Wortzeit

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
wüstenfuchs

Beitragvon wüstenfuchs » 03.10.2008, 19:48

wie rohes Fleisch fällt mir der Text aus dem Maul,
ich würge an Knochen + Haaren
über Eiszeiten und Sintfluten hinweg speie ich Laute
im Rhythmus des Atems
bette mein Leben hinein.

Seid still
damit ich nicht ersticke.

Die Zeit tropft, Kathedralen zerfallen.
Worte tauchen auf,
gewinnen Gestalt und versickern im Nichts.

Steinzeit - Waldzeit - Meerzeit.

Längst habe ich den Ort verloren.
Schaum steigt auf und gurgelnde Laute.

Seid still
ich verstumme.
Zuletzt geändert von wüstenfuchs am 05.10.2008, 13:51, insgesamt 1-mal geändert.

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 04.10.2008, 12:31

Ich versuche es mal wieder. Weil mich Deine Texte provozieren (also jetzt nicht wütend machen, oder so, aber irgendwie sprechen sie mich an und auch wieder nicht, ich mag das wenn ich so einen Widerstand empfinde beim Lesen, weil ich etwas nicht verstehe, oder vielleicht mehr verstehe, als ich eigentlich verstehen will) Aber zurück zu deinem Text: ich finde da sind wieder sehr gute Bilder drin, der Text der aus dem Maul fällt, wie rohes Fleisch, an dem man würgt, wie an Knochen und Haaren, ja der ganze erste Absatz sagt ganz viel über das Schreiben, über Worte, über die Grenzen der Sprache, über die Schwierigkeit dieser Art des Atmens.
Aber wer soll dann still sein? Die Worte? Das Leben? der Rhythmus anderer Atem?
Und die tropfende Zeit, die zerfallenden Kathedralen finde ich dann doch zu harmlos, was heißt harmlos, aber zu verbraucht für diesen bildgewaltigen Einstieg, vor allem weil mir das Wasserbild der letzten Zeile so gefällt, ich sehr Worte aus dem Schlick auftauchen, die weggespült werden von der Brandung, aber das ist natürlich nur mein Bild...
Und dann die Zeile: Steinzeit - Waldzeit - Meerzeit. Wie eine Zusammenfassung des bisher Geschriebenen, zu der ersten Strophe passt für mich sehr gut die Überschrift Steinzeit, aber Waldzeit, wo ist die? In der erbetenen Stille? Das ist mir zu wenig, zu wenig Wald, den ich sehen, hören und riechen kann.
Und ein lyrisches Ich, das den Ort verloren hat, ja welchen Ort denn? Warum überhaupt einen Ort? und dann bist du wieder im Wasserbild, bis das lyrische Ich verstummt.
Wenn ich mein Geschriebenes mal selbst zusammen zu fassen versuche: sehr bildreich und wortgewaltig, überhaupt gewaltig, an vielen Stellen sehr treffend, nur noch nicht überall konsequent...
und jetzt verstumme ich ;-)

Mucki
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Beitragvon Mucki » 04.10.2008, 19:38

Hi Ben,

dein Gedicht muss man mehrfach lesen, es ist spannend. Das beginnt schon beim Titel, den ich wie eine neue Zeitdimension lese.
Bin mal kursiv mit Anmerkungen/Fragen im Text:

wie rohes Fleisch fällt mir der Text aus dem Maul,
ich würge an Knochen + Haaren --> diese beiden Zeilen finde ich klasse! Das + aber ausschreiben: und
über Eiszeiten und Sintfluten hinweg speie ich Laute --> Eiszeiten und Sintfluten ist mir zu dick aufgetragen, hier würde ich andere Zeiten wählen
im Rhyhtmus des Atems --> kleiner Fehler: Rhythmus
bette mein Leben hinein.

Seid still
damit ich nicht ersticke. --> Hier denke ich, dass das "Seid still" sich an die Worte richtet, die das LI überfluten

Die Zeit tropft, Kathedralen zerfallen.
Worte tauchen auf,
gewinnen Gestalt und versickern im Nichts. -->Diese Strophe gefällt mir sehr gut.

Steinzeit - Waldzeit - Meerzeit. --> ??? Sehe ich zwiespältig, passt m.E. irgendwie nicht, kann ich nicht in dem Gesamtkontext einordnen.

Längst habe ich den Ort verloren. --> da ich dies auf die Steinzeit - Waldzeit - Meerzeit - beziehe und das irgendwie nicht passt. Vllt. lese ich aber auch falsch.
Schaum steigt auf und gurgelnde Laute.

Seid still
ich verstumme. --> Hier verstehe ich erstens nicht, wer jetzt still sein soll und warum LI verstummt. Mir fehlt hier die Logik. Passt das zusammen, wenn beide quasi still sind?

Soweit meine Anmerkungen. Auf jeden Fall finde ich dein Gedicht interessant, eines, über das man nachdenken muss, es nicht so einfach liest und zum nächsten übergeht.
Saludos
Mucki

moshe.c

Beitragvon moshe.c » 05.10.2008, 22:55

Mir ist es irgendwie zu groß.

