Innerer Monolog

Der Publicus ist die Präsentationsplattform des Salons. Hier können Texte eingestellt werden, bei denen es den Autoren nicht um Textarbeit geht. Entsprechend sind hier besonders Kommentare und Diskussionen erwünscht, die über bloßes Lob oder reine Ablehnungsbekundung hinausgehen. Das Schildern von Leseeindrücken, Aufzeigen von Interpretationsansätzen, kurz Kommentare mit Rezensionscharakter verleihen dem Publicus erst seinen Gehalt
wonigo

Beitragvon wonigo » 02.03.2008, 21:01

Das ist die Geschichte, die letztendlich zum Preis der Bundesregierung für Behinderte geführt hat. Sie wurde mehrfach veröffentlicht und ist auf einer Audio-CD enthalten, gesprochen von der Schauspielerin Ruth Geiersberger.
Ich wollte euch den Text mal vorstellen. Wenn es gewünscht wird, kann ich die CD-Fassung einspielen.
Textbearbeitung ist nicht vorgesehen, aber eure Meinung würde mich schon sehr interessieren.
Wolfgang


Vom Duden abweichende Schreibweise ist beabsichtigt


Innerer Monolog

Innere Monologe
verweigern sich den Ohren
sind nur
mit dem Herzen hörbar

Die Mamma hat gesagt – Mark – hat die Mamma gesagt – lauf mal schnell zu Pappa in den Dicken Krug. Und da soll ich sagen – der Pappa soll nach Hause kommen – gleich – weil – der Herr Eckart ist da – wegen der Heizung – und der Pappa soll gleich nach Hause kommen.
Hat die Mamma gesagt.
Na gut, lauf ich eben zum Dicken Krug.
Der dumme Wind bläst mir ins Gesicht.
Dem Herr Schütz – dem tut der Wind nix – der Herr Schütz ist stark.
Bin ich eben Herr Schütz.
Herr Schütz sein macht Spaß – nämlich – da muss ich laufen wie Herr Schütz – hab ich schon paar Mal gemacht: Beine so auseinander – nach vorne beugen – und die Arme schwingen – immer so hin und her.
So geht Herr Schütz.
Pappa hat gesagt, Herr Schütz läuft so – weil – der hat soviel Kraft.
Jetzt bin ich Herr Schütz – ich gehe wie Herr Schütz – ich hab nämlich auch Kraft.
Wie Herr Schütz gehen ist schwer – und der dumme Wind bläst mir immer ins Gesicht. Aber ich bin stark – das bisschen Wind.
Herr Schütz ist gut und erklärt mir alles. Die andern in der Werkstatt lachen mich manchmal aus. Dann schimpft Herr Schütz mit den anderen. Herr Schütz ist nämlich der Meister und hat zu bestimmen.
Manchmal sagt Herr Schütz Mark zu mir – wie die Mamma – manchmal. Aber vielmal sagt er auch Depp – wie die anderen.
Depp ist nicht schön.
Aber die Frauen in der Werkstatt sagen immer Junge – Junge ist besser als Depp.
Manchmal sagt einer Mongole zu mir – Mamma hat gesagt, das soll der nicht – Mongole sagen ist dumm. Ich bin nicht dumm.
Bloß weil ich so ein Chromodings zuviel habe, bin ich nicht dumm, sagt die Mamma dann.
Die Mamma weiß alles und Mamma ist gut, die erklärt mir auch immer alles. Der Pappa weiß auch alles. Aber vielmal sagt er – das brauch ich nicht zu wissen.
Manchmal sagt Pappa auch, dass ich das nicht verstehen kann. Das ist nicht schön – a-ber Pappa ist nicht böse.
Mamma sagt, Pappa meint das nicht so. Das ist nur, weil er soviel arbeiten muss.
Mamma ist gut.
Herr Schütz ist auch gut.
Heute früh hat Herr Schütz gesagt – ein Theater – ein Theater!
