine Fallbeispiele, die liest man momentan überall. Wir wollen, dass jemand, dem das Gleiche passiert ist, weiß was er tun kann.«
»Sie schreiben den Artikel?«
»Nein, nur ein bisschen unterstützen, bin ja ...«
»Der Buchhalter.«
»Genau.«
»Ich werde sehen, was ich machen kann. Ich rede mit den Leuten aus den Gruppen und wenn einer bereit ist was zu erzählen, sag ich Ihnen Bescheid. Eine Woche wird’s aber dauern.«
Er schüttelte meine Hand, die er fest umgriff wie eine Nektarine, um den Saft rauszupressen.
»Schulen sie doch um auf Reporter, ist doch interessanter als nur am Schreibtisch zu hocken, da kommt man wenigstens unter Menschen.«
Ich schaute auf meine rot gefleckte Hand und sagte was von Schreibtische können ganz angenehme Zeitgenossen sein. Niemand, dachte ich beim Hinausgehen, ist je von seinem Schreibtisch missbraucht worden, da muss man schon unter Menschen gehen.
Er rief mich drei Tage später an und sagte, fünf aus der Gruppe hätten sich bereit erklärt mit mir zu reden. Keine Namen, keine Fotos, kein Tonband. Mit der Option jederzeit zu gehen und eine saftige Spende für eine gemeinnützige Organisation.
»Alles klar, wann?«
»Morgen?«
»Morgen.«
Mein Käfer verreckte kurz vor Königswinter und während der ADAC den Kadaver entsorgte, fuhr ich den Rest der Strecke mit der Bahn. Wir trafen uns bei Doktor Brenner-Menier in der Praxis. Ich war mit dem Doktor der Erste. Dann kamen Susanne und Martina, Karin und Peter und als letzter Thomas. Als sich alle gesetzt hatten, bot Doktor Brenner-Menier Tee, Kaffee und Cola an, dazu ein paar Kekse und Chips. Die Stimmung war irgendetwas zwischen Skepsis und Neugier, Ablehnung und Hoffnung. Der Doktor sagte ein paar Sätze über den Grund des Treffens und übergab mir das Wort. Ich erzählte kurz die Begebenheit von der Tochter unseres Bürgermeisters, und dass wir von der lokalen Zeitung gerne allen, die sich in einer ähnlichen Situation befänden, eine Hilfestellung geben wollten.
Zunächst, sagte Martina, solle ich doch mal was von mir erzählen. Ups, von mir. Ich war doch nicht ... aber gut, es ging um Vertrauen. Also erzählte ich ein wenig von meiner Arbeit und meiner stressfreien Beziehung zu Loga- und Algorithmen.
Allmählich löste sich die Spannung. Dann, angeregt durch ein paar gezielte Fragen des Doktors, begannen sie zu erzählen. Ich selbst sagte kaum etwas, blieb beim Sie um Abstand zu wahren und machte unleserliche Notizen. Alle, so hörte ich heraus, hatten sie versucht auf die ein oder andere Art über das Geschehene mit einem Elternteil, einem ihrer Geschwister oder einer anderen vertrauten Person zu reden, und überall erfuhren sie die gleiche ungläubige und verschämte Reaktion. Sie äußerten sich sehr positiv über den Doktor und die Arbeit in der Gruppe. Der Einzige, der sich kaum am Gespräch beteiligte, war Peter.
Nach ungefähr zwei Stunden meinte Doktor Brenner-Menier, dass ich wohl genug Informationen hätte, und beendete das Gespräch. Ich versprach allen einen Abzug des Artikel zuzuschicken, bevor er veröffentlicht würde.
Als sie gingen, blieb ich mit dem Doktor allein. Nicht lange allerdings. Peter kam zurück und fragte, ob ich nicht noch Lust hätte auf ein Kölsch. Er würde mich einladen. Erstaunt und erfreut nahm ich die Einladung an, verabschiedete mich vom Doktor und ging mit Peter in eine Kneipe in der Altstadt, wo sie zum Kölsch Erdnüsse reichten. Die Schalen wurden einfach auf den Boden geschmissen.
Wir setzten uns auf die Empore, in ein dunkles Eck. Peter bestellte gleich sechs Kölsch, die man uns kurz darauf in einem runden Aluständer auf den Tisch stellte.
»Ich hoffe, du glaubst nicht alles, was man dir heute erzählt hat.«, sagte Peter, nachdem er das erste Kölsch heruntergekippt hatte und nun fleißig Erdnussschalen auseinander bröselte.
»Wieso?«
»Naja, weil eben nicht immer alles so dramatisch ist. In unserer Situation ist man so auf sich selbst fixiert, da neigt man schnell zur Übertreibung.«
»So?« Das Erdnussbearbeiten erinnerte mich an das Glückskekseauseinanderfuzzeln beim Chinesen in Neustadt.
»Natürlich. Außerdem sind die Ereignisse in den meisten Fällen lange her und Erinnerungen nur selten so vertrauenswürdig, wie sie sich darstellen.«
»Sie meinen?«, fragte ich nun sichtlich erstaunt.
