Komm Mädchen!

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Sam

Beitragvon Sam » 29.09.2008, 15:34

Komm Mädchen!


Komm Mädchen, lass uns ficken!
Einsam bist du noch lang genug,
wenn du auf U-Bahnhöfen stehst,
zwischen Zeitungen von gestern.

Komm Mädchen, zeig mir deine Haut!
Das schwarze Kleid trägst du noch oft genug,
wenn du Blumen
an graue Steine legst.

Komm Mädchen, dreh dich um!
Steif bist du noch lang genug,
wenn du in deiner letzten Wohnung
die Möbel stellst.

Komm Mädchen, schrei so laut es geht!
Schweigen kannst du schon bald genug,
wenn deine Kinder
dein letztes Wort geerbt haben.

Komm Mädchen, greif richtig zu!
Streicheln kannst du noch oft genug,
wenn aus deinem Mann
ein Hund geworden ist.


Komm Mädchen, lass uns ficken!
Einsam bin ich schon lang genug,
auf U-Bahnhöfen
zwischen Zeitungen von gestern.

Komm Mädchen!
Leg deine Blumen
an meinen grauen Stein!

Klara
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Registriert: 23.10.2006

Beitragvon Klara » 29.09.2008, 17:17

Hui! Kraftvoller Text!

Ich bin mir nicht sicher, ob das Schema so strikt eingehalten werden muss - aber: gerne gelesen und mitreißen lassen : )

Klara

Nicole

Beitragvon Nicole » 30.09.2008, 09:36

Hi Sam,

So ganz warm werde ich mit diesem Text nicht.
Viele Deiner Texte sammeln mich mit den ersten Worten auf und ich bedauere, daß danach unsere Reise so schnell zu Ende ist... Und hier ist es nicht so und ich zermartere mir das Hirn, warum das so ist.
Vielleicht ist es der sehr formale Aufbau. Vielleicht liegt es an der unpersönlichen Anrede "Komm Mädchen" in Kombination mit dann doch sehr persönlichen "Ansagen". Tu dies, tu das, fick mich, fass mich fest an... im krassen Gegensatz zu den irgendwie weichen Formulierungen dessen, was sie noch lange genug wird tun können. Hier finde ich wieder die von mir so geliebten "Sahneformulierungen".
Streicheln kannst du noch oft genug,
wenn aus deinem Mann
ein Hund geworden ist.

Schweigen kannst du schon bald genug,
wenn deine Kinder
dein letztes Wort geerbt haben.

Würdest Du mich fragen, was ich ändern würde, dann wäre es vermutlich die letzten Strophe und deren Setzung. In meiner Lesart verklingt hier das Befehlende und wird "zur leisen Bitte". Es verklingt für mich zögerlich, ohne Ausrufezeichen mit Pause zwischen dem "komm Mädchen" und dem "Leg deine Blumen an meinen grauen Stein". So als fordert der Text den Leser am Ende auf, gedanklich ein "bitte" am Ende wortlos zu ergänzen.

Nicole

scarlett

Beitragvon scarlett » 30.09.2008, 11:27

Lieber Sam,

dieses Gedicht lässt mich auch nach wiederholtem Lesen zwiespältig zurück.
Es versucht, hinter einer betont schnoddrigen, direkten, ja vulgären Sprache einen bitteren und auch zarten Ton zu verstecken sowie das eigentliche Thema des Gedichtes: Einsamkeit.
Diese Diskrepanz finde ich einerseits spannend und gut. Andererseits frage ich mich, ob man so verfahren kann, angesichts des Inhalts (wir haben z Z Wiesn und was das bedeutet, weißt du sicherlich).

Durch das stilistische Mittel der Wiederholung und Variation bekommt der Text eine Eindringlichkeit und erfährt eine Steigerung, die dann am Ende kippt und die Rollen von LI und Du sind vertauscht.
Diese Dynamik im Text wirkt wie ein Sog, dem man sich kaum entziehen kann.