Der Herr Chef hat nämlich den Herr Rose ausgeschimpft – weil – in seiner Werkstatt gibt es keinen Deppen. Hat er gesagt, der Herr Chef – und dann hat er noch gesagt, Herr Rose soll mich mit Namen nennen.
Dann hat der Herr Rose mit mir geschimpft.
Wegen dir hat mich der Alte angeschissen, hat er gesagt.
Angeschissen – hat Herr Rose wirklich gesagt.
Und dann hat er noch mehr geschimpft und da ist der Herr Schütz gekommen und hat zum Herr Rose gesagt er soll die Schnauze halten und seine Arbeit machen – und mich soll der Herr Rose in Ruhe lassen –
hat er gesagt.
Und dann hat Herr Schütz noch gesagt, wenn ich weiter so gut arbeite, darf ich auch mal an die große Formpresse. Da werden Teile für Autos und so gemacht.
Wichtige Arbeit. Das macht Spaß.
Und jetzt bin ich Herr Schütz. Ich gehe wie Herr Schütz und ich bin stark wie Herr Schütz.
Hier an der Kreuzung geh ich über die Straße. Muss ich auf die Ampel gucken. Bei Rot bleibe stehen – bei Grün darf ich gehen – weiß ich schon lange.
Kein Grün an der Ampel – Rot auch nicht – die Straße ist ganz leer.
Wie gestern im Fernsehen. Da war nämlich eine Straße auch ganz leer. Aber dann kam ein Sturm – Mamma hat gesagt, der Sturm heult –
dann flogen Zeitungen durch die Luft und Mülltonnen kullerten über die Straße – das war lustig –
dann kam Sand, der flog bis hoch in den Himmel –
dann wurden Bäume verbogen und manche fielen um –
dann flogen Dächer auf die Straße und ein Haus fiel ganz um –
und dann kamen Menschen gerannt – aber die fielen immer wieder hin.
Die Mamma hat gesagt – das ist aufregend und ich soll nicht weiter gucken.
Immer noch kein Grün – vielleicht hat einer die Ampel ausgeknipst – ich renne los, ehe ein Auto kommt – geschafft.
Die Straße ist immer noch ganz leer. Aber dort bei Bäcker Hensel, da ist sie ganz kaputt. Und große Haufen Steine.
Das bisschen Wind – kein Sturm wie im Fernsehen. Der Wind heult nicht.
Die Häuser in dem Film waren alle aus Holz. Die Häuser hier, die halten jeden Sturm aus – jeden – auch wenn er heult.
Die sind nämlich aus Mauern – die Häuser – da weiß ich Bescheid.
Ich war nämlich schon mal bei Herr Schütz auf der Baustelle. Herr Schütz nämlich – der baut ein Haus – mit noch anderen – die helfen ihm dabei.
Aber Herr Schütz ist der Chef!
Und bei Herr Schütz durfte ich Sand schaufeln.
An die Mischmaschine hat mich Herr Schütz nicht gelassen – schade. Mischmaschine hätte nämlich viel mehr Spaß gemacht.
Aber bei Herr Schütz macht alles Spaß.
Wo ist denn der Dicke Krug?
Ich bin schon vorbei – jetzt muss ich zurücklaufen!
Pappa – muss ich sagen – Pappa, du sollst gleich nach Hause kommen – weil – der Herr Eckart wartet nämlich – wegen der Heizung.
Schön warm hier drin – aber soviel Rauch – da sitzt Pappa und spielt Karten.
Ich war schon paar Mal hier und hab zugesehen.
Neben Pappa sitzt Herr Zierold. Schon mal hat Herr Zierold zu Pappa gesagt: Dein Depp kommt.
Da hat der Pappa mit Herr Zierold geschimpft – er soll Mark zu mir sagen – hat der Pappa gesagt.
Da hat Herr Zierold gesagt, zu seiner Herta sagt er auch nicht Häschen – er sagt Alte.
Hab ich mir gut gemerkt!
Da hat der Pappa eine ganze Weile nicht mit Herr Zierold gesprochen. Aber dann haben sie sich wieder vertragen.
Ich hab’s der Mamma erzählt – weil – ich hab das nicht verstanden, mit dem Häschen und so. Und die Mamma erklärt mir immer alles.