»Peter«, unterbrach er mich, »sag einfach Peter und schau mich nicht so an, als wäre ich behindert oder krebskrank. Mir geht es wunderbar und ich bin nur in dieser Gruppe, weil ich vor einiger Zeit den Fehler machte, meiner Frau zu erzählen, wie gerne mich mein Onkel als Kind hatte. Sie meint nun, dass ich so etwas brauche. Also, die Dinge sind nicht so, wie sie zu sein scheinen. Es ist oftmals nicht so schlimm oder manchmal viel schlimmer. Verstehst du? Wir sitzen zusammen und reden und sehen die Vergangenheit durch das beschlagene Fenster der Gegenwart. Die Versionen unterscheiden sich von Mal zu Mal. Was bleibt ist die Verletzung, die Narbe, die ihre Form und Farbe stetig ändert.«
Mittlerweile hatte er sein drittes Kölsch getrunken und nahm das nächste Röhrchen aus dem Ständer. Ich schaute ihn an und wartete darauf, dass er weiter redete, weil ich nicht wusste, was ich erwidern sollte.
»Du wunderst dich? Mir kommt es so vor, als wärst du ziemlich naiv. Das muss aber kein Nachteil sein. Die Naiven in der Welt sind besser, als diejenigen, die meinen auf alles eine Antwort zu haben. Wie unser lieber Doktor. Der hat immer eine Antwort. Nichts ist so dramatisch, dass es ihm die Sprache verschlagen würde. Aber vielen von denen, die da zwei Mal die Woche im Kreis sitzen, denen hat es die Sprache verschlagen. Eine Sprache aber, die nichts mit Reden zu tun hat, sondern mit der Art und Weise, wie sie mit der Welt kommunizieren. Sie haben sich zurückgezogen und öffnen nur diese zwei Mal die Woche den Mund, um in einen luftleeren Raum hineinzureden. Zum Glück umarmen wir uns nicht ständig oder machen irgendeinen sentimentalen Scheiß. Dann würde ich gehen. Mich interessieren die anderen im Grunde gar nicht und ich sie auch nicht. Vielleicht ist das die eigentliche Verletzung, dass man sich nur noch auf sich selbst konzentriert, sich herausnimmt aus dem Kontext des täglichen Lebens und nur noch denkt ‚die da’ und ‚ich’ und nicht mehr ‚wir’. Das heilt aber auch keine Gruppe und kein Gespräch. Die Sprachlosigkeit rührt daher, dass die, die eigentlich zuhören müssten, gar nicht da sind. So redet jeder mit jedem, aber eigentlich spricht man zu einem Phantombild, zu einem Hologramm in der Mitte des Kreises, das so stumm und ignorant ist wie die Wirklichkeit.«
Peter hatte braune Augen, die im dämmrigen Licht dunkel leuchteten. Er lispelte leicht, sprach aber fließend und mit großem Selbstbewusstsein. In seinem rechten Ohrläppchen steckte ein umgedrehtes Kreuz.
»Mit wem redest du?«, fragte ich.
»Mit meinem Vater, dabei ist es nicht mal gerecht, ihm eine zweite Chance zu geben, wo er die eine, die er hatte, nicht genutzt hat. Aber es ist ja nur....«
»Ein Phantom?«
»Ein Placebo, eine Medizin aus Luft und Vorstellung. Ob es wirklich was hilft, wer weiß? Es war mein Onkel, sein eigener Bruder. Das ist das Problem, verstehst du, diese Nähe, diese Vertrautheit, die ihn wohl daran hinderte zu verurteilen. Und zu handeln. Ich hatte lange gebraucht, um ihm davon zu erzählen. Erst nachdem ich so alt war, dass ich uninteressant wurde für meinen Onkel, als ich mich ihm verweigerte. Das sexuelle Selbstverständnis wächst eben mit den Jahren und es entstehen Kategorien, in die wir gewisse Handlungen einordnen. Man nennt das wohl Moral oder vielleicht ist es einfach ein naturgegebenes Empfinden. Damit geht jedenfalls ein gewisses Bewusstsein dessen, was einem widerfahren ist, einher. Aber in diesem Moment“, er hob sein Bierglas etwas in die Höhe und streckte den Zeigefinger zu Seite, „ist die Schuldfrage noch ganz klar. Mir ist etwas passiert. Jemand hat mit mir etwas gemacht, das nicht richtig ist. In diesem Moment! Naja, und dann gehst du hin zu demjenigen, dem du am meisten vertraust, demjenigen, der dir eigentlich noch näher steht, als du dir selbst. Und du erzählst ihm, was dir widerfahren ist. Erlebst es nochmals, öffnest dich auf eine Weise, wie du es in deinem Leben nie wieder tun wirst. Du lässt diese Person deines Vertrauens daran teilhaben, sie zuschauen, in der Hoffnung, dass sie einschreitet. Vielleicht erwartet man zu viel. Dass es ungeschehen gemacht wird, ausgetilgt, verbrannt. Aber es geschieht nichts dergleichen. Genau in diesem Augenblick, mein Freund, wird aus dem Opfer der Täter, weil die Opferrolle übergeht auf den Vater oder die Mutter oder eben denjenigen, dem man sich anvertraut. Plötzlich ist nämlich er der Missbrauchte, du siehst, wie seine Gesichtszüge sich verändern, als hätte man vor ihm ein faules Stück Fleisch ausgebreitet und würde ihn zwingen, es zu essen. Dieser Abscheu, der seine Augen glänzen, der die Pupillen umherirren lässt. Die Arme, die er steif in die Rückenlehne presst, die Hände flach auf das Polster gedrückt, der Mund, der sich ein wenig spitzt, dabei die Lippen kräuselt, die Farbe, die aus den Ohren und der Nasenspitze weicht, das alles in Bruchteilen einer Sekunde, nachdem man fertig gesprochen hat, ist des Missbrauchs zweiter Teil. Erst jetzt erwacht in einem das Gefühl schuldig zu sein, weil man merkt, wie das, was einem bisher als uneinnehmbare Trutzburg vorkam, von einem weicht, sich verschließt. Man kann es nur so verstehen, als Kind, als Jugendlicher. Fortan ist der Vater der Missbrauchte, windet sich in dem Schmerz, den ich ihm angetan habe, schlägt mir seine Ohnmacht um die Ohren und aus jede Pore trieft der Zweifel. Das Schweigen, das lange, das jahrelange Schweigen zaubert dann das Vergessen herbei, eine ungemütliche Erleichterung, eine tektonische Verwerfung, verborgen unter der Gemütlichkeit des trauten Heims. Und völliges Unverständnis für kommende Rebellionen. Er hatte mir damals gesagt, er werde mit dem Onkel reden, und Jahre später, in einer Zeit da man seine Jugend durchforscht, um Rückschlüsse zu ziehen auf den Menschen, der man nun geworden ist, da stößt man wieder auf diese Dinge. Ich hatte ihn dann gefragt, vor ein paar Jahren, ob er je mit dem Onkel gesprochen habe, und sein Herumgedruckse war mir Antwort genug. Seitdem reden wir nur noch über Fußball und Mutters Tinnitus. Sein einziges Schuldeingeständnis besteht darin, dass er nie fragt, wann denn eigentlich mal Enkelkinder kommen«
Dann erzählte er mir, was sein Onkel mit ihm gemacht hatte. Schließlich winkte er dem verschwitzten Kellner zu, zahlte mit einem großen Schein ohne Trinkgeld zu geben, stand auf und reichte mir die Hand.
