Ich sehe sie jeden Tag

Der Publicus ist die Präsentationsplattform des Salons. Hier können Texte eingestellt werden, bei denen es den Autoren nicht um Textarbeit geht. Entsprechend sind hier besonders Kommentare und Diskussionen erwünscht, die über bloßes Lob oder reine Ablehnungsbekundung hinausgehen. Das Schildern von Leseeindrücken, Aufzeigen von Interpretationsansätzen, kurz Kommentare mit Rezensionscharakter verleihen dem Publicus erst seinen Gehalt
Sam

Beitragvon Sam » 01.03.2008, 06:31

Ich sehe sie jeden Tag

Ich sehe sie jeden Tag. Unter der Woche nehmen wir denselben Bus und am Wochenende begegne ich ihr auf dem Weg zum Bäcker, an der Mülltonne, oder ich kann von unserer Terrasse aus beobachten, wie sie die Fenster öffnet und das Bettzeug lüftet. Wenn sie mir auf der Straße entgegen kommt, grüßt sie mich nie. Sie schaut nicht mal auf. Ihr Blick ist starr auf den halben Meter Asphalt vor ihren Füssen gerichtet. Dabei macht sie ein so ernstes Gesicht, als brodele ein kaum zu ertragender Zorn hinter ihrem milchkaffeebraunen Mestizengesicht. Sie wirkt stolz in ihrem zügigen Gang; die Arme in ihrer Stofftasche verhakt, die dunklen Augen über den hohen Wangenknochen, die schwarzen Brauen, die beinnahe über der Nasenwurzel zusammenstoßen, das fliehende Kinn, darüber volle Lippen, blaugrau schimmernde schwarze Kissen, mit scharfen Konturen, wie durch einen Strich gerahmt. Wildgelockten Haare, die bis unter ihre Schulterblätter reichen. Eine erotische Ausstrahlung von nahezu religiöser Strenge. Keine Spur von Werbeexotik und Copa Cabana. Der Anblick macht mich wahnsinnig.

Wenn sie vor mir geht und mich hinter sich bemerkt, beschleunigt sie ihren Schritt. Geht sie hinter mir, lässt sie sich Zeit, sodass ich das Geräusch ihrer Schritte bald aus den Ohren verliere.

Als ich sie das erste Mal sah, zwei Tage nachdem wir in die Straße gezogen waren, dachte ich mir, dass sie aus Brasilien sein müsste. Kurz darauf sprach ich mit ihrem Mann, einem kleinen grauhaarigen Sachsen, der nach der Wende hierher gezogen war und irgendetwas Technisches beim Rundfunk macht. Seine Frau sei aus Paulo Alfonso, sagte er, am Sao Francisco im Norden Brasiliens, und ausführlich erzählte er mir von seinen Reisen dorthin. Diese Offenheit machte ihn sympathisch und ich hörte ihm lange zu, verschwieg allerdings, dass ich selbst einige Zeit ganz in der Nähe von dem Heimatort seiner Frau gelebt hatte, in Gloria, zwanzig Kilometer nordwestlich von Paulo Alfonso, nahe dem Staudamm von Petrolandia. Ich genoss es, eine Gemeinsamkeit mit seiner Frau zu haben, eine Gemeinsamkeit, von der weder er noch sie irgendeine Ahnung hatte.

Anfangs fragte ich mich, ob sie sich hier in Deutschland wohl fühlte. Niemals sah ich sie lächeln oder mit anderen Nachbarn reden. An der Bushaltestelle schaute sie nur wie versteinert auf den Boden, ihre Tasche oder einen Aktenordner umklammernd. Mehrmals suchte ich ihren Blick, und wenn ich ihn wirklich einmal für einen Moment einfing, dann folgte keinerlei Reaktion ihrerseits, kein Blinzeln, kein leichtes Zucken eines Mundwinkels, nur der durch und durch humorlose Gesichtsausdruck und ernste Schein ihrer bewegungslosen Augen. Zu gerne hätte ich etwas in Portugiesisch gesagt, ihr irgendeinen Hinweis gegeben, dass ich ihr näher war als sie dachte.

Ich weiß nicht wie sie heißt. Ich nenne sie Vería, wie jene Vería, die am Sao Francisco über mir war und ich über ihr, die mir ihre Zunge so weit ins Ohr schraubte, dass mir schwindelig wurde.

