Doktor, was meinen Sie mit "Ersatzbefriedigung"?
Verfasst: 19.11.2007, 11:42
Sie ist bunt besetzt, die Podiumsdiskussion. Der Pfarrer, leicht steif eingesesselt, beugt sich vor: "Da haben Sie ein gutes Beispiel genannt. Dem besagten armen Menschen mangelt es nämlich an richtigen Glückserlebnissen, also greift er zur Ersatzbefriedigung. Er kauft sich materielle Güter, etwa eine neue Uhr, oder einen Blumenstrauß."
"Das bestreite ich keineswegs", meldet der Neurobiologe zurück, "der Kauf stellt eine Belohnung dar, dabei werden Glückshormone ausgeschüttet, der Mensch freut sich. Er ist befriedigt. Wenn auch nicht vollkommen befriedigt. Der Geist strebt nach höherem."
"Eben. Befriedigt nur für kurze Zeit", entgegnet der Pfarrer, "der Trieb wird bald eine weitere Belohnung verlangen, und so fort. Es wird eine Ersatzbefriedigung nach der anderen folgen."
Dem Moderator leuchtet seine erste Zwischenfrage auf. Er ist ein echter Orang-Utan aus dem städtischen Zoo. Er trägt Anzug und Krawatte. Erstaunlicherweise spricht er deutsch: "Herr Pfarrer, Sie reden von Trieb und Ersatzbefriedigung. Kann es ein Leben ohne solche Qualitäten überhaupt geben?"
Des Pfarrers Gesicht biegt sich zu einem sanften alterfahrenen Lächeln: "Das Leben erfüllt sich ganz durch unseren Herrgott. Wenn dies in aller Vollkommenheit stattfindet, erübrigt sich die Frage nach der Ersatzbefriedigung. Das ist ja der Clou an der Sache."
Der Neurobiologe, er ist Atheist, schiebt seine rechte Wange nach oben und kneift damit ein Auge zu; mit diesem asymmetrischen Zweifelsblick gibt er zu Bedenken: "Aber da verschieben Sie doch nur die Frage, Herr Pfarrer. Auch Sie haben Ihre Ersatzbefriedigung. In dem Fall eben durch Rituale und Genüsse religiöser Art."
"Wenn ich auch mal etwas anmelden dürfte", Zeigefinger hebend mischt sich die sehnige Marathonläuferin ein, "ist Ihnen beiden eigentlich aufgefallen, dass Sie ständig von abstrakten Qualitäten reden, von Kaufrausch und Gottesrausch. Ich weiß ja nicht, was für eine Befriedigung Sie anstreben, aber wo bleibt das Leibhaftige? Der leibhaftige Motor selbst? Der Leib ist zum Bewegen da. Wenn er steif ist, lebt er nicht mehr. Die Natur besteht doch auch aus Fleisch, fleischene Füße auf Mutters Erde. Außerdem: Warum stehen Sie so abwertend Gütern gegenüber? Ein Dach über dem Kopf, ein Mantel, Werkzeuge, Nahrung -- das sind Güter. Deren Beschaffung und die einhergehende belohnende Befriedigung ist doch völlig natürlich. Das ist nicht krank. Krankheit ist sowieso Definitionssache. Wo war ich stehen geblieben? Der Motor. Und die Nahrung. Bewegung bedeutet Nahrungsbeschaffung. Auch Kinderzeugung. Das alles soll niedriger Ersatz für etwas intellektuell höheres sein? Das Gegenteil ist der Fall. Bloßes Herumsitzen ist kein Leben. Ich will Ihnen etwas sagen, verehrte Geisteswissenschaftler, eigentlich ist der bewegte Leib die wahre Befriedigung. Ersatzbefriedigung ist alles andere!"
"Hm, nun können wir uns gegenseitig vorwerfen, welche Befriedigung die wahre, welche nur Ersatz sei", fasst der Moderator nachdenklich zusammen. Er bohrt dabei genüsslich im Ohr und wischt den Schmalz unter dem Sessel ab. Er ist übrigens der einzige Orang-Utan in der Runde. Die anderen Teilnehmer sind menschlicher Abstammung.
Die zweite Dame in der Runde, in gelassener Sitzpose, behangen in schwarzen Gothic-Klamotten, denkt laut: "Wenn alles Ersatzbefriedigung ist, warum nicht gleich alles kurzum Befriedigung nennen? Wofür denn Ersatz? Ersatz des Ersatzes vom Ersatz? Dann wäre das ganze Leben bloß Ersatz. Verbal ergibt das keinen Sinn. Oder doch? Dann so: Ersatz für den Tod! Demnach wäre der Tod die Hauptbefriedigung, das Leben nur Ersatzbefriedigung."