Da hat die Mamma gesagt, die Männer tun manchmal so als ob sie zanken – und dann lachen sie – und alles war nur Spaß.
Auf der Bank unter dem Fenster sitzt Herr Opitz. Den andern Mann kenne ich nicht.
Jetzt winkt Herr Opitz – ich soll mich neben ihn setzen und ihm beim Kartenstecken helfen – Herr Opitz nämlich – der hat nur einen Arm – und da steckt er die Karten im-mer in ein Brett.
Herr Opitz ist gut – bald so gut wie Herr Schütz.
Schon mal hab ich ihn gefragt, warum er nur einen Arm hat.
Pappa hat gesagt, so was fragt man nicht.
Aber Herr Opitz hat gesagt – ein besoffener Autofahrer hat ihn überfahren – der Auto-fahrer ist weiter gefahren – hat Herr Opitz liegen lassen. Und dann ist Herr Opitz ins Krankenhaus gekommen und da musste der Arm ab.
Und jetzt darf ich ihm immer eine Karte geben, die steckt er in das Brett. Aber ich muss aufpassen, dass die anderen die Karte nicht sehen.
Das macht Spaß.
Herr Zierold hat mir ein Bier bestellt und ich darf mit den Männern anstoßen.
Jetzt muss ich Pappa meinen Auftrag sagen – die Männer sind grade still – keiner sagt was – sonst reden die immer alle.
Du, Pappa ...
Aber Pappa winkt mit der Hand und sagt: Jetzt nicht, Junge.
Na gut, warte ich eben bisschen.
Und keiner sagt was.
Schon mal hat Pappa die Karten auf den Tisch gehaut und gesagt:
Und den – und den – und den... Und dann hat er gelacht.
Aber heute legen die Männer die Karten ganz leise auf den Tisch.
Komisch – komisch.
Komisch – komisch sagt die Mamma immer, wenn sie was nicht versteht.
Jetzt ist das Spiel aus – auf einmal reden alle wieder.
Nur Pappa nicht.
Herr Zierold sagt, der Pappa hätte gewonnen, wenn er das Ass gedrückt hätte.
Komische Sachen sagen die Männer.
Einmal hat der Pappa zu Herr Opitz gesagt: Der dümmste Bauer hat die größten Kartof-feln.
Aber Herr Opitz ist kein Bauer – kann der gar nicht – wo der doch nur einen Arm hat – und dumm ist der auch nicht – nee, dumm ist der nicht.
Und schon mal hat Herr Opitz zu Herr Zierold gesagt – er soll die Hosen runter lassen.
In der Gaststätte.
Hat der aber nicht gemacht.
Du Pappa ...
Der Pappa lässt mich nicht weiterreden.
Sei still, sagt er.
Aber die Mamma hat gesagt ...
Hör auf mit Mamma! sagt Pappa und macht ganz kleine Augen.
Wenn Pappa solche Augen macht, hat er Wut.
Mamma hat gesagt, wenn Pappa Wut hat, soll ich ihn in Ruhe lassen.
Herr Zierold sagt zu Pappa: Verloren ist verloren – sechzig Augen reichen nicht.
Komisch – komisch. Trink ich eben Bier – von Herr Zierold.
Limo schmeckt besser.
Aber das kann ich Herr Zierold nicht sagen – das ist gebettelt.
Mamma sagt, betteln darf man nicht.
Meine Augen tun weh. Alle Männer rauchen Zigaretten – nur Herr Opitz raucht Pfeife.
Der kann das gut mit seiner einen Hand.
Schon mal durfte ich Tabak in die Pfeife stecken – aber da hat Herr Opitz gesagt, ich soll nicht so fest drücken und er musste den Tabak wieder rausmachen.
An dem Tisch neben uns lachen die Männer einen aus – vielleicht hat der auch verloren.
Aber die sollen den nicht auslachen – das ist nämlich böse, einen auslachen.
Oh, da kommt Mamma – sie sucht uns.
Hallo Mamma – hier sind wir!