»Muss gehen, war nett. Schreib keinen Scheiß.«
Peter war weg, aber ich saß nicht alleine am Tisch. Etwas war dageblieben, eine Art akustischer Schatten, ein metallenes Surren, das alle Geräusche der Kneipe überlagerte. Es war die Präsenz seiner Geschichte, die für mich nun eine betastbare Vertiefung in der Raumzeit hinterlassen hatte.
Auf der Heimfahrt machte ich mir Gedanken, ob man den Artikel überhaupt schreiben sollte. Ich musste ständig an das denken, was Peter und auch die anderen erzählt hatten. Unwillkürlich begann ich meine Kindheit nach Vergleichbarem zu durchforsten, fand aber im ersten Moment nur eine beunruhigende, gleichmäßige Abfolge von Ereignissen, voller Normalität und Unspektakulärem. Dazwischen eine Menge Leerstellen. Und in diese Leerstellen sickerte langsam Peters Geschichte, füllte sie aus, veränderte sich dabei, bekam vertraute Konturen, vertraute Gesichter und Orte.
Ich ging nicht mehr in die Redaktion. Tagelang verkroch ich mich in meiner Wohnung, ließ das Telefon klingeln und ignorierte das Klopfen an der Tür. Unzählige Male nahm ich ein Buch zu Hand, ohne mehr als ein oder zwei Zeilen zu lesen. Die Worte und die Zahlen hatten ihre Wirkung verloren. Wie alte Backsteine zerfielen sie zu Staub und konnten nicht mehr das sein, was sie so lange waren.
Es ist egal, wurde mir klar, mit welcher Geschwindigkeit man beschließt durchs Leben zu gehen, es gibt immer etwas, das einen Schritt schneller ist. Wenn du stehen bleibst und ruhig verharrst, so wie ich es gemacht hatte, in der Hoffnung, es rennt einfach an dir vorbei, dann brauchst du nur lange genug zu warten, und es ist wieder da.
Stehenbleiben ist keine Lösung. Man muss einfach versuchen schneller zu sein. Immer einen Schritt schneller.
Als ich das erkannte, packte ich meine Koffer und verließ das Land.
Warum ich jetzt diese alte Geschichte erzähle? Nun, ich habe gerade Dr. Brenner-Menier getroffen. Hier im Paradise Fun Park auf Vancouver Island, wo ich schon seit dem Frühjahr im Sea Shell Motel als Kellner arbeite. Ganz unverändert sah er aus, der lange Schlaks mit den Klavierspielerhänden. Ich sprach ihn an und es schien ihm beinahe Leid zu tun, dass er mich völlig vergessen hatte. Ich fragte nach Peter. An Peter konnte er sich erinnern, traurige Sache. Scheidung, Alkohol, irgendwas mit der Polizei, Depressionen. Lebt jetzt in Düsseldorf, so eine Art betreutes Wohnen für psychisch Kranke. Ja, er werde ihn schön grüßen.
Ich werde wieder weggehen, vielleicht in den Süden, Mexiko oder Guatemala. Nur keine Konstante mehr in das Leben bringen. Die Konstante ist es, die dein Leben beherrscht. Es ist die Melodie, die man dir als Kind vorgesungen hat. Sie wird dich immer und überall hin begleiten. Das, so scheint es mir, ist es, dem Menschen wie Peter nicht entfliehen können. Die vorgegebene Melodie ihres Lebens, die in stakkatohafter Tonfolge den frühen Verlust der inneren Heimat besingt.
In den Jahren 1986 und 1987 arbeitete ich für die Zeitung von Neustadt, einer kleinen Stadt im Taunus. Man hatte mich dort angestellt, um die Buchhaltung und andere Büroarbeiten zu machen. Aufgrund des Personalmangels wurde ich von Charlie jedoch auch als Feierabendreporter eingesetzt, der fleißig das Kinoprogramm der nächsten zwei Wochen recherchierte, auf Schüleraustauschfeten pickelige Studenten interviewte und unzählige Samstagabende auf Vereinsfeiern verbrachte, deren nachrichtentechnische Aufarbeitung einen eher kleinen Platz in dem Lokalteil des Blattes einnahm. Einen Buchhalter brauchte Charlie nur, weil er sein Geld hauptsächlich mit einer großen Buch- und Schreibwarenhandlung verdiente. Seine Leidenschaft aber gehörte der Neustädter Zeitung, Ableger des Wiesbadener Kuriers und, bis auf den Lokalteil, mit diesem identisch.