Wenn ich sie sehe, ziehe ich sie in Gedanken aus und dann ist sie wie Vería, mit ihrem runden Fleisch an den Oberschenkeln, den hervortretenden Hüftknochen, die eine üppig wuchernde Scham flankieren. Die Haut zwischen ihren Brüsten ist etwas dunkler und ein weicher Flaum bedeckt ihren flachen Bauch wie feines Gras. Die beiden Vertiefungen an ihrem Steißbein haben die Größe meiner Fingerkuppen. Nackt steht sie vor mir, doch ihr Blick bleibt ernst, als wäre ihre Nacktheit ungewollt. Erst meine Berührung lässt die Starre in ihrem Gesicht zerfließen, verscheucht ihre Bewegungslosigkeit, lässt sie die Augen schließen und ihre Hände tasten, bis sie vor mir auf die Knie sinkt.

Ich hoffe sie ist unglücklich. Ich hoffe sie ist einsam. Eingesperrte Leidenschaften, unterdrückte Sehnsüchte wünsch ich mir in ihr, Hunger und Verzweiflung. Ihr Mann ist brav und harmlos. Längst schon hat er alle Karten auf den Tisch gelegt, ist entdeckt und erforscht, verbirgt nichts mehr, verwaltet nur noch. Nimmt sie ohne Gier, bedauert die Kürze seiner Lust mit wortlosem Gestreichel.

Vería kam als es nichts für mich zu tun gab, außer zuzuschauen wie der Schweiß in Bahnen Brusthaare an die Haut klebt und sich im Nabel sammelt wie das Wasser im Staudamm. Der einzige Mensch in einem Ort von Zehntausend, der genügend Geld hat. Einer, der sich vom Wohltätigkeitssinn reicher Europäer und Amerikaner ernährt, der beraten soll, wo es wenig zu beraten gibt und so, oft morgens schon im Rausch, dem Tag entgegendämmert, in der Hängematte hinterm Haus.

Meine Frau schon seit zwei Wochen in Deutschland um ihre Familie zu besuchen und ich satt und genervt von den schlechten Kopien amerikanischer Pornos, traf Vería am Markt und sagte was und sie sagte was, und in der verdammten Schwüle dieses Ortes gab es nichts, was einem besser vorkam, als den Schweiß von dunkler Haut zu lecken, den schweren Geruch reifer Papaya einzuatmen, durchzogen von feinen Spiralen eines fauligen Aromas, wie der Schlamm am Flussufer. Sich hineinsaugen lassen in den feuchten Strudel, auf der Zunge der Geschmack, den dieses Land in einem Körper hinterlässt.

Vería blieb drei Tage, dann hatte sie genug von mir. Später lernte meine Frau sie kennen, auf irgendeinem Fest am Ort. Bald schon trafen sie sich ein paar Mal die Woche und als ich für einen Monat in die USA flog, wohnte Vería in unserem Haus. Wir verließen Gloria ein halbes Jahr später. Die beiden Frauen verabschiedeten sich herzlich. Mir hauchte Vería einen Kuss auf die Wange und ich fand, sie roch plötzlich anders.

Meine Frau und ich führen eine Ehe, wie sie, glaube ich, irgendwie alle führen. Wir sind uns genauso oft nah, wie wir meilenweit voneinander entfernt sind. Es scheint etwas Lebendiges in dieser Beziehung zu sein, etwas, das ein- und ausatmet, uns zueinander zieht und dann wieder auseinander treibt.

Ich sehe die Nachbarin und denk an sie, wenn ich mit meiner Frau schlafe. Denk an sie, als wäre sie Vería und kann dem Fleisch unter mir überhaupt nichts abgewinnen, brauche die Vorstellung von Verías starkem Echo auf meine Gier, um überhaupt zu kommen.