Pappa wird sich freuen – wenn Pappa Karten spielt, kommt Mamma nie her.
Aber die Mamma lacht nicht – sie sagt nur guten Abend zu den Männern und zu Pappa sagt sie: Wie lange soll der Eckart noch warten?
Was ist mit Eckart, will der Pappa wissen.
Wegen der Heizung, sagt die Mamma. Der Mark sollte dich holen.
Pappa sieht mich an.
Verdammter Depp, sagt er und hat immer noch so kleine Wutaugen.
Aber ich hab doch gar nichts gemacht – und verdammter Depp hat er gesagt – das darf der nicht sagen – vor den Männern darf der das nicht sagen.
Mach ich mich ganz klein.
Pappa steht auf – guckt mich böse an – er darf mich nicht hauen – der hat mich nie gehauen – nur die Jungs in unserer Straße hauen mich manchmal.
Versteck ich mich hinter Herr Opitz.
Nein, Pappa haut mich nicht, der guckt nur so komisch.
Jetzt sagt er zu den Männern: Halbe Stunde – komme ich wieder.
Und geht mit der Mamma los.
Herr Opitz zieht mich am Arm.
Komm vor, Junge, sagt er. Hilf mir mal – stopf mir die Pfeife – immer nur ein bisschen Tabak – aber nicht so feste drücken – gut so.
Jetzt zündet er die Pfeife an und nickt.
Hab ich gut gemacht.
Der andre Mann, den ich nicht mit Namen kenne, fragt ob ich noch ein Bier will. Bier schmeckt mir nicht. Aber ich will ihn nicht ärgern – nicke ich eben.
Hanna, ruft er. Bring dem Jungen noch ein Bier!
Die Männer sagen alle Junge zu mir.
Aber Pappa hat verdammter Depp gesagt.
Hat der Pappa nie gesagt – verdammter Depp.
Und vor den Männern hat er das gesagt.
Die sind alle gut – auch Herr Zierold – der guckt jetzt so komisch – wie Mamma manchmal – wenn sie sich ärgert.
Aber Pappa hat doch nicht zu Herr Zierold verdammter Depp gesagt.
Warum guckt der so komisch?
Jetzt spielen die Männer weiter – ich darf Herr Opitz wieder die Karten geben.
Nu biste mein zweiter Arm, sagt Herr Opitz.
Irgendwas rüttelt mich.
He, Junge – das ist Herr Opitz.
Bist müde – geh nach Hause – dein Pappa kommt doch nicht mehr.
Bin ich eingeschlafen?
Ich bin eingeschlafen.
Das Bier trink ich nicht aus – nur ein bisschen – dann sag ich Tschüss.
Herr Opitz gibt mir seine eine Hand.
Das ist zum Lachen, weil nämlich – das ist die falsche Hand.
Ich kann nicht durch die Tür – da steht eine Frau – hat Haare wie die Hexe im Märchen-buch – und auch so ein böses Gesicht.
Trau ich mich nicht vorbei.
Der Mantel ist ihr runtergefallen – sie bückt sich – aber sie wackelt – kriegt den Mantel nicht – immer wieder – zum Lachen.
Lach ich lieber nicht, sonst wird sie ganz böse.
Heb ich eben den Mantel auf, helf ich ihr beim Anziehen.
Vielleicht hat’s die Frau im Kreuz wie Mamma.
Mark, hat Mamma schon mal gesagt, Mark hilf mir, ich hab’s so im Kreuz.
Jetzt guckt die nicht mehr böse – sie lacht.
Vielen Dank, sagt sie. Vielen Dank, junger Mann.
Junger Mann hat sie gesagt – junger Mann hat noch niemand zu mir gesagt.
Junger Mann – junger Mann – junger Mann.
Jetzt bin ich auf der Straße gehüpft – ein junger Mann darf nicht hüpfen – ein junger Mann muss orntlich gehen.
Mamma sagt immer, geh orntlich, Junge.
Geh orntlich, junger Mann.
Aber – wie Herr Opitz kann ich gehen. Zieh ich den Arm aus der Jacke und steck den Ärmel in die Tasche. Hab ich nur einen Arm.
So geht Herr Opitz.
So geht ein junger Mann.




