Fehlende Teile

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Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 01.07.2008, 15:23

Zweite Version

Fehlende Teile


Hinter der Wand brummt ein Kühlschrank. Ein Rappeln noch, dann schweigt er. Jetzt schlägt nur noch der Regen gegen das Fenster.
Tiefer in die Decke gehüllt, versuche ich mich zu erinnern, wovor ich mich fürchte. Aber da ist kein klarer Gedanke. Nur dieses Gefühl von Unstimmigkeit.

Ich höre Schritte. Es ist nicht notwendig, die Augen zu öffnen. Ich kann sie riechen. Dieser Geruch nach Erbsensuppe, gestärkter Wäsche und etwas zu lange getragenen Seidenstrümpfen.
Ich warte, bis die Schritte verhallt sind. Erst dann öffne ich die Augen und sehe, was ich längst weiß. Ich bin in meinem Kinderzimmer. Alles sieht noch genauso aus wie damals. Die harmlose Tapete, deren Muster nachts lebendig wird, die orangefarbenen Vorhänge, der Schreibtisch, der viel zu niedrig ist, um daran sitzen zu können und dieses Bett, in dem ich jetzt liege.

Einen Moment lang bin ich mir nicht sicher, ob ich die letzten zehn Jahre nur geträumt habe. Vielleicht bin ich immer noch sechzehn Jahre alt. Möglicherweise ist es mir nie gelungen, dieses Zimmer zu verlassen. Und der Hörer des Telefons ist noch nass von meiner schweißigen Hand. „Lass mich hier nicht allein“, flehte ich meinen Vater an, aber er hörte mich nicht, weil sie hinter mir stand. Eine Hand auf meiner Schulter, die andere auf der Gabel.

Über dem Schreibtisch hängt ein Kalender. Ein Pferdekalender.
Vor dem Bett steht ein Hausschuh und im Regal fünf einzelne, aber unterschiedliche Schuhe. Jeweils der linke.
Ich fahre mit meinem linken Fuß das rechte Bein herunter. Auf der Höhe des Knies stockt mir der Atem, mein Herz rast.
Die Tür öffnet sich in dem Moment, als mein Fuß bemerkt, dass er von nun an einsam ist.



1. Fassung

Fehlende Teile
Hinter der Wand höre ich einen Kühlschrank. An seinem Brummen erkenne ich, dass ich nicht zu Hause bin. Ein Rappeln noch, dann schweigt er. Jetzt kann ich mich auf den Regen konzentrieren, der gegen das Fenster schlägt.
Ich hülle mich tiefer in die Decke. Ich kann nicht sagen, wovor ich Angst habe, schließlich erinnere ich mich nicht an viel. Da ist nur dieses Gefühl von Unstimmigkeit.

Dann höre ich ihre Stimme. Es ist nicht notwendig, die Augen zu öffnen. Ich kann sie riechen. Dieser Geruch nach Erbsensuppe, gestärkter Wäsche und etwas zu lange getragenen Seidenstrümpfen.
Ich warte, bis die Schritte verhallt sind. Erst dann öffne ich die Augen und sehe, was ich längst weiß. Ich liege in meinem Kinderzimmer. Alles sieht noch genauso aus wie damals. Die grauenhafte Tapete, die orangefarbenen Vorhänge, der Schreibtisch, der viel zu niedrig ist, um daran sitzen zu können und dieses Bett, in dem ich jetzt liege.

Einen Moment lang bin ich mir nicht sicher, ob ich die letzten zehn Jahre nur geträumt habe. Vielleicht bin ich immer noch sechzehn Jahre alt. Möglicherweise ist es mir nie gelungen dieses Zimmer zu verlassen. Und der Hörer des Telefons ist noch nass von meiner schweißigen Hand, mit der ich ihn umklammert hielt, als ich meinen Vater anflehte, mich mit zu nehmen. „Lass mich hier nicht allein“, sagte ich, aber diese fünf Worte hat er schon nicht mehr gehört, weil sie hinter mir stand. Eine Hand auf meiner Schulter, die andere auf der Gabel.

Über dem Schreibtisch hängt ein Kalender. Ein Pferdekalender. Als meine Augen tiefer wandern, verfangen sie sich in einen ungewöhnlichen Anblick: Vor dem Bett steht lediglich ein Hausschuh und im Regal fünf einzelne, aber unterschiedliche Schuhe. Jeweils der linke.
Ich fahre mit meinem linken Fuß am rechten Bein entlang. Auf der Höhe des Knies stockt mir der Atem, mein Herz rast.
Die Tür öffnet sich in dem Moment, als mein Fuß bemerkt, dass er von nun an einsam ist.
Zuletzt geändert von Xanthippe am 12.07.2008, 22:23, insgesamt 2-mal geändert.

Nifl
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Beitragvon Nifl » 13.07.2008, 15:19

Hi Xanthi,

ich habe die neue Fassung noch nicht gelesen, aber so wie Mucki schrieb:
"Die harmlose Tapete, deren Muster nachts lebendig wird", (das ist klasse!)

reicht es mir noch nicht. Gib mal bei Google-Bildersuche "70er Jahre Tapete" oder "Kinderzimmertapete" ein… suche dir eine aus und versuche diese in wenigen Worten so zu beschreiben, dass der Leser sofort weiß, wie sie aussieht… das wäre das, was ich mir vorstellte…

LG
Nifl
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 13.07.2008, 17:39

Hallo Nifl,

das wäre das, was ich mir vorstellte…


Hmm. Aber da decken sich unsere Vorstellungen einfach nicht.
Es gibt die Notwendigkeit, Dinge genau zu beschreiben, eben dieses gräßlich formalisierte Prinzip von SdT anzuwenden, aber es gibt ebenso eine Notwendigkeit, manche Dinge nicht zu genau zu beschreiben... Diese Tapete gehört für mich dazu.


xanthippe

Rala

Beitragvon Rala » 14.07.2008, 21:31

Hallo Xanthippe!

Ich finde, der Text hat in der zweiten Fassung sehr gewonnen, vor allem der gestraffte Anfang. Das fördert mE die Spannung. Und die Tapete finde ich so eigentlich sehr gut beschrieben, könnte mir vorstellen, dass die meisten menschen ohnehin so eine Sorte Tapete kennen und es daher gar keiner genaueren Beschreibung bedarf (die würde vielleicht sogar eher schaden).

Liebe Grüße,
Rala

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 14.07.2008, 21:49

Hallo Rala,

vielen Dank für Deine Einschätzung von Straffung und Tapete

xanthippe


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