"Interessante Überlegung. Die Lackstiefel stehen Ihnen übrigens gut. Also, der Tod als Hauptbefriedigung, sagen Sie. Gut, aber lassen Sie uns das präzisieren: Hauptbefriedigung ist nicht der Tod, sondern das Sterben. Und damit kann Ihre Überlegung erstaunlich untermauert werden: Es ist nachweislich so, dass im Moment des Sterbens Glückshormone ausgelöst werden, der Sterbende ist in dieser letzten Phase geradezu euphorisch. -- Das muss eine unglaublich schöne Befriedigung sein, auch für Spartaner und sonstige Abstinenzler." Während der Neurobiologe seinen Satz beendet, neigt er sein silberhaariges Haupt andächtig hoch in Richtung Podiumsscheinwerfer und spitzt seine Lippen zu einem Kuss, was aber keiner ist, es ist Grübelstarre.
"Ich würde nicht alles auf das Todesziel reduzieren. Das Sterben nimmt einen extrem kurzen Abschnitt ein im Leben. Die Wechselspannung aus Befriedigung und Unbefriedigung ist der Motor in einem langen Leben. Wie zwei Beine. -- So denn, Herr Moderator, buntes Podium, was missionieren wir uns untereinander, was genau gestatten wir uns gegenseitig, mit all unseren unterschiedlichen Bedürfnissen? Ich finde, alles, was dem anderen nicht signifikant schadet, sollte erlaubt sein, jedem Faible sein Fetisch: Kruzifix, Altar, Schmuck, Herd, Geld, Brust, Keks, Musik, Buch, Blumenstrauß ... und mir die grüne Wiese und die frische Luft für den Dauerlauf. Weg mit den Wertungen."
"Was würdet ihr Menschen eigentlich machen, wenn ihr tatsächlich jeglichen Trieb radikal wegkontrollieren könntet, und so nach keinerlei Befriedigung trachten müsstet? Was würde euch noch antreiben, Göttliches oder Ungöttliches genießen zu wollen, beziehungsweise Sex, Schokolade, Sport haben oder tauschen zu wollen? Was, ohne diese Qualitäten aus Trieb und Befriedigung, bliebe dann noch übrig? Wenn ihr keine Bedürfnisse hättet, fänden dann noch Erlebnisse statt?", fragt der vermittelnde Menschenaffe, er starrt jetzt apathisch in die Ferne, knapp über die Köpfe des Publikums hinweg.
"Ich weiß nicht. Jedenfalls stelle ich fest: Befriedigungen sind niemals Ersatzbefriedigungen. Jede Befriedigung ist eine Hauptbefriedigung."
"Verzeihung, ... jetzt habe ich nicht aufgepasst. Wer sagte das eben?"
"Das bestreite ich keineswegs", meldet der Neurobiologe zurück, "der Kauf stellt eine Belohnung dar, dabei werden Glückshormone ausgeschüttet, der Mensch freut sich. Er ist befriedigt. Wenn auch nicht vollkommen befriedigt. Der Geist strebt nach höherem."
"Eben. Befriedigt nur für kurze Zeit", entgegnet der Pfarrer, "der Trieb wird bald eine weitere Belohnung verlangen, und so fort. Es wird eine Ersatzbefriedigung nach der anderen folgen."
Dem Moderator leuchtet seine erste Zwischenfrage auf. Er ist ein echter Orang-Utan aus dem städtischen Zoo. Er trägt Anzug und Krawatte. Erstaunlicherweise spricht er deutsch: "Herr Pfarrer, Sie reden von Trieb und Ersatzbefriedigung. Kann es ein Leben ohne solche Qualitäten überhaupt geben?"
Des Pfarrers Gesicht biegt sich zu einem sanften alterfahrenen Lächeln: "Das Leben erfüllt sich ganz durch unseren Herrgott. Wenn dies in aller Vollkommenheit stattfindet, erübrigt sich die Frage nach der Ersatzbefriedigung. Das ist ja der Clou an der Sache."
Der Neurobiologe, er ist Atheist, schiebt seine rechte Wange nach oben und kneift damit ein Auge zu; mit diesem asymmetrischen Zweifelsblick gibt er zu Bedenken: "Aber da verschieben Sie doch nur die Frage, Herr Pfarrer. Auch Sie haben Ihre Ersatzbefriedigung. In dem Fall eben durch Rituale und Genüsse religiöser Art."