Insgesamt ist mir der Text aber doch zu langatmig, die Wiederholungen wirken manchmal ermüdend.
Und als "Liebesgedicht" würde ich das auch nie und nimmer bezeichnen.

Schriebe ich jetzt "gern gelesen", entspräche das nicht ganz der Wahrheit. Vielmehr ich musste es immer wieder lesen, weil es mich an - und aufregt gleichermaßen.

Liebe Grüße,
Monika

P.S. Ich werde dich immer am "Südpfad" messen ... Tatsache. Leider ... oder Gott sei Dank, du kannst es dir aussuchen ;-)

Mucki
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Beitragvon Mucki » 30.09.2008, 11:50

Hi Sam,

die zwei Passagen, die mich sehr ansprechen, sind genau die, die Nicole herauspickte. Die restlichen Zeilen befremden mich durch den Ton. Zudem würde ich in einem Liebesgedicht niemals das Wort "ficken" benutzen. Ich finde, dass es einfach nicht dazu passt. Dazu ist es zu derb und zu vulgär.
Saludos
Mucki

Sam

Beitragvon Sam » 30.09.2008, 17:02

Ihr Lieben,

vielen Dank für eure Meinung!


Hallo Klara,

schön, wenn du dich hast mitreißen lassen. Das strikte Schema habe ich gewählt, weil es m.M. die Eindringlichkeit verstärkt (ähnlich wie die Wortwiederholungen)

Liebe Nicole,

auch wenn dich dieser Text nicht so anspricht, freut es mich dennoch, dass du wenigsten ein paar Stellen für dich gefunden hast, die dir gefallen.
Was das Ende betrifft, so habe ich das Ausrufezeichen bewusst gesetzt, eben weil es nicht zögerlich kommen soll, sondern in seiner Vehemenz den vorgestellten Aufforderungen gleichgestellt ist.
Eine Änderung im Tonfall, oder auch ein "Bitte" (wenn auch nur durch eine vom Leser auszufüllende Leerstelle angedeutet) würde eine Realativierung des Gesagten bedeuten, die ich dem LyI, so wie ich ihn sehe, nicht zutraue.

Hallo Monika,

Einsamkeit? Ja, ich denke schon. Und Verbitterung.

Andererseits frage ich mich, ob man so verfahren kann,

Diese Frage beantwortet wohl jeder Leser für sich. Und nicht immer versteckt sich etwas hinter einer derben und vulgären Ausdrucksweise, sondern findet darin einfach seinen Ausdruck. Einsamkeit ist nicht unbedingt eine zarte Pflanze hinter einer Mauer aus Verbitterung, sondern manchmal auch nur einfach das Material, aus der sie gebaut wurde.

Und als "Liebesgedicht" würde ich das auch nie und nimmer bezeichnen.

Naja... jedenfallls kein romantisches ;-)

Hallo Mucki,

Zudem würde ich in einem Liebesgedicht niemals das Wort "ficken" benutzen. Ich finde, dass es einfach nicht dazu passt.

Nur gut, dass wir nicht alle gleich sind. Und für mich hat das Thema Liebe sehr viele Facetten - von Geigen im rosafarbenen Himmel bis hin zum hingerotzten, verbitterten Blick auf das, was manche für Liebe halten.


Habt nochmals herzlichen Dank!

Liebe Grüße

Sam

Mucki
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Beitragvon Mucki » 30.09.2008, 17:37

Hi Sam,

liege ich richtig, wenn ich sage, dass dies ein verbitterte "Abrechnung" mit dem Thema Liebe aus Sicht des LI sein soll?
Ok, dann funktioniert es.
Saludos
Mucki

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ferdi
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Beitragvon ferdi » 01.10.2008, 00:49

Hallo Sam!