Neustadt ist so ein Ort, den keiner kennen würde, läge er nicht direkt an der Autobahn zwischen Frankfurt und Köln. Es passierte hier seit der Überschwemmung 1954, bei der die ganze Altstadt zwei Meter unter Wasser stand, nichts mehr Außergewöhnliches. Bis zu jenem Tag im August siebenundachtzig.
Es war am späten Nachmittag. Ich saß schon seit Stunden in der Kanzlei unseres Steuerberaters, um mit ihm den Jahresabschluss vorzubereiten, als das Telefon klingelte. Es war Charlie, der mich aus dem Hörer heraus anschrie, ich solle sofort in die Redaktion kommen. Alarmstufe Rot. Also sprang ich in meinen orangefarbenen Käfer 1300 und düste durch die engen Altstadtgassen ins Büro.
Als ich ankam, saßen Lolle der Fotograf, unsere zwei Praktikantinnen und Charlie um den runden Konferenztisch und redeten aufgeregt durcheinander. Charlie bemerkte mich und begann sofort zu erzählen:
Am Morgen war die sechzehnjährige Tochter des Bürgermeisters in die Polizeiwache in der Gerichtsstraße hineinmarschiert und hatte gesagt, sie wolle ihren Vater anzeigen. Wegen Vergewaltigung. Die Polizisten waren zunächst etwas ratlos. Also tippten sie erst einmal einen Bericht auf ihrer alten Adler zusammen. Sagten ihr, sie müsse das unterschreiben. Ohne ihn zu lesen, setzt das Mädel ihren Namen unter den Wisch, zog eine Pistole aus ihrer Jackentasche und schoss sich in den Kopf. Als man daraufhin den Vater verhörte, gestand dieser, über Jahre hinweg seine Tochter missbraucht zu haben.
Charlie machte gar nicht erst den Versuch zu verbergen, wie sehr ihn dieses Ereignis erfreute. Endlich passierte mal was jenseits der Bankenmetropole und diesseits der Pappnasen vom Rhein. Endlich zuckten die Blitze mal nicht von einer Seite des Horizonts zur anderen, sondern fuhren mit allem Krachen und Zischen direkt in die trockene Scheune vor unserer Nase und entzündeten alles in einem hellen Feuerschein. Seine Aknenarben wechselten ständig die Farbe, und Lolle rauchte so angestrengt, dass die Kippe in seinem Mund erigierte wenn er daran zog. Für mich klang das alles sehr dramatisch, als ob aufgrund unkontrollierter Privatentnahmen das Eigenkapital auf die Aktivseite der Bilanz gewandert war, sagte aber nichts. Sie müssen wissen, ich war damals genau, wie man sich einen richtigen Buchhalter vorstellt: Klamotten so modern wie Omas Schirmlampe, introvertiert, behaglich eingerichtet in einer Welt aus Zahlen und Tabellen. Jemand, der seinen Feierabend mit Büchern über Mathematik und Astronomie verbrachte, der Eltern und Freunde verlassen hatte, um endlich ungestört seinen Schrullen zu frönen, unfähig sich auf längere Beziehungen einzulassen, weil diese irgendwie immer an den täglichen Banalitäten zugrunde gingen, über die er sich keinerlei Gedanken machen und erst recht nicht reden wollte.
Charlie sprach. Charlie war der Chef. Wurde auf einmal wütend, als er erzählte, dass alle schon da waren: die Bild, die Frankfurter, die Wiesbadener, nichts für uns, alles vom Haupthaus aus geregelt.
Was wir hier dann machen, fragte Lolle und Charlie wurde wild. Was wohl? Die Knochen abnagen. Der Kadaver war ja schon gefressen.
Für mich hatte Charlie eine Spezialaufgabe: »Schau mal nach Selbsthilfegruppen«, sagte er. »Ich will irgendwas über Selbsthilfegruppen bei Kindesmissbrauch. So was muss es doch geben. Gibt’s doch für alles. Wie für die Alkoholiker.«
Später saß ich wieder in meinem Käfer und fuhr heim. Selbsthilfegruppen. Eine Selbsthilfegruppe waren für mich Primzahlen, oder vielleicht, ums mal ein bisschen zu komplizieren, Bedeckungsveränderliche. Ich will nicht sagen, dass Sex für mich unwichtig gewesen wäre. Er war einfach nur nicht der Rede wert. Sex hatte man und vergaß es wieder. Aber dass hier ein Vater seine Tochter vergewaltigt hatte und sie sich daraufhin erschossen hatte, löste in mir ein eigenartiges Brennen aus, ein Unbehagen, von dem ich mich fragte, ob es noch eine andere Ursache haben könnte. Ich versagte mir allerdings längeres Nachdenken und beschäftigte mich den Rest des Abends mit einem tausendseitigen Buch über die erste Nanosekunde nach dem Urknall.
