Seite 1 von 1

Schlaflos

Verfasst: 22.06.2014, 13:18
von Anonymus
Der Mond beugt sich
in mein scheibenloses Fenster.
Ich schäme mich für meinen Mut,
ihm ins Gesicht zu sehen.

Meine Demut bleibt
ungeboren und vergesslich.
Das Wörterbuch steckt
mir in den Kleidern.
Die Buchstaben tropfen
bei jedem Schritt
auf dem Weg.

Verfasst: 23.06.2014, 20:25
von Mucki
Hier stehe ich vor einem Rätsel. :12:
Vielleicht kommt ein (mond)erhellender Kommentar? ,-)

Verfasst: 21.03.2015, 11:38
von Lisa
Der Mond ist ja ein viel bedichtetes Ding - so sehr, dass er darüber aussagelos geworden ist, zumindest zumeist. Deshalb gefällt mir hier, die selbstniedernde Anrufung als Idee und die Szene, die sich damit auftut. Allerdings überzeugt mich der Text sprachlich leider gar nicht.

Verfasst: 22.03.2015, 07:58
von Quoth
Erinnert mich an ein Jugendgedicht von Robert Walser: "Im Bureau", zitiert hier mit recht guten Vergleichsbetrachtungen bis hin zu Celan. Auffallend die Dialektik von Mut und Demut, im Vergleich zu Walser fehlt leider jeder genauere soziale Bezug, einzig das "scheibenlose Fenster" lässt tief blicken ... "Selbstniedernde Anrufung", eine schöne und treffende Wortschöpfung, Lisa.
Müssten die Buchstaben nicht auf den Weg tropfen?
Etwas zu rudimentär, um tiefere Spuren zu hinterlassen!

Verfasst: 22.03.2015, 11:06
von Pjotr
Wenn die Schritte auf dem Weg getan werden, dann stehen zwei Bezüge zur Auswahl: dem und den.

"Ich schäme mich für meinen Mut" -- Ist das dudistisch erlaubt?

Wäre es zu geschwollen, wenn es hieße "Ich schäme mich meines Mutes"?

Davon abgesehen verstehe ich nicht den Zusammenhang dieser Scham. Ist es wirklich wegen des Mutes? Oder ist es nicht eher wegen etwas anderem?

Verfasst: 22.03.2015, 11:37
von ZaunköniG
Pjotr hat geschrieben:Davon abgesehen verstehe ich nicht den Zusammenhang dieser Scham. Ist es wirklich wegen des Mutes? Oder ist es nicht eher wegen etwas anderem?



Ursprünglich wohl wegen etwas anderem, dass Lyrich es nicht mehr für angemessen hält ihm ind Gesicht zu schauen. Wenn Lyrich es dann doch tut ist das sowas wie eine Metascham. Die Stelle drückt für mich auch eine innere Distanz aus, die Lyrich hindert überhaupt angemessen auf äußeres Geschehen zu reagieren.

ich frage mich bei dem Text wo der Ortswechsel stattfindet.

In der ersten Strophe schaut der Mond noch zum Fenster rein,
dann ist Lyrich plötzlich auf dem Weg?

Verfasst: 22.03.2015, 13:25
von Pjotr
Ja, jetzt würde ich nur noch gerne herausfinden, was der Mond hier symbolisiert. Das wird mir persönlich sonst zu beliebig.

Und ...

"Meine Demut bleibt
ungeboren und vergesslich."


Wie kann etwas ungeborenes, also nicht-existentes, vergesslich sein?

Hier liegt wohl ebenfalls -- vermutlich ungewollt -- eine geistige Bezugsverschiebung vor: Die Demut ist das eine, das vergessliche Gedächtnis das andere.

Demut ist nicht Gedächtnis. Vielleicht ist das so gemeint: "Ich empfinde keine Demut" -- optionaler Zusatz: "Weil ich den Anlass zur Demut vergesse." -- Das wiederum steht im Widerspruch zur Scham; die setzt Erinnerung voraus.

Das ist sozusagen ein aussage-kausales Perpetuum Mobile.

Verfasst: 22.03.2015, 13:27
von Zefira
Ein (vielleicht allzu) simpler Vorschlag zur Deutung: Im Werwolfmythos mutiert man zu einem Ungeheuer, wenn man nachts das Gesicht dem Vollmond aussetzt - hier ist der "Mut", dem Mond ins Gesicht zu sehen, vielleicht ein Symptom für eine verkopfte Grundeinstellung?

Verfasst: 22.03.2015, 13:31
von Pjotr
Buchstaben als Bluttropfen?

Verfasst: 22.03.2015, 14:03
von Zefira
Ja, ich würde in die Richtung denken. Auch das scheibenlose Fenster (Gefängniszelle) und das Wörterbuch in den Kleidern weisen für mich in die Richtung, dass das lyrische Ich bedauert, sich nicht einer magischen Weltsicht anschließen zu können, bzw. es verlernt zu haben.