"Wenn ich auch mal etwas anmelden dürfte", Zeigefinger hebend mischt sich die sehnige Marathonläuferin ein, "ist Ihnen beiden eigentlich aufgefallen, dass Sie ständig von abstrakten Qualitäten reden, von Kaufrausch und Gottesrausch. Ich weiß ja nicht, was für eine Befriedigung Sie anstreben, aber wo bleibt das Leibhaftige? Der leibhaftige Motor selbst? Der Leib ist zum Bewegen da. Wenn er steif ist, lebt er nicht mehr. Die Natur besteht doch auch aus Fleisch, fleischene Füße auf Mutters Erde. Außerdem: Warum stehen Sie so abwertend Gütern gegenüber? Ein Dach über dem Kopf, ein Mantel, Werkzeuge, Nahrung -- das sind Güter. Deren Beschaffung und die einhergehende belohnende Befriedigung ist doch völlig natürlich. Das ist nicht krank. Krankheit ist sowieso Definitionssache. Wo war ich stehen geblieben? Der Motor. Und die Nahrung. Bewegung bedeutet Nahrungsbeschaffung. Auch Kinderzeugung. Das alles soll niedriger Ersatz für etwas intellektuell höheres sein? Das Gegenteil ist der Fall. Bloßes Herumsitzen ist kein Leben. Ich will Ihnen etwas sagen, verehrte Geisteswissenschaftler, eigentlich ist der bewegte Leib die wahre Befriedigung. Ersatzbefriedigung ist alles andere!"
"Hm, nun können wir uns gegenseitig vorwerfen, welche Befriedigung die wahre, welche nur Ersatz sei", fasst der Moderator nachdenklich zusammen. Er bohrt dabei genüsslich im Ohr und wischt den Schmalz unter dem Sessel ab. Er ist übrigens der einzige Orang-Utan in der Runde. Die anderen Teilnehmer sind menschlicher Abstammung.
Die zweite Dame in der Runde, in gelassener Sitzpose, behangen in schwarzen Gothic-Klamotten, denkt laut: "Wenn alles Ersatzbefriedigung ist, warum nicht gleich alles kurzum Befriedigung nennen? Wofür denn Ersatz? Ersatz des Ersatzes vom Ersatz? Dann wäre das ganze Leben bloß Ersatz. Verbal ergibt das keinen Sinn. Oder doch? Dann so: Ersatz für den Tod! Demnach wäre der Tod die Hauptbefriedigung, das Leben nur Ersatzbefriedigung."
"Interessante Überlegung. Die Lackstiefel stehen Ihnen übrigens gut. Also, der Tod als Hauptbefriedigung, sagen Sie. Gut, aber lassen Sie uns das präzisieren: Hauptbefriedigung ist nicht der Tod, sondern das Sterben. Und damit kann Ihre Überlegung erstaunlich untermauert werden: Es ist nachweislich so, dass im Moment des Sterbens Glückshormone ausgelöst werden, der Sterbende ist in dieser letzten Phase geradezu euphorisch. -- Das muss eine unglaublich schöne Befriedigung sein, auch für Spartaner und sonstige Abstinenzler." Während der Neurobiologe seinen Satz beendet, neigt er sein silberhaariges Haupt andächtig hoch in Richtung Podiumsscheinwerfer und spitzt seine Lippen zu einem Kuss, was aber keiner ist, es ist Grübelstarre.
"Ich würde nicht alles auf das Todesziel reduzieren. Das Sterben nimmt einen extrem kurzen Abschnitt ein im Leben. Die Wechselspannung aus Befriedigung und Unbefriedigung ist der Motor in einem langen Leben. Wie zwei Beine. -- So denn, Herr Moderator, buntes Podium, was missionieren wir uns untereinander, was genau gestatten wir uns gegenseitig, mit all unseren unterschiedlichen Bedürfnissen? Ich finde, alles, was dem anderen nicht signifikant schadet, sollte erlaubt sein, jedem Faible sein Fetisch: Kruzifix, Altar, Schmuck, Herd, Geld, Brust, Keks, Musik, Buch, Blumenstrauß ... und mir die grüne Wiese und die frische Luft für den Dauerlauf. Weg mit den Wertungen."
"Was würdet ihr Menschen eigentlich machen, wenn ihr tatsächlich jeglichen Trieb radikal wegkontrollieren könntet, und so nach keinerlei Befriedigung trachten müsstet? Was würde euch noch antreiben, Göttliches oder Ungöttliches genießen zu wollen, beziehungsweise Sex, Schokolade, Sport haben oder tauschen zu wollen? Was, ohne diese Qualitäten aus Trieb und Befriedigung, bliebe dann noch übrig? Wenn ihr keine Bedürfnisse hättet, fänden dann noch Erlebnisse statt?", fragt der vermittelnde Menschenaffe, er starrt jetzt apathisch in die Ferne, knapp über die Köpfe des Publikums hinweg.
"Ich weiß nicht. Jedenfalls stelle ich fest: Befriedigungen sind niemals Ersatzbefriedigungen. Jede Befriedigung ist eine Hauptbefriedigung."
"Verzeihung, ... jetzt habe ich nicht aufgepasst. Wer sagte das eben?"