Dann, ich hatte einen Tag lang lustlos herumtelefoniert, aber außer dem ein oder anderen teilnahmsvollen Seufzer irgendwelcher Psychologen aus dem Rhein-Main-Gebiet nichts erreichen können, warf mir Charlie eine Adresse auf den Schreibtisch und sagte: »Ruf den an, der ist in dem Thema voll drin. Ne Korophäe.«
Koryphäe, dachte ich. Ich hatte ja wirklich noch eine Menge Wichtiges zu tun und nun sollte ich mich, ein Blick auf den Zettel verriet es mir, mit einem Dr. Brenner-Menier in Köln treffen. Ich lief Charlie hinterher in sein Büro.
»Ja was denn?«
»Ja was wohl, was soll das, Köln! Ich mach gerade den Jahresabschluss. Der Steuerberater kommt...« weiter konnte ich nicht sprechen. Charlie machte sein typisches Charliegesicht mit grotesken Verformungen seiner fleischigen Wangen und der wulstigen Stirn und sprach vom Supergau auf lokalpolitischer Ebene, da sei ein Jahresabschluss so interessant wie ein totgefahrener Igel auf der B 275. Lolle und die Praktikantinnen brauche er vor Ort, deswegen sei mein Arsch nach Köln zu bewegen, damit ich dort mit dem Doktor spräche - über den Erfolg von Selbsthilfegruppen. Was er wolle, seien Infos über die Möglichkeiten, die sich für Missbrauchsopfer auftun, um Erleichterung zu finden. Er sprach davon, als gäb´s die hier an jeder Straßenecke, diese Opfer.
»Ruf den Doktor an und mach einen Termin aus. O.K.? Der wird dir schon weiter helfen.«
Dr. Brenner-Menier war ein groß gewachsener Mann, extrem dünn und mit langen Fingern, deren leicht verdickte Kuppen an die Hände von einem Konzertpianisten erinnerten. Er war sehr freundlich und hatte eine tiefe, fast einschläfernde Stimme.
Ja, er habe davon gehört, was passiert sei, in Neuhof, Neuburg ... »Neustadt.« »Ach ja danke, Neustadt. Erschütternd, aber nicht ungewöhnlich. Ganz und gar nicht. Wut richtet sich immer gegen andere und gleichzeitig«, er betonte das Wort `gleichzeitig´, indem er mit seinem Zeigefinger eine Delle in die Luft drückte, »gegen sich selbst. Und der Wut auf sich selbst kann man viel leichter Ausdruck verleihen, als derjenigen auf eine andere Person, verstehen Sie? Deswegen der Selbstmord, die Selbstverstümmelungen und all das. Der Schlüssel ist die Wut. Wut und auch Ohnmacht, aber das geht Hand in Hand. Was wollen Sie nun eigentlich?«
»Selbsthilfegruppen.«
»Ja?«
»Naja, vielleicht mal mit dem ein oder anderen sprechen. Fragen, ob´s was hilft. Es geht ja ums Helfen, nicht?«
»Sind Sie Reporter?«
»Oh, nein, Buchhalter, aber eben auch ein bisschen soetwas wie ein Reporter. Mach ansonsten das Kinoprogramm und Interviews bei den Spielen der TSG Neustadt in der B-Klasse Untertaunus-Ost.«
»Wieso schickt mir Charlie seinen Buchhalter? Er sagte, es wäre so wichtig, aber ...«
»Hören Sie, Charlie meint, dass es vielleicht noch mehrere gibt mit dem gleichen Problem, und er will darauf aufmerksam machen, wo und wie man Hilfe finden kann. Der Dunkelziffer zeigen, wo der Lichtschalter ist, hat er gesagt.«
Jetzt lachte der lange Doktor und klatschte seine Kunstwerke von Händen auf die Lehne des Ledersessels.
»Sie sind witzig. Aber haben Recht. Ich sag Ihnen was. In zwanzig Jahren wird dieses Thema wie kein anderes in den Köpfen der Leute sein. Politiker werden stürzen, Konzerne zerbrechen, weil die Zeit kommt, in der die Opfer ihr Schweigen brechen. Zumindest hoffe ich das.«
Ich nickte eifrig.
»Gut«, sagte der Doktor, der nun sehr guter Laune zu sein schien, »was wollen Sie wissen?«
»Charlie meinte, ob man nicht mal mit jemanden reden könnte, der in so einer Selbsthilfegruppe ist. Fragen, ob es ihnen was bringt.«
»Natürlich bringt es was. Zu reden bringt immer was. Gehen Sie mal zu ihrem Nachbarn und sagen Sie: Hallo-ho, ich bin missbraucht worden`. Meinen Sie, der hört ihnen zu? Nein, der dreht sich um und geht, weil er gar nicht weiß, was er damit anfangen soll. Selbst die Eltern wissen es nicht. Wissen Sie, was passiert, wenn ein Kind seinen Eltern erzählt, dass es vom lieben Onkel Fritz oder manchmal sogar von der lieben Tante Frieda oder vom lieben Stiefpapa auf eine Art angefasst wurde, die ihm ein bisschen komisch vorkam?«
»Ich würde es gerne mal von einem Betroffenen hören.«, sagte ich. Ganz einfache Rechnung, dachte ich. Den kleinsten gemeinsamen Nenner finden, den Betroffenen selbst. Der Doktor war ein immer noch teilbarer Bruch.
Er wirkte ein wenig indigniert.