Natürlich verstärkt das starre Schema die Eindringlichkeit, wie du sagst - allerdings auf eine etwas mechanische, ermüdende Weise, die ich doch auch als unangenehm empfinde. Von daher hielte ich einiges davon, dem Leser ungefähr in der Mitte des Textes durch eine kleine Variation zu neuer Aufmerksamkeit zu verhelfen ;-)

Inhaltlich die alte Mischung von / das alet Spiel "Vanitas" und sagen wir mal "Erotik", wobei du die Gewichtung sehr weit in Richtung der letzteren verschoben hast. Vielleicht ein Zeichen der Zeit?! Jedenfalls, unter diesem Blickwinkel passt der "Mann als Hund" nicht so wirklich dazu - was natürlich nicht ausschließt, dass er es unter einem anderen Blickwinkel, der mir momentan nur nicht auffällt, sehr wohl tut :-)

Insgesamt schon ein sehr schöner Text :-)

Ferdigruß!

PS Kennst du eigentlich das Barock-Sonett Mientras por competir con tu cabello von Luis de Gongora?! Mehr Vanitas, weniger Erotik (obwohl vorhanden), insgesamt aber eine unglaubliche Konstruktion und ein wunderbares Beispiel dafür, dass ein Gedicht strengstens gebaut und doch unendlich spannungsreich sein kann. Eines meiner Lieblingsgedichte - äh, merkt man das irgendwie :pfeifen:

Ich sehe, und deswegen komme ich drauf, auf jeden Fall viele vergleichbare Aspekte zwischen deinem Werk und dem von Gongora.

-F.
Schäumend enthüpfte die Woge den schöngeglätteten Tannen. (Homer/Voß)

Sam

Beitragvon Sam » 03.10.2008, 09:49

Hallo Mucki,

direkt als Abrechnung würde ich es nicht bezeichnen. Verbitterung aber auf jeden Fall.


Hallo Ferdi,

zunächst:

Das Gedicht von Gongora ist sehr gut. Die von dir angesprochene "Vanitas" kommt dort wunderbar zum Ausdruck, ebenso die Erotik - allerdings um ein Vielfaches subtiler als bei meinem Gedicht. Aber du hast Recht, es gibt da (inhaltlich/thematisch) vergleichbare Aspekte.

Das starre Schema ein wenig auszubrechen könnte dem Gedicht scheinbar wirklich gut tun. Mal sehen, ob mir da eine Idee kommt, ohne dass es für mich plötzlich "fremd" wird.

Herzlichen Dank für deine Anregungen!

Liebe Grüße euch Beiden

Sam

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 04.10.2008, 20:53

ist ja vielleicht vollkommen überflüssig, dass ich jetzt auch noch meinen Senf dazugebe, aber ich mag Gedichte, in denen ich Verbitterung spüre einfach zu sehr, um es ungesagt zu lassen: hier ist mir die Verbitterung zu plakativ und auch die Wende in den letzten zwei Strophen überzeugt mich nicht und überrascht mich nicht. Ich finde die Idee so gut, dass ich jetzt so hart über die Umsetzung rede, wenn Du verstehst, was ich meine (ich hoffe, du verstehst das). Aber vorsichtshalber könnte ich es vielleicht noch ein wenig zu erklären versuchen: also dieses fordernde der ersten Zeile: dieses komm Mädchen, ich mag nicht, wie das (für mein Leseempfinden) irgendwie zurückgenommen wird durch die zweite Zeile in der ja durchweg steht, was sie noch lange genug kann, also irgendwie eine Rechtfertigung bietet für die Forderung, eine Erklärung, und damit ist die Forderung gar nicht mehr so fordernd, nicht so hart, wie sie sich anhört, aber vielleicht hast du genau das gewollt und dann ist es einfach eine Frage des Geschmacks...

Maija

Beitragvon Maija » 05.10.2008, 20:30

Hallo Sam,

Also mein Geschmack ist das auf keinen Fall und ich las diesen Text mit großen Augen! :eek:
Du meine Güte, dachte ich gleich! Was hat den Kerl so verbittern lassen? Wut/Hass?
Da ich immer so neugierig bin, hätte ich gerne gewusst, was die zweite Hälfte (Verflossene - LyI) so geschrieben hätte?
Ficken finde ich schlecht gewählt! Habe schon bessere Dinge von dir gelesen! Hier liegt die Schuldzuweisung nur auf deiner Seite(lyI). Auch ein LI hat ein Gegenüber!

