Der unbekannte Gast

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Anonymus
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Beitragvon Anonymus » 11.06.2012, 22:25

Der unbekannte Gast


Einen Teller und einen Kelch für ihn –

vielleicht kommt er ja heute noch.

Dann wird er seinen Staubmantel ablegen,
um etwas Wasser bitten
und dankbar sein, sich zu setzen.

Vielleicht hat er schweres Gepäck;
das stellt er dann in den Vorraum.

Er lacht aus schwärigem Mund
und verträgt viel Wein.
Er deutet in die Sternennacht
und gibt uns seine schönsten Worte
zum Aufbewahren.

Gebt Obacht, sagt er,
geht still und namenlos.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 14.06.2012, 14:33

Mir gefällt hier die geheimnisvolle Atmosphäre und auch die Tatsache, dass man diese Zeilen auf zweierlei Weisen lesen kann: als Wunschdenken, dass ein solcher Gast, der Gutes bringt, kommen möge. Oder aber auch: dass dieser unbekannte Gast schon mal (oder mehrere Male) da war.
Schönes Stimmungsgedicht mit feinem Nachhall.

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birke
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Beitragvon birke » 14.06.2012, 17:59

Oh ja, das gefällt mir.

Dieser Gast ... wer ist er, wo kommt er her, was bringt er mit, was lässt er dort (offenbar Schönes :)).
Und er wird gern erwartet.
Kommt er wieder? Wohin verschwindet er?

Das "schwärig" klingt nach .....

Sehr feinsinnige Gedanken, lässt viel Spielraum für eigenes.

LG, Diana
tu etwas mond an das, was du schreibst. (jules renard)

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 15.06.2012, 00:31

Mich erinnert das Gedicht daran, dass in bestimmten jüdischen Glaubensrichtungen (angeblich; ich weiß darüber nicht viel) noch heute am Sabbat ein Gedeck mehr aufgelegt wird für den Fall, dass der Messias kommt.

Der Gast, der dann tatsächlich kommt, stellt sich jedenfalls anders dar, als ich es vom Messias erwarten würde. Hässlich, entstellt, offenbar ein Trinker ...

Oder ...?
Ein Gedicht, das zum Nachdenken anregt. Gefällt mir.

Nachtgruß von Zefira

(@Gabriella: Ich habe eben ein wenig über jüdischen Glauben gegoogelt, um irgendwie meine Behauptung abzusichern, und dabei ein Zitat von Martin Buber gefunden: Buber hat, als Beitrag zur Versöhnung zwischen Christen und Juden, vorgeschlagen, den Messias - wenn er denn erschiene - zu fragen, ob er schon mal dagewesen sei. Er, Buber, werde dem Messias aber noch rasch ins Ohr flüstern, dass er lieber nicht antworten solle ... Letzteres erinnert an die Ringparabel ...)
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

Mucki
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Beitragvon Mucki » 15.06.2012, 00:55

Hi Zefi,

interessant, dass du den Messias ins Spiel bringst. Ich hatte nämlich schon beim ersten Lesen den Eindruck, dass hier ein biblisches Motiv zu Grunde liegt.
Es ist die Sprache, Worte wie "Kelch", "Obacht" und die Art, wie hier erzählt wird.

Liebe Grüße
Gabi

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birke
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Beitragvon birke » 15.06.2012, 07:42

Ja, an ein religiöses Motiv dachte ich auch. Aber nicht nur.
LG, Diana
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leonie
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Beitragvon leonie » 15.06.2012, 12:12

Mir geht es auch so, dass ich an ein religiöses Motiv dachte. Mir gefällt der Text gut, wobei ich meine, man könne ihn in der sprachlichen Wirkung noch verstärken, wenn man manche "Füllwörter" weg ließe. Und den Schluss etwas verstärken würde.

Sagt man: "dankbar sein, sich zu setzen"? Ich bin unsicher, msste es nicht heißen, "dfankbar sein, sich setzen zu dürfen"?

Feiner Text!

Liebe Grüße

leonie

Mucki
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Beitragvon Mucki » 15.06.2012, 13:16

Du hast Recht, leonie. Es müsste heißen:

und dankbar sein, sich setzen zu dürfen

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fenestra
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Beitragvon fenestra » 17.06.2012, 12:18

Auf mich wirkt das, wie die Beschreibung eines alten Bildes. Oder wie eine Szene aus einem Märchenspiel. Die veralteten Vokabeln Obacht, Staubmantel, Kelch, schwärig treffen auf einen ansonsten sprachlich sehr schlichten Text. Das ist es auch, was mich etwas stört. Ich würde entweder den Text insgesamt so gestalten, dass er wie von früher her kommt, oder alles ins Heutige übertragen. Dennoch: Man sieht unwillkürlich ein Bild vor sich, macht sich ein Bild dieses Unbekannten. Und rätselt, wer es sein könnte. Schön gemacht!


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