An einem Morgen, die Kaffeetasse am Mund während meine Frau in der Zeitung blättert, frage ich sie, ob sie denn schon mal die Nachbarin gesehen hätte, die dunkle, die aussieht wie eine Brasilianerin. Meine Frau schaut mich an, mit diesem Blick, der überhaupt nichts mit mir zu tun haben scheint, obwohl er mir gilt, den ich hasse, weil er mich so unwichtig erscheinen lässt. Sie schaut mich an und sagt:
„Ich sehe sie jeden Tag“

Nicole

Beitragvon Nicole » 03.03.2008, 09:16

Hi Sam,

ich hab es gelesen und gelesen und gelesen ... und kann nur "ganz leise" kommentieren.
Schriebe ich "gefällt mir gut", würde ich lügen. Schreibe ich "gut geschrieben", ist das mindestens richtig.
Du schaffst es, daß der Protag unglaublich persönlich "rüberkommt". Er ist ehrlich, in dem was er sagt und so unehrlich in dem, was er tut.... Und es kommt unglaublich authentisch rüber.
Das Kopfkino des Protag in Verbindung mit der "realen" Veria und dem Betrug an seiner Frau kommt bei mir unterschwellig bedrohlich an. Macht es doch deutlich, wie "normal" das Leben erscheinen kann und (nun aus der Sicht der Ehefrau) wie weit weg der Partner in Wahrheit doch sein kann. Ich habe lange über das Ende gegrübelt. Wie er den Blick seiner Frau schildert "der überhaupt nichts mir mir zu tun haben scheint". Macht sie es am Ende gar wie er?
Ich sehe die Nachbarin und denk an sie, wenn ich mit meiner Frau schlafe.

Oder kennt sie ihren Mann so gut, daß sie einen möglichen Betrug im Vorfeld bereits unterbindet duch ihr
„Ich sehe sie jeden Tag“
?
Sieht sie die Nachbarin real, oder in seinen Augen?
Ein Text, der unbequem ist ... weil sehr authentisch und real. Gut geschrieben, viel Atmosphäre ...

Nicole

Gast

Beitragvon Gast » 03.03.2008, 23:40

... und kann dem Fleisch unter mir überhaupt nichts abgewinnen ...

dieser Satz entlarvt meiner Ansicht nach den Icherzähler und verstärkt meine ohnehin schon latent vorhandene Antipathie ihm gegenüber und überschattet zugegebenermaßen meinen gesamten Leseeindruck.
Ich habe mich gefragt, wie es dazu kommt und ich glaube ich habe die Antwort gefunden.
Es ist der verächtliche Ton, den Sam der verlogenen Handlungsweise seines Protagonisten noch hinzufügt.
Sollte da Selbstironie im Spiel sein, so hält sie sich für mich absolut verborgen.
Die Tatsache als solche, dass Partner, sich beim Sex ihres Kopfkinos bedienen, ist nicht tragisch oder außergewöhnlich an sich, aber hier wird die Betrogene auch noch abgewertet.
Falls das gezeigt werden sollte, so kann ich nur sagen, ja ist bei mir angekommen.
Ob der Protagonist möglicherweise mit wenig Selbstwertgefühl ausgestattet, seine Bestätigung darüber bezieht andere abzuwerten, ist nicht eindeutig.

Zunächst habe ich die Geschichte interessiert gelesen, begegnet mir hier doch in der Figur des Erzählers jemand, der mir aus anderen Sam-Geschichten bekannt vorkommt.
Allerdings lässt mich diese Erzählung nicht wirklich zum Kern vordringen. Es dreht sich eigentlich alles um Sex, wenn ich es genau nehme und zwar um den Sex, den der Protagonist hatte, haben möchte, hat und nicht hat.
Er ist in meinen Augen einfach eine egozentrische Type.

Mir reicht das für meine Leselust nicht. Ich mag solche Typen, auch im realen Leben nicht, neigen sie doch dazu den Makel bei anderen zu suchen, weil Selbstreflexion nicht ihre Stärke ist.

Geschrieben hat Sam die Geschichte in gekonnter Manier, da habe ich nichts zu meckern.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 04.03.2008, 00:35

Möchte-gern-Macho wird entlarvt

Die Geschichte ist flüssig geschrieben. Man liest sie in einem durch. Sam beschreibt hier einen Mann, der sich durch Frauen definiert und wie sich Frauen ihm gegenüber verhalten. In der Rückblende, in welcher der Mann sich an die echte Vería zurückerinnert ist dies hier ein gutes Beispiel dafür:
Erst meine Berührung lässt die Starre in ihrem Gesicht zerfließen, verscheucht ihre Bewegungslosigkeit, lässt sie die Augen schließen und ihre Hände tasten, bis sie vor mir auf die Knie sinkt.