LG., Maija

Nicole

Beitragvon Nicole » 06.10.2008, 09:38

Hi Maija,

schön, dich wieder hier zu lesen!

Da ich immer so neugierig bin, hätte ich gerne gewusst, was die zweite Hälfte (Verflossene - LyI) so geschrieben hätte?


Sag, haben wir den selben Text gelesen? Wo nimmst Du die Verflossene her? Ich verstehe zwar Muckis Gedanken der "Abrechnung", aber ich lese hier keine personifizierte "Verflossene", ich lese hier "Abrechnung" mit der Liebe als solches...

Ficken finde ich schlecht gewählt!

Ich grübele schon länger, weil auch Mucki sich an dem Wort "ficken" stört...
Die Szene, die ich vor Augen habe, hat weder etwas mit Romantik zu tun, noch mit Erotik, es geht lediglich um die Befriedigung eines Triebs. Was soll der Typ denn sagen "komm Mädchen, lass uns Liebe machen?" oder "komm Mädchen, schlaf mit mir?" oder "komm, Sex machen?"
Die Ansprache ist der Situation angemessen, finde ich. Billig, unpersönlich und vulgär.

Hier liegt die Schuldzuweisung nur auf deiner Seite(lyI). Auch ein LI hat ein Gegenüber!

Hier stehe ich völlig auf dem Schlauch, hilf mir bitte 'runter... Meinst Du, das LI weißt einer Verflossenen die Schuld zu?

Nicole

Maija

Beitragvon Maija » 06.10.2008, 17:32

Hallo Nicole,

Wo nimmst Du die Verflossene her? Ich verstehe zwar Muckis Gedanken der "Abrechnung", aber ich lese hier keine personifizierte "Verflossene", ich lese hier "Abrechnung" mit der Liebe als solches...


Ja, ich lese dies auch als eine Abrechnung mehrerer oder einer Person/Frauen. Eine Abrechnung solcher Art, hat immer ein Gegenüber. (s.Streicheln kannst du noch oft genug,wenn aus deinem Mann)

Danach folgt später:

Komm Mädchen, lass uns ficken!
Einsam bin ich schon lang genug,

Das LyI spricht von Einsamkeit (also kann man doch davon ausgehen, dass, das LyI verlassen ist und einsam/ sprich die Verflossene-n geschichte sind)

Was soll der Typ denn sagen "komm Mädchen, lass uns Liebe machen?" oder "komm Mädchen, schlaf mit mir?" oder "komm, Sex machen?"


Der Typ kann sagen was er will! (Aber: s. scarlet vulgären Sprache einen bitteren und auch zarten Ton zu verstecken sowie das eigentliche Thema des Gedichtes: Einsamkeit.)
Die Sprache ist hier Wut/ Hass - da sie vulgär ist, meine ich.
Wenn der Typ aber so auf sein Gegenüber reagiert, sollte auch die andere Seite bei solch einem Thema beleuchtet werden, denke ich.
Deshalb ist der Text für mich zu einseitig/egoistisch und nicht ausgereift oder in meinen Augen zu primitiv geschrieben. Deshalb gefällt er mir nicht sonderlich, muss ja auch nicht. ;-)

LG., Maija

Oldy

Beitragvon Oldy » 08.10.2008, 11:39

Hallo,

das meiste ist schon gesagt.
Das sind so schöne Wendungen wie ...

wenn du Blumen
an graue Steine legst.


wenn deine Kinder
dein letztes Wort geerbt haben.


... und dann dieses schon angesprochene plakative "Schreien", was mich als Leser abstößt, was mir so effektheischend daherkommt.
Sprache darf hart sein, gerade in der Lyrik. Wenn sie allerdings nur noch Zweck ist, hat sie ihre Wirkung verfehlt. So geht es mir hier mit dem aufdringlichen "ficken", dass ist mir zu laut, zu Vordergründig.
Der Text lässt mich zwiespältig zurück.

lg
Uwe


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