Zur Erinnerung
Down-Syndrom, früher Mongolismus, angeborene Störung der Embryonalentwicklung, die zu einer Fehlbildung von Geweben und Organen führt. Charakteristisch ist eine unterschiedlich ausgeprägte geistige Behinderung, schräge Augenstellung, breite Nasenwurzel und andere. Ursache: Anstatt der normalen 46 Chromosomen sind 47 vorhanden, und zwar tritt das Chromosom 21 dreifach auf (Trisomie 21).
In Deutschland kommen jährlich etwa 1200 Kinder mit dem Gendefekt Down-Syndrom zur Welt.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 04.03.2008, 01:16

Hallo Wolfgang,

puh, diese Geschichte geht wirklich unter die Haut. Du hast sie großartig geschrieben, man ist als Leser voll drinnen im Leben und Denken des jungen Mannes. Sehr zurecht hat diese Geschichte den Preis gewonnen. Sie hat mich sehr berührt.
Chapeau!
Saludos
Mucki

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 04.03.2008, 12:53

Ich find's wunderbar, ich kann da gar keine der erwarteten Rezensionen schreiben dazu. Bin zu ergriffen.

Stark, Wolfgang!

Hutziehgrüße,
ELsa
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Lisa
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Beitragvon Lisa » 06.03.2008, 13:57

Kleine dem Anlass nicht gerecht werdende polemische Vorbemerkung: Hm, wenn mich ein Text ergreift, dann bewegt das meine (tippende) Zunge, und wenn vielleicht auch erst später: ich möchte ausdrücken, was der Text mit mir macht! (!). Ich finde das immer seltsam, dass Sprachlosigkeit oft als Indikator für Ergriffenheit geltend gemacht wird. Das kann zwar der Fall sein, meist ist es das aber nicht, wenn man sich genau anschaut, es ist für mich die sich einfach machende "linke Rezeption", vielleicht um sich vor allem selbst seine Moralität zu bestätigen (Ein text über Behinderte muss einfach gut sein und gut bedeutet: uneingeschränkt gut.) Ich finde Ergriffenheit muss den Willen zur Mühe erzeugen. In diesem Sinne noch alberner: Nicht nur Behinderte auch Texte über Behinderte werden durch zu eindimenionale Anteilnahme diskrimiert. Das mal so als bösen Vorkommentar (für den ich mich jetzt schon tendentiell entschuldige, aber bei sowas reagiere ich allergisch, besonders auch, weil sich da oft dann auch Textkritikrechtfertigung und Themenunantastbarkeit unglücklich vermischen)

Nun aber zum Text!

Für mich hat der Text Stärken und Schwächen.

Schwächen

Die Schwächen des Textes sind für mich die Gestaltung des Raumes und des Stils bzw. der Erzählhaltung.

Der Stil: schreibt man solch einen Text in Ich-Form, dann entsteht wohl notwendig der hier gewählte Stil: nahezu kindliche Syntax und naive Aussagen, die aber letztlich ein geheimes (nur von den 'Guten' erkennbares) sozial-metaphysisches Plus beinhalten gegenüber den Beobachtungen der meisten 'normalen' Menschen. Ich empfinde diese Haltung allerdings als Klischee und auch als nicht authentisch, zudem als problematisch - wer weiß schon, was jemand mit Down-Syndrom im Kopf/Gefühl erlebt, die nach außen dringenden Sätze sind ja immer an Menschen gerichtet, die graduell stärker anders sind als der Denkende/Fühlende mit Down-Syndrom, als packt der Betroffene seine Wahrnehmung/Aussagen in eine Sprache, die er nicht völlig beherrscht (die nicht die seine ist) und dadurch erst wirkt sie 'unzureichend'. Wenn literarische Texte mit diesem Umstand arbeiten, indem sie das (moralische) Qualitätsverhältnis der Aussagen umdrehen, befreit das für mich den Behinderten nicht aus seiner Diskriminierung. Außerdem wünsche ich mir mehr Beobachterbescheidenheit, Wittgenstein sagte so schön: Könnte der Löwe sprechen, wir würden ihn nicht verstehen.
So einfach 1:1 zu übersetzen wie das hier im text geschieht, ist das einfach nicht, finde ich.

Zudem produziert die Ich-Perspektive noch ein zweites Problem: Die wertende Kritik an der Reaktion auf den behinderten Menschen - insbesondere wenn sie indirekt über bloße Beschreibung geschieht - wirkt zeigefingerhaft, erzeugt bei mir z.B. ein unwilliges, befremdendes Gefühl.
Daher ist für mich ein personaler Erzähler die wahrscheinlich eher glückendere Anlage.