Er ist fixiert auf diese Nachbarin, schwelgt in Phantasien und ist so frustiert über die Frau, die ihn keines Blickes würdigt, dass er hofft, sie sei unglücklich, gerät in einen richtigen Egomanentrip, alles ist negativ, er wertet seine Frau ab, fühlt sich von ihr gedemütigt
Meine Frau schaut mich an, mit diesem Blick, der überhaupt nichts mit mir zu tun haben scheint, obwohl er mir gilt, den ich hasse, weil er mich so unwichtig erscheinen lässt.

Dann wird er regelrecht entlarvt durch den Satz, den seine Frau am Schluss sagt und den er ständig denkt:
„Ich sehe sie jeden Tag“

Hieraus erlese ich, dass seine Frau genau Bescheid weiß über seine Begierde und dass sie nicht gestillt wird. Das gibt ihm den Rest. Das ist die endgültige Demütigung, was zwar nicht mehr geschrieben wird, aber auch nicht notwendig ist, im Gegenteil, es ist gut, dass es so offen bleibt am Schluss, ohne offen zu sein.
Diese Geschichte ist gekonnt geschrieben, die Details sind gut und sehr bildhaft dargestellt.
Saludos
Mucki

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 15.04.2008, 14:49

Die Banalität als Evolutionsvorteil des Menschen oder: was nötig ist, dass man mit wem kann

der Titel drückt für mich aus, wie vieles der Text eigentlich anspricht: Ich sehe sie jeden Tag: wer sieht wen jeden Tag? Der Typ die Schöne-strenge Exotin? Der Typ Veria über die streng-schöne Exotin? Der Typ seine Frau? Die Ehefrau die schön-strenge Exotin? Die streng-schöne Exotin die beiden Eheleute? Der Erzähler seine (erschaffenen) Figuren? Oder ist dieses "sie" gar keine Figur, sondern - mir fällt klein schlichteres Wort ein - so etwas wie die Hoffnungslosigkeit sich nicht ständig selbst zu erniedrigen, indem man woanders hinschaut, als in die Räume, die man sich zum Leben ausgewählt hat? (siehe hierzu übrigens auch die Beschreibung des Blickes der Ehefrau durch den Ich-Erzähler am Ende, sehr analog)?
Die Stärke des Textes macht es aus, dass, selbst wenn nur eine Ebene konkret gemeint/ausgeführt sein sollte (was nicht der Fall ist), diese Ebene doch die Kraft hat, die Phantasie des Lesers auch auf/in die anderen Felder zu stoßen: die ganze menschliche Banalität, die im Ausblick liegt, den man nicht in der Nähe/dem Bekanntem ertragen kann/vollziehen kann, weil es auf einen selbst zurückfällt, weil das Banale, das einen umgibt, die eigene Wahl ist. Und was die eigene Wahl ist: das ist man selbst.

Wenn man sich seine Umgebung, seine Wahlheimat, sein Zuhause, seine Räume und seine gewählten Menschen anblickt, dann kann man diesen Blick vor allem deshalb nicht ertragen oder vergisst darauf (und dann nicht mehr wagen), weil man auf sich selbst blickt, so wie jemand, der sich zu fett fühlt für sein "eigentliches" unerkanntes Inneres und trennt: das bin ich und das ist mein Körper und wenn ich letzteren ändere, wenn er anders würde, dann wäre ich auch jemand anders und die anderen würden es sehen (und wenn die anderen es sehen, dann kann auch ich es sehen). Zuletzt schaut er sich nur noch im Spiegel an, die ihn so zeigen, wie er gerade nicht ist (Werbung, Zeitschriften, Idole etc.).

die Armseligkeit, das Triste der Heimat (Deutschland, Ehefrau, Sachse) auf die der blick sich nicht lohnt, den man nicht wagen darf, ist ein blick auf die eigene Armseligkeit - und darum schweift der Blick in die Ferne ( Portugal, Veria, schöne-strenge) zu irgendetwas, was genau so fremd wie es ist, hoffentlich immer bleiben wird, denn dann ist gesichert, dass es nicht von der Armseligkeit infiziert wird. (denn nichts ist davor sicher, so zum Beispiel auch nicht die im Kontrast zur Ehefrau zunächst ja als erotisch attraktiver dargestellte strenge Schöne, die aber das gleiche mit ihrem Mann erlebt, der sie wohl ähnlich wie der Protagonist sich noch kolonialhafter als lebendes Abbild seiner Gegenphantasien ins Haus geholt haben wird, aber auch seine Lust versiegte ihr gegenüber, weil sie gegenwärtig ist, weil sie so absorbiert wird von dem Raum, die das Ich einnimmt und schafft, wenn es lebt).