»Junger Mann«, hob er an und formte aus seinen Fingern ein Zelt, das er vor seinem schmallippigen Mund aufbaute. »Die werden nicht unbedingt mit Ihnen reden wollen. Die sind in einer solchen Gruppe, weil sie eben nicht mit anderen reden wollen, sondern nur mit ihresgleichen. Da stoßen sie nämlich auf Verständnis, nicht bei irgendwelchen Zeitungen. Pardon.«
»Sie betreuen solche Gruppen?«
»Ja, alles meine Patienten, und ich bin stolz auf die Fortschritte.«
»Ja, darum geht’s doch, um die Fortschritte. Charlie will ja keine Sensationsstory. Die Fortschritte interessieren ihn. Also, mal so ein Gespräch mit dem ein oder anderen, was es ihm gebracht hat sich jemanden zu öffnen. Keine Fallbeispiele, die liest man momentan überall. Wir wollen, dass jemand, dem das Gleiche passiert ist, weiß was er tun kann.«
»Sie schreiben den Artikel?«
»Nein, nur ein bisschen unterstützen, bin ja ...«
»Der Buchhalter.«
»Genau.«
»Ich werde sehen, was ich machen kann. Ich rede mit den Leuten aus den Gruppen und wenn einer bereit ist was zu erzählen, sag ich Ihnen Bescheid. Eine Woche wird’s aber dauern.«
Er schüttelte meine Hand, die er fest umgriff wie eine Nektarine, um den Saft rauszupressen.
»Schulen sie doch um auf Reporter, ist doch interessanter als nur am Schreibtisch zu hocken, da kommt man wenigstens unter Menschen.«
Ich schaute auf meine rot gefleckte Hand und sagte was von Schreibtische können ganz angenehme Zeitgenossen sein. Niemand, dachte ich beim Hinausgehen, ist je von seinem Schreibtisch missbraucht worden, da muss man schon unter Menschen gehen.
Er rief mich drei Tage später an und sagte, fünf aus der Gruppe hätten sich bereit erklärt mit mir zu reden. Keine Namen, keine Fotos, kein Tonband. Mit der Option jederzeit zu gehen und eine saftige Spende für eine gemeinnützige Organisation.
»Alles klar, wann?«
»Morgen?«
»Morgen.«
Mein Käfer verreckte kurz vor Königswinter und während der ADAC den Kadaver entsorgte, fuhr ich den Rest der Strecke mit der Bahn. Wir trafen uns bei Doktor Brenner-Menier in der Praxis. Ich war mit dem Doktor der Erste. Dann kamen Susanne und Martina, Karin und Peter und als letzter Thomas. Als sich alle gesetzt hatten, bot Doktor Brenner-Menier Tee, Kaffee und Cola an, dazu ein paar Kekse und Chips. Die Stimmung war irgendetwas zwischen Skepsis und Neugier, Ablehnung und Hoffnung. Der Doktor sagte ein paar Sätze über den Grund des Treffens und übergab mir das Wort. Ich erzählte kurz die Begebenheit von der Tochter unseres Bürgermeisters, und dass wir von der lokalen Zeitung gerne allen, die sich in einer ähnlichen Situation befänden, eine Hilfestellung geben wollten.
Zunächst, sagte Martina, solle ich doch mal was von mir erzählen. Ups, von mir. Ich war doch nicht ... aber gut, es ging um Vertrauen. Also erzählte ich ein wenig von meiner Arbeit und meiner stressfreien Beziehung zu Loga- und Algorithmen.
Allmählich löste sich die Spannung. Dann, angeregt durch ein paar gezielte Fragen des Doktors, begannen sie zu erzählen. Ich selbst sagte kaum etwas, blieb beim Sie um Abstand zu wahren und machte unleserliche Notizen. Alle, so hörte ich heraus, hatten sie versucht auf die ein oder andere Art über das Geschehene mit einem Elternteil, einem ihrer Geschwister oder einer anderen vertrauten Person zu reden, und überall erfuhren sie die gleiche ungläubige und verschämte Reaktion. Sie äußerten sich sehr positiv über den Doktor und die Arbeit in der Gruppe. Der Einzige, der sich kaum am Gespräch beteiligte, war Peter.
Nach ungefähr zwei Stunden meinte Doktor Brenner-Menier, dass ich wohl genug Informationen hätte, und beendete das Gespräch. Ich versprach allen einen Abzug des Artikel zuzuschicken, bevor er veröffentlicht würde.
Als sie gingen, blieb ich mit dem Doktor allein. Nicht lange allerdings. Peter kam zurück und fragte, ob ich nicht noch Lust hätte auf ein Kölsch. Er würde mich einladen. Erstaunt und erfreut nahm ich die Einladung an, verabschiedete mich vom Doktor und ging mit Peter in eine Kneipe in der Altstadt, wo sie zum Kölsch Erdnüsse reichten. Die Schalen wurden einfach auf den Boden geschmissen.
Wir setzten uns auf die Empore, in ein dunkles Eck. Peter bestellte gleich sechs Kölsch, die man uns kurz darauf in einem runden Aluständer auf den Tisch stellte.
»Ich hoffe, du glaubst nicht alles, was man dir heute erzählt hat.«, sagte Peter, nachdem er das erste Kölsch heruntergekippt hatte und nun fleißig Erdnussschalen auseinander bröselte.
»Wieso?«
»Naja, weil eben nicht immer alles so dramatisch ist. In unserer Situation ist man so auf sich selbst fixiert, da neigt man schnell zur Übertreibung.«
»So?« Das Erdnussbearbeiten erinnerte mich an das Glückskekseauseinanderfuzzeln beim Chinesen in Neustadt.
»Natürlich. Außerdem sind die Ereignisse in den meisten Fällen lange her und Erinnerungen nur selten so vertrauenswürdig, wie sie sich darstellen.«
»Sie meinen?«, fragte ich nun sichtlich erstaunt.