MlG

Moshe

Peter

Beitragvon Peter » 06.10.2008, 09:58

Hallo Wüstenfuchs,

ein Gedicht, das mir sehr nahe kommt. Es ist diese Ortsuche des Wortes; auch für mich etwas Grundsätzliches, was heißt: Mache ich die Worte auf, ist es eigentlich immer zuerst dieses: die Frage nach dem Ort; gibt es ihn, und warum gibt es ihn nicht? Das Wort in einem Lauf; das Wort aufgespannt; Fernen, Höhen; ein Wort-Ton, als hätte er sich verspiegelt und in seine Spiegel verlaufen; wo ist die Mitte, wo ist der Ort? Dinge, nur Äußeres, es fehlt die Gegenkraft, dahin, dieses Aufgerissene, Rohe, also Unzubereitete, besser, glaube ich: Unvorbereitete, wenigstens anfänglich hinzuneigen zu dem, was es sein könnte: ein Ort. Da gehen Gewalten. Erahnt man, wie klein der "Nennenspunkt" ist, an dem erst ein Eingang wäre ins Sagen, gehen Gewalten; es ist ganz offensichtlich.

"Wortzeit", dem Titel des Gedichtes nach, ist... keine Zeit, oder vielleicht: die noch nicht erfundene. Wortzeit, höchstens ein Wetterleuchten; eines seinem Schein nach, aber an sich "unbegangen", unbetreten. Eine Wortzeit, die Schaum ist, wie ein loser Traum. Das Maß fehlt, vielleicht das Bodenhafte, weil es sich schon vorweg bricht; nicht erst ist das Wort und dann die Brechung, sondern die Brechung schon zuvor. Wie wäre also irgendetwas zu sagen? Wo ein Ort?

Eine Parallelaussage des Gedichtes, also etwas das man längs erspüren kann, scheint mir diejenige, dass es gewissermaßen eine Urzeit des Wortes gibt. Ich glaube, auch "Ursuppe" dürfte man sagen ("Schaum steigt auf und gurgelnde Laute"). Was fehlt darin? Eigentlich der Mensch. Das Sagende, oder die Sagenskraft, will mir seltsam darin noch nur: ein Loch erscheinen, oder ein Mangel eher, der zugeschlammt wird, aber weiterhin Blasen treibt, den Mangel behauptet. Noch gibt es kein Ja in dieser Urzeit. Im Grunde: kein Gespräch. Es gibt Kräfte. Aber nicht Antwort. Es fehlt dem Mangel das, was ihn erheben würde. Es gibt noch keinen Raum für ihn.

Immer wieder verweist das Gedicht auf eine Stille - was eigentlich schon vornweg seine Grundhaltung ist. Anfangs noch wie ein Anrufen, verfällt es bald auf ein bloßes Zeigen. Die Kathedralen werden nur noch erwähnt, erwähnt nur noch die Steinzeit, Waldzeit, Meerzeit. "Ich verstumme" heißt es am Ende. Mir scheint es aber nicht so, dass dies ein Aufgeben wäre - es scheint mir eher so, dass darin ein Gedanke ist. Mir kommt dabei (pardon) Münchhausen in den Sinn, der in einer seiner Geschichten sich selbst an den eigenen Haaren (?) aus dem Moor zieht. Etwas Ähnliches scheint mir im Gedicht als Gedanke, dass es dies gibt und dass es so sein muss, so sein wird müssen.

Eine Rückbezüglichkeit. Wort, das sich auf sich selbst bezieht. Ein Hineinschauen in sich, aus sich Hervorsagen. Noch hält sich das eher in Gesten auf. Eine müde Geste: Seid still. Aber es ist schon ein Gedanke, denke ich.

Noch den Stempel: Gern gelesen!:-)

Und liebe Grüße,
Peter

wüstenfuchs

Beitragvon wüstenfuchs » 06.10.2008, 12:16

Hallo Xanthippe,
ich freue mich, dass du dich daran reibst. Und empfand es beim Schreiben ähnlich wie du, dass es nach dem Auftakt verflachte, ich sozusagen ins Kathedralenstammeln verfiel. Ein Wort ist ein Ort.

Hallo Mucki, Peter hat es sehr gut erklärt oder versucht zu erklären, eine zeitlose Ursuppe außerhalb der linearen Zeit. Das Gedicht soll prälogisch und eine mythische Textur sein.

Hallo Peter, das ist ein toller Kommentar, der mich mir selbst näherbringt.

Hallo Moshe,
wie du beliebst.

Gruß
WÜste

Louisa

Beitragvon Louisa » 11.10.2008, 12:41

Hallo Wüstenfuchs!

Mir gefällt die natürliche Sprache in deinem Text. Es könnte vielleicht sogar noch derber und aggressiver sein. Denn wie Dali ja sagte :smile: : "Wer nicht provoziert, interessiert nicht."