Der Raum: immer noch, muss ich zugeben, wirkt auf mich die Wahl eines Ortes im Märchen-hinterwalddorf (wohl früheres Deutschland?) vom Licht her stärkend, also erst einmal die Aussage des Textes stärkend. Die Dorfkneipen, das Verhältnis der Eltern, die individuellen Autortäten (Herr Schütz), die (Nicht-)kultur - legt die normale Welt in ein Licht, dass ich "Inzuchtlicht" nenne und ein wenig Dunkelheit/Stumpfheit leuchtet, wie das Licht auf bestimmten Gemälden (ich glaube, die psychologischen Surrealisten haben das oft) - das Licht ist dann die Dunkelheit und die Dunkelheit notwendig (aber nicht vom Gewicht) das Licht. Ich kann mich da einer Wirkung nicht verschließen. Mein Kopf sagt trotzdem (inzwischen): Klischeealarm. Ich würde gerne mal über einen Behinderten bei Karstadt oder wo auch immer lesen. Oder in der Tristesse eines bürgerlich guten Einfamilienhauses und nicht im PLattenbau. Der Raum wirkt letztlich so auf mich "antiquiert", auf-immer-fiktiv, märchenhaft. Ich hätte einen anderen Anspruch.


Natürlich ist dieser Text durch den mir bekannten Horizont des Autoren (selbst betroffen) dann wieder auch authentisch gesichert, aber von einem Text verlange ich mehr, dass er dies nämlich auch ist, wenn der Text auf sich alleine gestellt ist. Und mir gegenüber könnte der Text sich allein für sich nicht behaupten - ich würde die Behauptungen des Textes so nicht glauben können (obwohl sie grob geurteilt 'stimmen', aber sie sind für mich nicht lesbar aus genannten Gründen).

Denn Titel und vorangesetzten Vers empfinde ich zudem als äußerst nachteilhaft, weil er sofort die negativen Folgen der Erzählhaltung verstärkt, weil er eine bestimmte Lesehaltung erzeugt. Zudem (in Assoziation an den allzu bekannten Satz aus dem kleinen Prinzen (das wesentliche ist für die augen unsichtbar. man sieht nur mit dem herzen gut oder so ähnlich) drückt er mir zu heftig auf die Tränendrüse und die Dramatikdrüse.


Die Stärken

Für mich liegen die Stärken des Textes (und die sind so stark, dass sie nicht durch das bisher ja sehr grundsätzliche kritsierte untergehen!) darin, dass auf bestimmten Ebenen Bescheidenheit herrscht: So z.B. beim Plot. Ich finde es genau richtig/stimmig, dass keine dramatische/tragische Begebenheit erzählt wird, der Ich-Erzähler wird von seinem Vater z.B. nicht geschlagen (und den eigenen Verweis des Textes darauf finde ich klasse). Für mich wird so der Text der Stetigkeit des Erlebens von Welt des Behinderten gerecht - denn dass all dies das ganze Leben ausmacht, dass dies der raum ist, in dem er sich bewegt, weil ihm kein anderer gegeben wird (außer innere aber als Schachtel) das finde ich gut ausgedrückt. Es erzeugt eine Art schlichte Tragik.

Das zweite ist der großartige Rahmen, in den das Haupterzählte gelegt wird: das Gehen im Wind wie Herr Schütz und Herr Opitz. Das drückt für mich viel mehr aus, als die ganze Sequenz in der Kneipe und ist (abgesehen von einigen unrunden Passagen beim Wechsel von indirekter und direkter Rede innerhalb des inneren Monologs, die mehr in Fluss gebracht werden könnten) für mich sehr nah am Erleben getroffen. Das finde ich die richtige Herangehensweise (und so gut angelegt, dass in DIESEN Passagen sogar für meine Begriffe die Ich-Erzählhaltung glückt!)


In der Summe entsteht so für mich eine ähnliche Frage wie bei dem Text "Anteilnahme" vom selben Autor: Was für eine Rezeption sollte der Text produzieren/bedienen (denn das bestimmt auch der Text, nicht nur der Leser)? Für mich sollte die Zustimmung des Textes nicht zu preiswert erzeugt werden, zumal wenn man spürt, dass der Autor locker die Feder hat, das anders zu schaffen. Was wieder nicht heißt: dass nicht raus soll, was einfach raus muss, aber stellt sich der Leser einem Publikum, sind die Fragen andere als die der "eigenen Schublade".
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

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Beitragvon Mucki » 06.03.2008, 14:33

