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noch einmal

Verfasst: 27.01.2013, 11:47
von Anonymus
noch einmal


die zeit zurückdrehen
in das rundum verschneite haus
noch einmal all die weihnachtslichter setzen
pyramide, engelsgeläut, laternen aus
architektenpapier


aber vorwärts drehen sich uhr und engel
vorwärts
sehe ich dich

überwintern
in grüner hölle
grell violettes licht
von natriumlampen
damit die pflanzen nicht verdämmern
wie du
drähte gespannt hast an decken und fenstern
wo sie herunterfließen hinaufklettern
dazwischen
in blattgewirr und spinnenseide
zarte ausgebleichte wesen
libellen
oder
die engel von damals


dann wieder nichts von alledem
die räume wie früher
nur älter und schäbiger
stumpfe schmutzbeläge
für graue stare unsichtbar
lupen liegen
hier und dort
würden sie die sonne bündeln
wenn die sonne
dir noch einmal
erschiene

Verfasst: 29.01.2013, 15:55
von Mucki
Bei diesen Zeilen frage ich mich, wer das "du" hier ist. Oder ist es ein Monolog? :12:

Verfasst: 29.01.2013, 16:05
von leonie
Das ist toll!!!

Liebe/r anonymus, herzlichen Glückwunsch dazu. Mir scheint, das Du könnte eine Elternfigur sein, es könnte aber ebenso die eigene "vorwärts gedrehte" Zukunft einem daraus entgegen blicken.
Das einzige, wo ich vielleicht einen Kritikpunkt sehe, sind die Natriumlampen, die so sehr direkt benannt werden. Das bricht den Fluss des Bildes, das entsteht für mich ein winziges klein bisschen. Aber wie gesagt: Ich finde das sehr sehr schön. Vor allem, wie mehrere Ebenen verflochten werden, die Zeit vorwärts/rückwärts, die Libellen/Engel oder auch der graue Star und die Sonne, die ja vermutlich nciht nur das Zimmer, sondern auch das Leben beleuchten soll.

Das habe ich sehr gerne gelesen!

Liebe Grüße

leonie

Verfasst: 29.01.2013, 16:35
von Zefira
Bei diesen Zeilen frage ich mich, wer das "du" hier ist.


Ich sehe spontan eine alte Frau, vielleicht eine Mutter oder Großmutter, die einmal eine von Grün und Licht erfüllte Wohnung hatte, wohl auch ein Kindheitsparadies für den "Sprecher" des Gedichts - und die inzwischen alt und unbeweglich geworden ist, wahrscheinlich halb blind. Die Räume sind noch die gleichen, aber von Vernachlässigung gezeichnet. Ein schönes, bildhaftes Gedicht, gefällt mir auch sehr.

damit die pflanzen nicht verdämmern
wie du
drähte gespannt hast an decken und fenstern


Hier lese ich erst einmal "damit die pflanzen nicht verdämmern wie du", ein sehr geschickter Sprachgebrauch. :hut0039:

Grüße von Zefira

Verfasst: 29.01.2013, 16:55
von Mucki
Ja, die Mutter oder die Großmutter des LI könnte das Du sein, das macht Sinn für mich. Da passt dann auch "graue stare" und die "lupen" für schlechtes Sehen. Und dieses Du wird schmerzlich vermisst. Offensichtlich hatte es einen Faible für Pflanzen. LI erinnert sich in der ersten Strophe wohl an Weihnachten mit dem Du zurück.
Ein sehr schönes, bildhaftes Gedicht.

Verfasst: 30.01.2013, 18:23
von Anonymus
Der Text zeigt ja zwei alternative Szenarien des Alterns: einerseits die "grüne Hölle" und andererseits "die Räume so wie früher". Daraus ergibt sich, dass es ein Blick in die Zukunft ist. Ob dieser Blick von der Tochter ausgeht, die das Altern der Mutter vorausahnt, oder von einer Frau, die sich das eigene Alter ausmalt, lässt der Text offen. Im zweiten Fall könnte das Du einen gewissen Abstand zeigen, den die Frau noch von ihrem zukünftigen "Alter ego" hat.

Die Natriumlampen müssen weg, sie sind ein sprachlicher Fremdkörper, das sehe ich jetzt auch. Vielen Dank leonie! Und allen dreien sage ich Dankeschön für die wohlwollende Kritik!

Verfasst: 30.01.2013, 18:32
von birke
hm, warum aber auf "frau" reduzieren?
ich denke, der text (der mir sehr gefällt!) könnte genau so gut für einen mann gelten, es bleibt offen, wer spricht, wer angesprochen ist ... oder ...?

lg,
birke

Verfasst: 30.01.2013, 18:55
von fenestra
Ja, genau darüber habe ich auch schon nachgedacht, birke. Könnte man einen Mann denn so sehen? Zwischen Pflanzen und Engeln? Ich finde, der Text evoziert irgendwie die Vorstellung einer alten Frau.

Verfasst: 30.01.2013, 20:01
von birke
ja, vielleicht, fenestra.
aber letztlich bleibt es hier dem leser überlassen, wie er die "rolle besetzt".
und diese offenheit gefällt mir sehr gut.