Die Ehefrau des Protagonisten scheint gerade deshalb, weil sie immer das ist, abwesend (abwesend geschaut): auf die Handlung zugespitzt: wie viele Abbilder sind nötig, dass die beiden miteinander schlafen? da ist ein riesiger zeitlicher , räumlicher und personeller aufwand: jahre zurück liegt die dreitätige affäre mit veria, die ehefrau war verreist, nach Deutschland, dann wird die in Deutschland zurück die erinnerung von veria mithilfe der ihr eigentlich unähnlichen nachbarin neu belebt, nachdem die ehefrau zunächst verreist und dann wiederkommt und der mann in der zwischenzeit noch schlechte amerikanische Pornos geschaut hat - über mindestens drei personelle (veria - nachbarin - pornos), drei räumliche (Aufenthalt des Mannes in Portugal, Abwesenheit der frau in Portugal, Abwesenheit der Frau in Deutschland und Wiederkommen) und viele zeitliche Bedingungen scheint der Aufwand, der betrieben werden muss, damit der Mann überhaupt mit ihr kann, unerhört groß zu sein - dabei beschreibt er seine Ehe nicht als schlecht, und man glaubt ihm, von seiner Frau erfahren wir darüber hinaus kaum etwas, außer dass sie mindestens gleich kräftig im Kräfteverhältnis zu sein scheint (letzte Szene deutet das an), die behauptete Normalität scheint also bestätigt.

Aber da ist noch mehr zu finden: Warum roch Veria anders beim Abschied? Warum war da nie offene Feindseligkeit zwischen Veria und der Ehefrau? Was heißt das, dass die Ehefrau die schön Strenge jeden Tag sieht? Warum grüßt die schöne Strenge nie den Mann? Natürlich kann dort versteckte Gewalt liegen, wie Mucki es sagt: Die Ehefrau weiß eigentlich um alles Bescheid, weil auch sie eben Teil dieser Welt ist und das ihr Teil ist, den sie dazu beiträgt, dass das Leben so funktioniert, wie es bei den meisten funktioniert. Sie wusste um Veria und sie weiß um die schöne strenge, vielleicht sogar, dass auch diese nur für veria herhalten muss und wofür Veria herhalten muss. So kann es sein. Und so wird es sein!
Es kann aber auch sein, dass die Ehefrau ganz ähnliche Vorlieben hat wie ihr Mann (...)

Letztlich liegt die Magie der Geschichte für mich darin, dass gar nicht auflösbar ist, wie das gemeint ist - denn diese Auslegbarkeit in alle Richtungen zeigt, wie die Armseligkeit aufgrund der eigenen Schwäche überall und für jeden herrscht - laut dieser Geschichte (die allerdings kein Elend sondern nur Mittelmaßelend zeigt). Egal, wie man die Verhältnisse mischen würde (nicht zuletzt bilden Sachsenmann und schöne strenge auch ab, dass es auch kein Ausweg aus dem Tristen wäre, wenn Veria und der Protagonist zusammenleben würden, auch sie befiele das Gewöhnliche), keiner würde ohne Ausblicke das Leben mit einem anderen leben können. Die Kompensation der Phantasien ergeben sich notwendig aus der Wahl, wie man lebt: Das Leben bestimmt die Träume und die Träume das Leben und das Gemisch, was dabei rauskommt produziert ein stinknormales Leben - wahrscheinlich, weil es so energietechnisch am vorteilhaften ist für ein Menschenleben. Die Banalität scheint der wahre Evolutionsvorteil des Menschen zu sein - nur ist man dann eben auch banal, wie bedauerlich.

usw. (usw. muss man unter jeden guten Text schreiben können).

Finde ich sehr gelungen.
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Klara
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Beitragvon Klara » 16.04.2008, 10:25

Mehr davon!