Hallo Lisa,
du bemängelst u.a. den Raum, den Wolfgang gewählt hat. Ich finde aber, dass diese Kneipe im "Hinterlandsdorf" gerade gut gewählt ist, weil hier die Leute anders reden, oft brutaler, aber sie reden! Auch gefallen mir die Einzelheiten, die sich in dieser Kneipe abspielen, wie z.B. wie der Protag dem Einarmigen die Karten einsteckt, etc. Das macht für mich das Ganze glaubwürdig.
Tja, wie würde sich so etwas in einer "moderneren" Gegend abspielen, vor Karstadt oder so? Wahrscheinlich würde dort niemand auf den Protag eingehen, weder im positiven noch negativen Sinne. Er würde schlichtweg ignoriert werden. Die Leute würden vorbeigehen. Eine richtige Handlung käme gar nicht zustande.
Und wegen Tränendrüse: M.e. gelingt es hier, eben nicht volle Kanne auf die Tränendrüse zu drücken, sondern, wie du schreibst: die Tragik wird leise und schlicht erzählt und berührt deshalb. Diese Gratwanderung, die es hier zu gehen gilt, scheint mir durchaus gelungen.
Saludos
Mucki

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Beitragvon Elsa » 06.03.2008, 23:50

Liebe Lisa,

du haust mir um die Ohren, dass ich keine Rezension geschrieben habe. Ich schreibe derzeit einen Roman über dieses Thema (fast fertig), was mich zu diesem Satz oben wohl getrieben hat.

In Zukunft werde ich keine Spontanäußerungen mehr tätigen. Versprochen :-)

Lieben Gruß
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Beitragvon Elsa » 07.03.2008, 00:35

Verdammter Depp - junger Mann

Ich siedle die Geschichte in den frühen 60ern an. In einem Dorf, keinesfalls in der Großstadt. Typisch dafür ist das Wirtshaus, in dem sich die Männer abends zum Kartenspiel treffen. Typisch dafür ist auch der Protagonist, von Mamma beschützt, vom Papa erduldet. Ich folge seinen Gedanken, die vollkommen "normal" ablaufen.

Ergriffen daran macht mich, dass Menschen mit Down-Syndrom sehr sehr lange als behindert abgetan wurden, ihre Begabungen nicht gefördert, sie nicht als besondere Menschen gesehen wurden, als eine andere und doch oft bessere Menschenart als viele, die auf der Welt herumlaufen.

Mittlerweile sieht das anders aus. Menschen mit Trisomie 21 gehen in Integrationsklassen, werden Schauspieler, können studieren, sind in ganz normalen Berufen tätig.

Die Schlichtheit mit der Wolfgang die Geschichte erzählt aus dem IE Mark, und das, was ich zwischen den Worten wahrnehme (die Spannung, die Aufladung der Umwelt), das Wissen, der Mark hat dort, wo er lebt, keine Chance, berührt mich.

Manches finde ich stilistisch nicht recht ausgewogen, da würde ich anders vorgehen, aber das nimmt nichts von meinem Interesse an dem Text.

Lieben Gruß
ELsa
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Beitragvon Lisa » 07.03.2008, 11:51

Ich freu mich, dass ich noch Rezensionen aus euch herauskitzeln konnte, das war mein geheim-offensichtliches Ansinnen! Danke, dass ihr so reagiert habt .-). Elsa: Spontanreaktionen sind doch super (bitte immer was davon), muss ja nur nicht dabei bleiben.

Liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

wonigo

Beitragvon wonigo » 07.03.2008, 23:25

Vielen Dank, Elsa, Lisa, Mucki (die Reihenfolge in der Aufzählung ist keine Wertung, sondern dem Alphabet geschuldet), ihr habt euch viel Arbeit mit meinem Text gemacht. Ich versichere euch, dass ich alles sorgfältig auswerten werde. Dazu habe ich mir erlaubt, eure Rezensionen auszudrucken, um sie leichter lesen zu können.
Ich bin noch nicht in der Lage, zu Einzelheiten eurer kritischen Einschätzungen viel zu sagen. Soviel aber auf jeden Fall: Heute würde ich alles ganz anders machen. Die Geschichte ist immerhin schon über zehn Jahre alt (Man ist immer - besser: manchmal - klüger, wenn man aus dem Rathaus kommt).
Lisa, für solch eine Einschätzung hätte ich im Realis-Verlag runde 100 € bezahlen müssen. wie kann ich das nur wettmachen?
Lasst mich lieber berichten:
Als ich mein Gehör nach 1969 (neben dem Verlust einiger anderer Körperfunktionen) sprungweise bis zur völligen Taubheit verlor, habe ich kennengelernt, wie ein Mensch sich in einer Umgebung "normaler" Menschen fühlt, die ihn als "minderbemittelt" im negativsten Sinne des Wortes sieht. Heute könnte ich aus der Ich-Perspektive eine Geschichte schreiben, die viel authentischer wäre. Damals konnte ich das nicht, die psychischen Wunden klafften noch. Irgendwann habe ich dann versucht in eine Kunstfigur hineinzukriechen und nachzufühlen, was da passieren könnte. Dass ich Trisomie 21 gewählt habe, ergab sich aus Erlebnissen in einem Urlaub am Bodensee. Die 15. oder 20. Fassung schickte ich dann im Europäischen Jahr der Behinderten zu einem Behinderten-Wettbewerb der Bundesregierung. Und dann kam die Preisverleihung, in Berlin. Sehr feierlicher Rahmen, es sprachen hochrangige Regierungsvertreter, eine Schauspielerin hatte den Text auswendig gelernt und spielte den Mark, anschließend gab es stehende Ovationen für die Schauspielerin und sicher auch ein wenig für mich - und ich stand da und lächelte dümmlich unter meiner Glasglocke, weil ich kein Wort gehört hatte.
Ich hatte an diesem Tage nicht nur einen Preis bekommen, sondern auch eine gewaltige Klatsche von meiner eigenen Hilflosigkeit.
Damit muss ich leben und tue das auch mit viel Freuden, denn ich habe eine wunderbare Frau an meiner Seite, die mich von Dummheiten weggerissen hat, die man nur einmal machen kann, die meine zeitweiligen Ungerechtigkeiten und Aggressionen wegsteckt, und mich dann in den Hintern tritt, wenn ich anders nicht mehr vorwärts komme. (Ich glaube, ich muss ihr das wieder mal sagen. Morgen ist der 8. März, da passt es gut)

Euch nochmals herzlichen Dank
Wolfgang

Sam

Beitragvon Sam » 08.03.2008, 06:00

Hallo Wolfgang,

hier im Publicus lautet die Regel, dass der Autor sich nicht zum Text und den jeweiligen Kritiken äussert. Das macht den Unterschied zu den anderen Bereichen des Salons aus. Wahrscheinlich ist dir das noch nicht aufgefallen. In den FAQs steht alles drin.

Wenn du gerne auf die Kritiken etwas sagen möchtest, kann ich deinen Text in die Prosaecke verschieben. Ansonsten würde ich dich bitten, deinen Kommentar wieder zu löschen (bzw. ich kann es auch für dich tun).

Liebe Grüße

Sam

aram
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Beitragvon aram » 08.03.2008, 06:55

"löschen" wäre doof - habe wonigos kommentar schon gelesen und werde ihn nicht aus meinem gedächtnis löschen.

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Pjotr
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Registriert: 21.05.2006

Beitragvon Pjotr » 08.03.2008, 07:13

Stimme Aram zu. Der Hinweis auf den Regelverstoß reicht allein. Eine zusätzliche Todesstrafe macht die Rubrik nicht sauberer.

Sam

Beitragvon Sam » 08.03.2008, 07:18

natürlich wäre löschen doof. aber vielleicht ist ja auch das ganze prinzip des publicus doof. ist mir aber, ehrlich gesagt, mittlerweile auch egal.

aram
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Beitragvon aram » 08.03.2008, 07:36

nein, das prinzip des publicus ist nicht doof. außerdem finde ich dich als moderator wunderbar, sam.

diesen thread in die normale prosarubrik zu verschieben fände ich gegebenenfalls besser, als wolfgangs kommentar zu löschen; das wollte ich sagen. sorry falls ich mich (bzw. meine senftube) einseitig ausgedrückt habe.





ps. in diesem faden wurde das "pub.sprinzip" bereits mit der vorbemerkung des autors aufgeweicht.


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