»Peter«, unterbrach er mich, »sag einfach Peter und schau mich nicht so an, als wäre ich behindert oder krebskrank. Mir geht es wunderbar und ich bin nur in dieser Gruppe, weil ich vor einiger Zeit den Fehler machte, meiner Frau zu erzählen, wie gerne mich mein Onkel als Kind hatte. Sie meint nun, dass ich so etwas brauche. Also, die Dinge sind nicht so, wie sie zu sein scheinen. Es ist oftmals nicht so schlimm oder manchmal viel schlimmer. Verstehst du? Wir sitzen zusammen und reden und sehen die Vergangenheit durch das beschlagene Fenster der Gegenwart. Die Versionen unterscheiden sich von Mal zu Mal. Was bleibt ist die Verletzung, die Narbe, die ihre Form und Farbe stetig ändert.«
Mittlerweile hatte er sein drittes Kölsch getrunken und nahm das nächste Röhrchen aus dem Ständer. Ich schaute ihn an und wartete darauf, dass er weiter redete, weil ich nicht wusste, was ich erwidern sollte.
»Du wunderst dich? Mir kommt es so vor, als wärst du ziemlich naiv. Das muss aber kein Nachteil sein. Die Naiven in der Welt sind besser, als diejenigen, die meinen auf alles eine Antwort zu haben. Wie unser lieber Doktor. Der hat immer eine Antwort. Nichts ist so dramatisch, dass es ihm die Sprache verschlagen würde. Aber vielen von denen, die da zwei Mal die Woche im Kreis sitzen, denen hat es die Sprache verschlagen. Eine Sprache aber, die nichts mit Reden zu tun hat, sondern mit der Art und Weise, wie sie mit der Welt kommunizieren. Sie haben sich zurückgezogen und öffnen nur diese zwei Mal die Woche den Mund, um in einen luftleeren Raum hineinzureden. Zum Glück umarmen wir uns nicht ständig oder machen irgendeinen sentimentalen Scheiß. Dann würde ich gehen. Mich interessieren die anderen im Grunde gar nicht und ich sie auch nicht. Vielleicht ist das die eigentliche Verletzung, dass man sich nur noch auf sich selbst konzentriert, sich herausnimmt aus dem Kontext des täglichen Lebens und nur noch denkt ‚die da’ und ‚ich’ und nicht mehr ‚wir’. Das heilt aber auch keine Gruppe und kein Gespräch. Die Sprachlosigkeit rührt daher, dass die, die eigentlich zuhören müssten, gar nicht da sind. So redet jeder mit jedem, aber eigentlich spricht man zu einem Phantombild, zu einem Hologramm in der Mitte des Kreises, das so stumm und ignorant ist wie die Wirklichkeit.«
Peter hatte braune Augen, die im dämmrigen Licht dunkel leuchteten. Er lispelte leicht, sprach aber fließend und mit großem Selbstbewusstsein. In seinem rechten Ohrläppchen steckte ein umgedrehtes Kreuz.
»Mit wem redest du?«, fragte ich.
»Mit meinem Vater, dabei ist es nicht mal gerecht, ihm eine zweite Chance zu geben, wo er die eine, die er hatte, nicht genutzt hat. Aber es ist ja nur....«
»Ein Phantom?«
»Ein Placebo, eine Medizin aus Luft und Vorstellung. Ob es wirklich was hilft, wer weiß? Es war mein Onkel, sein eigener Bruder. Das ist das Problem, verstehst du, diese Nähe, diese Vertrautheit, die ihn wohl daran hinderte zu verurteilen. Und zu handeln. Ich hatte lange gebraucht, um ihm davon zu erzählen. Erst nachdem ich so alt war, dass ich uninteressant wurde für meinen Onkel, als ich mich ihm verweigerte. Das sexuelle Selbstverständnis wächst eben mit den Jahren und es entstehen Kategorien, in die wir gewisse Handlungen einordnen. Man nennt das wohl Moral oder vielleicht ist es einfach ein naturgegebenes Empfinden. Damit geht jedenfalls ein gewisses Bewusstsein dessen, was einem widerfahren ist, einher. Aber in diesem Moment“, er hob sein Bierglas etwas in die Höhe und streckte den Zeigefinger zu Seite, „ist die Schuldfrage noch ganz klar. Mir ist etwas passiert. Jemand hat mit mir etwas gemacht, das nicht richtig ist. In diesem Moment! Naja, und dann gehst du hin zu demjenigen, dem du am meisten vertraust, demjenigen, der dir eigentlich noch näher steht, als du dir selbst. Und du erzählst ihm, was dir widerfahren ist. Erlebst es nochmals, öffnest dich auf eine Weise, wie du es in deinem Leben nie wieder tun wirst. Du lässt diese Person deines Vertrauens daran teilhaben, sie zuschauen, in der Hoffnung, dass sie einschreitet. Vielleicht erwartet man zu viel. Dass es ungeschehen gemacht wird, ausgetilgt, verbrannt. Aber es geschieht nichts dergleichen. Genau in diesem Augenblick, mein Freund, wird aus dem Opfer der Täter, weil die Opferrolle übergeht auf den Vater oder die Mutter oder eben denjenigen, dem man sich anvertraut. Plötzlich ist nämlich er der Missbrauchte, du siehst, wie seine Gesichtszüge sich verändern, als hätte man vor ihm ein faules Stück Fleisch ausgebreitet und würde ihn zwingen, es zu essen. Dieser Abscheu, der seine Augen glänzen, der die Pupillen umherirren lässt. Die