Das ist ein sehr starker Text, man liest ihn so durch. Besonders gelungen ist der Schluss, der auch der Anfang ist, und der Mut zur Banalität macht mich frösteln.

Gut geschrieben, aber zu viele Nebenstränge auf einmal für einen so kurzen Text: Schade, dass die einzelnen Ansätze nicht weitergeführt werden, da sind ja so viele: Das Begreifen der eigenen Lust, Fremdenlust, Lust auf die Fremde, Lust auf das Fremde in sich selbst. Das Begreifen der eigenen Klischees, weil der Ich-Erzähler die Dunkelhäutige in ihrem Verzweiflungsrahmen lassen will, so wie ein Maler sein Modell so hinstellt, dass es für sein Bild gut passt - also: sein Begehren hat erstmal sehr wenig mit der begehrten Frau als Person zu tun. Mehr als Objektsein, Folie-Sein, Ablenkung von der Lustlosigkeit in der Ehe wird der Dunklen nicht zugestanden. Keine Einsicht, dass die Nähe, die er sich vorstellt, reine Fiktion ist, Einbildung. Er stellt sich vor, dass diese Nähe größer ist als die zu seiner Frau, weil er seiner Frau zu nah ist, zu abgenutzt sind die Berührungen, längst verklungen das Begehren, das Fremdsein, das Spannende. Das ist noch ein Ansatz: diese Ehe des Ich-Erzählers, in ihrer Langweile. Und ein anderer die Ehe des Sachsen mit der Begehrten. Stark die knappe Beschreibung von dessen - unterstellter - mangelhafter Fähigkeit als Liebhaber.

Man wird neugierig, möchte mehr wissen. Warum hat der Sachse eine Brasilianerin? Hat er sie aus dem Katalog? Woher kommt sie? Was denkt sie? Hat sie Heimweh?

In dem Text steckt eine Menge Arbeit, das merkt man. An der Stelle mit der Ehefrau scheint mir, dass der Autor keine Lust oder keine Energie mehr hatte, diesen Aspekt weiterzuverfolgen, das wird so als Pflichtübung gestreift, weil das ja auch noch erzählt werden muss, damit das Ende passt.

Ich würde gern mehr lesen. Das ist auf jeden Fall ein Text, der hängen bleibt (wie alle Texte dieses Autors bei dieser Lehrerin: Die Figuren in ihrer Brüchigkeit, in ihrer Zweifelhaftigkeit, in ihrer Geworfenheit, in ihrer - pardon für das Pathos - nicht verächtlich behandelten Menschlichkeit bleiben mir im Sinn, hängen sich da irgendwo fest).

Guter Text. Davon will ich mehr.

EDIT Eine Sache bleibt unklar: Ist der Ich-Erzähler oder Veria der Berater in Brasilien? Ich vermute, dass er es ist, der morgens berauscht in der Hängematte lag, aber der grammatische Bezug ist nicht klar genug.

Yorick

Beitragvon Yorick » 03.05.2008, 19:25

Anaerobe Leidenschaft


Ein Vergleich zu Max Frischs "Homo Faber" drängt sich nahezu auf, zumindest was das Schwüle betrifft, das Nüchterne und das unterdrückte Erotische.

Der Text zieht viel Stärke aus den harten, fast technischen Sätzen, den schnörkellos geschilderten Umständen und der fleischigen Fülle in den erotischen Szenen - soweit sie sich auf die Begegung mit Veria bzw. ihrer Widerspiegelung beziehen. Umso härter der Kontrast im eigenen Ehe-Liebesleben, der drastischer kaum formuliert sein könnte. Aber selbst in den erotischen Szenen ist der Blick präzise, wohl farbig, aber nicht romantisch. "Eine erotische Ausstrahlung von nahezu religiöser Strenge."

Darunter liegt noch ein "süßes" Geheimnis der Frauen - ein Geheimnis, von dem der Protagonist ebenso ausgeschlossen ist wie von der Erfüllung seiner leidenschaftlichen Sehnsüchte - und hierfür selbst die Schuld trägt. So gärt diese Leidenschaft abgschlossen von seiner Frau, von einer fremden Frau - und sich selbst. Diese Entfremdung findet sich in den harten Sätzen wieder, wird sonderbar gebrochen in der Selbstanschauung der Ehe und verliert sich in der Sehnsucht - die er jeden Tag sieht.

