Der Zweifel

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 29.08.2008, 21:03

Der Zweifel

Der Mann hängte den Zweifel in den Schrank
des kleinen traurigen Jungen
mit dem schwarzen Koffer
(Er wusste dass der Junge einen Schrank hatte
aber nicht wo er wohnte
Das machte die Sache sicherer)
Das Kind war noch sehr jung
So jung dass sich seine Haare lichteten
weil der Glanz seiner Augen vor Jahren einem Rangierunfall zum Opfer gefallen war
Der Mann hängte den Zweifel in den Schrank dieses Jungen
weil er wusste wie sie betteln konnte
Und wenn sie einzog
würde sie jeden Tag um einen Zipfel des Zweifels betteln
und behaupten dass sie ihn als Hosenträger brauchte
als Hosenträger für eine schildkrötengrüne Hose
der die Lust zu laufen längst vergangen ist
Damals
sagte sie
als noch jemand mitging
im Schein des sonnigen Spinnennetzes
Was ist denn das für eine Verletzung
die im Bahnwärterhäuschen sitzt
und wartet bis ihr ein Bart wächst
Sie könnte Kinder bekommen
und sich von Rattengift ernähren
wenn die Verwunderung knapp wird
weil er Socken im Koffer hat
und Haarwasser
und vielleicht sogar Hoffnung
aber der Zweifel
hängt im Schrank
und niemand zieht ein

aram
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Beitragvon aram » 10.09.2008, 20:03

liebe urlaubende xanthippe,

war jetzt so lang weg, dass ich keine ahnung hab, wie du deine texte schreibst bzw. ob dir daran liegt, weiter mit ihnen zu spielen - mit der 'surrealen gequältheit' geht es mir in diesem fall ein bisschen wie schwarzbeere; ich denke aber, dass das eher an bestimmten eigenheiten des textes liegt, als an seiner anlage / gesamtkomposition - die ich gelungen finde.

wäre es 'mein text', wäre ich mit einigen aspekten noch nicht ganz zufrieden, besonders im zweiten teil / gegen ende - hier würde ich mir sprache und bilder wünschen, die von sich aus (d.h. ohne sie zu 'verstehen') etwas mehr 'glimmen', kraft und subversivität entwickeln, um den text gegen schluss nicht etwas 'lang(weilig)' oder 'abfallend' erscheinen zu lassen.

'sich von rattengift ernähren' finde ich (in obigem gesamt-sinn, nicht für sich gelesen) zu dramatisch, als würde ein drastisches bild bemüht, um die gewünschte leichte steigerung zu erzielen - das sticht aber heraus, schwächt das ganze in meiner (natürlich völlig subjektiven) wahrnehmung eher.

'gruseliger', stärker fände ich den direkteren übergang (zur begründung):

Sie könnte Kinder bekommen
wenn die Verwunderung knapp wird
weil er Socken im Koffer hat


auf ähnliche art kann ich mir einige kleinere chirurgische eingriffe vorstellen - eine 'aramsche spielfassung' könnte lauten:


Er wusste dass der Junge einen Schrank hatte
Das machte die Sache sicherer
Er hängte den Zweifel in den Schrank
des traurigen Jungen
mit dem schwarzen Koffer
Das Kind war noch sehr jung
So dass sich seine Haare lichteten
weil sein Augenglanz vor Jahren einem Rangierunfall zum Opfer gefallen war
Der Mann hängte den Zweifel in den Schrank dieses Jungen
weil er wusste
wenn sie einzöge
würde sie jeden Tag um einen Zipfel des Zweifels betteln
und behaupten dass sie ihn als Hosenträger brauche
als Hosenträger für eine schildkrötengrüne Hose
der die Lust zu laufen längst vergangen ist
Damals
sagte sie
als noch jemand mitging
im Schein des sonnigen Spinnennetzes
Was ist denn das für eine Verletzung
die im Bahnwärterhäuschen sitzt und wartet
bis ihr ein Bart wächst
Sie könnte Kinder bekommen
wenn die Verwunderung knapp wird
weil er Socken im Koffer hat
und vielleicht ein Hoffen, aber niemand zieht ein
und der Zweifel
hängt im Schrank


(diese fassung nimmt natürlich keine rücksicht auf möglicherweise bedeutende einzelne bilder /inhalte, sie ist also kein vorschlag, nur illustration)

je mehr ich mich mit dem text befasse, desto stärker spricht er zu mir auch in den einzelbildern. sehr gern gelesen.

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 18.09.2008, 21:49

Liebe Xanthippe,

ich finde aram hat deinen Text treffsicher "durchgespannt" ohne ihm den erzählerischen Charakter zu nehmen, den ich nämlich sehr fein und wichtig finde, auch wenn ich auch dachte, der Text könne an einigen Stellen noch überarbeitet werden, was ja nicht heißt, dass die Erzählweise generell eine falsche ist. Besonders die Einbettung des "sie" finde ich in arams Version gelungen - da war ich in deiner Version erst orientierungslos.

Ich las den Jungen und den Mann als einen. Auf anderer Ebene kann man sicher überhaupt alle Figuren als eine lesen, aber ich meine jetzt als zeitliche Spanne des Mannes, die seine beiden Extreme widerspiegelt zwischen denen er sich auf die "sie" zubewegen kann und wegbewegen muss. Das würde mir in einer Kurzgeschichte schon etwas zu einfach zu lesen sein, hier in einem Erzählgedicht gefällt mir (diese von mir sicherlich selbst inszenierte) Leseweise aber sehr.
Für mich erzählt der Text von der Mutlosigkeit der vom Tage befallenen Seele.

Das ist so ein Text mit einem Geschmack, wie ein Bonbongeschmack, den man als Kind sehr geliebt hat und sich plötzlich daran erinnert. Ich mag die Intensität, die die Illusion der Sinnlichkeit hervorruft.


Der Text erinnert mich übrigens ein wenig an Estragons Stil .. und ein bisschen an "Regen" von dir. :-)


Liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 29.09.2008, 21:13

lieber aram, liebe lisa,

das ist ganz wunderbar nach langer internetabstinenz hier solche kommentare zu finden. Menschen, die sich wirklich mit meinem "Werk" auseinandergesetzt haben. Und damit arbeiten, Aram. Ich bin ganz glücklich und finde Deine "Version" ganz außerordentlich gewinnbringend. Damit werde ich arbeiten und mich ganz bestimmt noch einmal melden, wenn irgendetwas weiter gereift ist.
Ist schön wieder zu Hause zu sein. Und im Blauen Salon.
xanthi


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