Arme, die er steif in die Rückenlehne presst, die Hände flach auf das Polster gedrückt, der Mund, der sich ein wenig spitzt, dabei die Lippen kräuselt, die Farbe, die aus den Ohren und der Nasenspitze weicht, das alles in Bruchteilen einer Sekunde, nachdem man fertig gesprochen hat, ist des Missbrauchs zweiter Teil. Erst jetzt erwacht in einem das Gefühl schuldig zu sein, weil man merkt, wie das, was einem bisher als uneinnehmbare Trutzburg vorkam, von einem weicht, sich verschließt. Man kann es nur so verstehen, als Kind, als Jugendlicher. Fortan ist der Vater der Missbrauchte, windet sich in dem Schmerz, den ich ihm angetan habe, schlägt mir seine Ohnmacht um die Ohren und aus jede Pore trieft der Zweifel. Das Schweigen, das lange, das jahrelange Schweigen zaubert dann das Vergessen herbei, eine ungemütliche Erleichterung, eine tektonische Verwerfung, verborgen unter der Gemütlichkeit des trauten Heims. Und völliges Unverständnis für kommende Rebellionen. Er hatte mir damals gesagt, er werde mit dem Onkel reden, und Jahre später, in einer Zeit da man seine Jugend durchforscht, um Rückschlüsse zu ziehen auf den Menschen, der man nun geworden ist, da stößt man wieder auf diese Dinge. Ich hatte ihn dann gefragt, vor ein paar Jahren, ob er je mit dem Onkel gesprochen habe, und sein Herumgedruckse war mir Antwort genug. Seitdem reden wir nur noch über Fußball und Mutters Tinnitus. Sein einziges Schuldeingeständnis besteht darin, dass er nie fragt, wann denn eigentlich mal Enkelkinder kommen«
Dann erzählte er mir, was sein Onkel mit ihm gemacht hatte. Schließlich winkte er dem verschwitzten Kellner zu, zahlte mit einem großen Schein ohne Trinkgeld zu geben, stand auf und reichte mir die Hand.
»Muss gehen, war nett. Schreib keinen Scheiß.«
Peter war weg, aber ich saß nicht alleine am Tisch. Etwas war dageblieben, eine Art akustischer Schatten, ein metallenes Surren, das alle Geräusche der Kneipe überlagerte. Es war die Präsenz seiner Geschichte, die für mich nun eine betastbare Vertiefung in der Raumzeit hinterlassen hatte.
Auf der Heimfahrt machte ich mir Gedanken, ob man den Artikel überhaupt schreiben sollte. Ich musste ständig an das denken, was Peter und auch die anderen erzählt hatten. Unwillkürlich begann ich meine Kindheit nach Vergleichbarem zu durchforsten, fand aber im ersten Moment nur eine beunruhigende, gleichmäßige Abfolge von Ereignissen, voller Normalität und Unspektakulärem. Dazwischen eine Menge Leerstellen. Und in diese Leerstellen sickerte langsam Peters Geschichte, füllte sie aus, veränderte sich dabei, bekam vertraute Konturen, vertraute Gesichter und Orte.
Ich ging nicht mehr in die Redaktion. Tagelang verkroch ich mich in meiner Wohnung, ließ das Telefon klingeln und ignorierte das Klopfen an der Tür. Unzählige Male nahm ich ein Buch zu Hand, ohne mehr als ein oder zwei Zeilen zu lesen. Die Worte und die Zahlen hatten ihre Wirkung verloren. Wie alte Backsteine zerfielen sie zu Staub und konnten nicht mehr das sein, was sie so lange waren.
Es ist egal, wurde mir klar, mit welcher Geschwindigkeit man beschließt durchs Leben zu gehen, es gibt immer etwas, das einen Schritt schneller ist. Wenn du stehen bleibst und ruhig verharrst, so wie ich es gemacht hatte, in der Hoffnung, es rennt einfach an dir vorbei, dann brauchst du nur lange genug zu warten, und es ist wieder da.
Stehenbleiben ist keine Lösung. Man muss einfach versuchen schneller zu sein. Immer einen Schritt schneller.
Als ich das erkannte, packte ich meine Koffer und verließ das Land.
Warum ich jetzt diese alte Geschichte erzähle? Nun, ich habe gerade Dr. Brenner-Menier getroffen. Hier im Paradise Fun Park auf Vancouver Island, wo ich schon seit dem Frühjahr im Sea Shell Motel als Kellner arbeite. Ganz unverändert sah er aus, der lange Schlaks mit den Klavierspielerhänden. Ich sprach ihn an und es schien ihm beinahe Leid zu tun, dass er mich völlig vergessen hatte. Ich fragte nach Peter. An Peter konnte er sich erinnern, traurige Sache. Scheidung, Alkohol, irgendwas mit der Polizei, Depressionen. Lebt jetzt in Düsseldorf, so eine Art betreutes Wohnen für psychisch Kranke. Ja, er werde ihn schön grüßen.
Ich werde wieder weggehen, vielleicht in den Süden, Mexiko oder Guatemala. Nur keine Konstante mehr in das Leben bringen. Die Konstante ist es, die dein Leben beherrscht. Es ist die Melodie, die man dir als Kind vorgesungen hat. Sie wird dich immer und überall hin begleiten. Das, so scheint es mir, ist es, dem Menschen wie Peter nicht entfliehen können. Die vorgegebene Melodie ihres Lebens, die in stakkatohafter Tonfolge den frühen Verlust der inneren Heimat besingt.