Ein Text, der einen schamlosen Einblick gewährt. Auch wenn man froh sein mag, diese Menschen bald wieder verlassen zu können, wird man ihre Geschichte nicht so schnell aus dem Kopf bekommen. Kompakt, reich, eindringlich, raumgebend. Verdammt klasse.

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 04.05.2008, 13:47

Lieber Yorick,

kannst du deine empfundenen Ähnlichkeiten zu homo faber näher ausführen? Ich meine, dass einiges ganz anders ist, es aber etwas gibt, was ich jetzt nicht genauer herausarbeiten kann, was tatsächlich analog ist. Mehr ein Gefühl zwischen Männern und Frauen, eine Art Abstand? ~ Finde ich aber schwierig genau zu treffen.

Liebe Grüße,
Lisa
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Yorick

Beitragvon Yorick » 04.05.2008, 20:56

Hallo Lisa,

darf man denn in diesem Bereich diskutieren? Ach, warum nicht. In geheiligten Hallen soll man singen.

Ich versuche es. Oben auf und äußerlich liegt natürlich der Aufenthalt in Palenque und die Fahrt zu Joachim - der Ingenieur Faber, der Techniker mit dem präzisen Blick inmitten eines wuchernden Humushaufens. Der Wiederspruch zwischen Genauigkeit/Wahrheit und Entropie. Später Sabeth, vieles unterschwellig.

Klar, in dem Roman steckt natürlich viel mehr, sind ja auch mehr Seiten... (nur am Rande: Nabokovs Lo-li-ta und Frischs Homo Faber - als müssten sich die Protagonisten über den Weg laufen).

>>zwischen Männern und Frauen, eine Art Abstand?

Du meinst eine Art Unterschied? Exakt.

Ich bin immer etwas misstrauisch bei Fragen, die sich mit "42" beantworten lassen...

Wie dem auch sei, falls das alles nicht hierher gehört, wird sich bestimmt ein Moderator finden, der alles an seinen Platz schiebt...

Also weiter.
Nicole, Gerda, Mucki, Lisa, Klara. Yorick. Odd man out...

Die Aspekte, die in den anderen Beiträgen herausgehoben worden sind, haben mich überrascht. Ich habe sie nicht wahrgenomen - es sind zumindest keine Fragen für mich, die sich mir stellen, bei diesem Text.

Jetzt kommt es. Warum? Weil ich ein Mann bin? Oder weil ich ich bin? Keine Ahnung, wirklich nicht. Aber ein Gefühl sagt mir, dass dieser Text aus einem Holz geschnitzt ist, der an einer grundsätzlichen Grundfesten unterschiedlich rüttelt. Etwas schwülstig jetzt, ich kann es nicht besser.

Erst einmal.


Gestern gab es mal wieder "Fight Club". Das rüttelt.


Ach, was mir noch einfällt: Welche Phantasien hat eigentlich die Ehefrau, wenn sie mit ihrem Mann schläft? Woran denkt sie, um überhaupt kommen zu können?

Lisa, was meinst du (nicht zu dem Satz zuvor, sondern zur 42)?

Viele Grüße,
Yorick.

Sam

Beitragvon Sam » 05.05.2008, 13:35

darf man denn in diesem Bereich diskutieren?


Lieber Yorick, als Moderator dieser kleinen Abteilung kann ich dir sagen:
Man darf.

Außer, man ist der Autor!

Deswegen bin ich auch schon wieder weg!

LG

Sam

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Beitragvon Lisa » 27.06.2008, 15:21

Lieber Yorick,

ich sah dich gestern online - da dachte ich an diesen Thread - durch meine Abschlussarbeit kam ich nicht zu einer Antwort, aber ich habs nicht vergessen. Vielleicht ist es ja noch nicht zu spät.

Zur 42, da hast du natürlich Recht, die mir zu unterstellen, das war etwas vage. Das entspringt vornehmlich dem Umstand, dass es einige Zeit her ist, dass ich den Faber gelesen habe, intuitiv aber irgendwas (42vierzigartiges) erkannte, was mir an deiner Vergleich gefiel. Wenn ich jetzt versuche, etwas genauer einzusteigen, glaube ich, dass es vielleicht gar nichts mit Frauen und Männern zu tun hat, sondern mehr mit einer bestimmten Darstellung von männlicher Perspektive/Empfindung, die eigentlich doch sehr künstlich, da kondensiert wirkt: nämlich - eine Art männlicher Süßtriebeffekt, den es real so vorherrschend gar nicht gibt (ich meine so klar, sonst wirkt er eben mit dem anderen zusammen, dem Alltagsentscheidungen, Trägheit und tausend anderen) deshalb kommt dir vielleicht auch der Lolitaprotagonist als drittes in den Sinn. Den sehe ich da auch. Es gibt einige fiktive Texte, die so arbeiten: Dass sie ihren Effekt über etwas Kondensiertes erzielen, dass wie ein Fluchtpunkt fungiertund so wirkt, auch wenn man selbst ganz woanders steht, es "zieht" dann (in der Magengrube, im Gehirn, im kultivierten Kauderwelsch irgendwo in einem).
Wenn ich mich an Homo Faber erinnere (und noch stärker an Montauk), dann sehe ich das wieder, am stärksten muss ich dabei an den Schlangenbiss, Lynns Haare im Montauk (der Zopf, wie er baumelt, während sie durch die Pfade gehen) und den Namen Sabeth denken...das hat für mich dieses süße Gift. Und ich finde Sam arbeitet in diesem Text auch mit diesem "Saft", es ist ein wenig als wären die Buchstaben kleine Schweißperlen der Leserseelen. Das klingt dann wohl schon wieder zu esoterisch, aber das wäre doch auch mal ein interessanter Charakterzug eines Computers .-).

Dass das Ganze dann doch wieder mit Mann/Frau-Sache zu tun hat, ist wohl nur insofern der Fall, als ich eine Frau bin und dementsprechend darauf reagiere.

Übrigens hab ich zur Ehefrau und ihren Phantasien und sogar Taten die gleichen Vermutungen, Fragen (an-)gestellt (...) :-)

liebe Grüße,
Lisa
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Yorick

Beitragvon Yorick » 18.07.2008, 18:00

Hallo Lisa,

gerade diese Langsamkeit - die Zeit, die man sich nehmen kann - macht ein Forum interessant. Ein Gespräch über mehrere Wochen - welch ein Luxus.

als wären die Buchstaben kleine Schweißperlen der Leserseelen


Welchem Autor würde bei diesen Worten nicht ein glückliches Lächeln über die Lippen huschen...

als ich eine Frau bin und dementsprechend darauf reagiere.


"dementsprechend"? : )
Und überspitzt: ich auch. : ))


Ich fürchte, ich habe meinen Vorrat an tiefsinnigen Bemerkungen bereits erschöpft (und grübele noch über den "Süßtriebeffekt"...)

Es wird bestimmt noch mehr Texte geben, die eine esoterische oder schweißperlende Beschäftigung mit "dementsprechend" geradezu einfordern. Fein.

Viele Grüße,
Yorick.

(ach: "ich sah dich gestern online" klingt irgendwie total nett. Hat so etwas herzliches, ein kurzer Blick auf dem Flatrateboulevard)

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 20.07.2008, 14:28

Lieber Yorick,

überspitzt bist du also auch eine Frau? fein das!

da mein Vorrat auch erschöpft ist: wir treffen uns sicher nochmal 2009 .-)


liebe Grüße,
antiluxeriöse 3-Tage-Schnellantworterin
Lisa
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Maija

Beitragvon Maija » 20.07.2008, 22:02

Hallo Yorick,

Ach, was mir noch einfällt: Welche Phantasien hat eigentlich die Ehefrau, wenn sie mit ihrem Mann schläft? Woran denkt sie, um überhaupt kommen zu können?


Musste darüber schmunzeln. Sicherlich nicht immer wie die Männer an andere Frauen! :lachen0023:
Ehrlich? Am Anfang meiner Ehe habe ich oft nach einem verflossenem gerufen. :mrgreen:
Dies hat meinem Mann sicherlich gestört. Da ich aber weiß, das jeder Mann immer an eine andere Frau denkt, spreche ich dieses Thema nicht an.
Immerhin bin ich 21 Jahre glücklich verheiratet...
Gerne gelesen!

Lieben Gruß, Maija


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