*räusper'

Es beginnt mit:

wie rohes Fleisch fällt mir der Text aus dem Maul,
ich würge an Knochen + Haaren


Erste Zeile: Sehr schön. Ist eine gute Idee, weil das so unfertig und schwer zu zerbeißen ist.

Zweite Zeile: Geht für mich nicht auf. Unter "rohem Fleisch" stelle ich mir nicht den behaarten, beknöchelten Kadaver des Tieres vor, sondern einfach ein kaltes Kotlette. - Täusche ich mich?
Jedenfalls kam es mir eigeartig vor. Ich hätte dann vielleicht eher "Sehnen" und "Knochen" genommen, anstatt der Haare. Oder eben ein anderes Wort als "rohes Fleisch"

über Eiszeiten und Sintfluten hinweg speie ich Laute
im Rhythmus des Atems


Mmm.... ganz schön dramatisch. Wieso gerade "Eiszeiten und Sinfluten" ? Soll das ein Gegensatz sein? Wieso nicht "Heißzeiten" :smile: ? Ist mir persönlich zu dick und zu unzusammenhangslos aufgetragen. Wenn du am Anfang "Mammutfleisch" genommen hättest, bekäme ich noch die Kurve zur Eiszeit ;-)

bette mein Leben hinein.

- Mir hat mal jemand gesagt: "LEBEN" kann man für nahezu jeden Begriff verwenden, das kann alles sein.
Deshalb finde ich mich selbst immer ganz arm, wenn ich etwas schreibe und darin auftaucht "Und das Leben war ein Sessellift" oder sonstwas :smile:

Vielleicht fällt dir ja noch etwas anderes ein, was du selbst in die Worte bettest... Übrigens halte ich es auch für unwahrscheinlich das man die gesamte Fülle seines eigenen Lebens in Worte betten kann.

Vielleicht bettest du eher dein Ich und deine Dus und deine Wirs usw. hinein (...)

Seid still
damit ich nicht ersticke.


Wer soll still sein? Die Anderen? Die Worte? Und ich dachte du erstickst schon längst an dem rohen Textfleisch??? Wenn aber der "text" still sein soll.... Dann müsste es heißen "Sei still" oder?
ALso die Aufforderung an sich finde ich gut...Nur in diesem Kontext geht sie schnell unter.

Die Zeit tropft, Kathedralen zerfallen.
Worte tauchen auf,
gewinnen Gestalt und versickern im Nichts.


Würde ich eigentlich streichen. Verzeihung, aber selbst dieses ganz nette "Die Zeit tropft/Worte tauchen auf/) das ist vielleicht noch ganz gut... Obwohl uns das Onkel Celan schon viel hübscher und auch so ähnlich gedichtet hat mit den Zeitmetaphern und den Wortmetaphern...

Aber sonst... alles viel zu pompös für meinen Geschmack. Warum denn gleich "Kathedralen"??? Meine Güte! Warum denn nicht Imbissbuden???

Und was ist das "Nichts" ? - Ich werde ganz hibbelig bei diesen ewigen Abstraktas... Ich weiß immer gar nicht, was man mir mitteilen möchte :smile: ... "ZEIT" , "NICHTS".... pfui, pfui :smile: !

Da ist folgendes noch Erträglicher:

Steinzeit - Waldzeit - Meerzeit.

:eek:

Das sieht aus wie ein Einkaufszettel. Wieso stehen diese drei...äh...Erdzeitenergien nebeneinander? Achso, es ist ein Wortspiel mit der Steinzeit :16: ! Oma hat es gecheckt.

Mm. Gefällt mir nicht :smile: . Ich verstehe den Nutzen dieser drei Worte nicht.

Längst habe ich den Ort verloren.
Schaum steigt auf und gurgelnde Laute.


und das hier oben wirkt dann auf mich etwas Amüsierend... denn wenn es sich auf die Zeilen vorher bezieht, dann hieße es: Der Sprecher weiß nicht mehr, wo er sich zu Hause fühlt: A) In der STeinzeit :smile: ??? B) In der Waldzeit ???? C) In der Meerzeit???

Ist es so gemeint? Ich tippe ganz stark auf A :smile: ... denn dieser Schaum vor dem Mund und Gurgellaute lassen mich darauf - oder auf eine Art Klingonen schließen :smile: (Ich bin wirklich gerade sehr hilflos mit dem Inhalt, deshalb diese Thesen)

Dann folgt aber wieder das Ende, was mir hier gut gefällt. Das wirkt beinahe schizophren/psychotisch auf mich:

Seid still
ich verstumme.


Das gefällt mir :smile: .

Ich hoffe du kannst mit meinem kritischen Gebrabbel etwas anfangen.

TörööÖ!
l

scarlett

Beitragvon scarlett » 11.10.2008, 23:14

Hi Ben,

ich finde deinen Text großartig!
Mir gibt er sehr viel, auch wenn das mehr auf der Gefühlsebene angesiedelt ist und weniger auf der Verstandesebene.
ABer: muss man , soll man Gedichte nicht auch erfühlen können?

Klar: der Text fällt wie rohes Fleisch.
Das, was sich nicht in Worte fassen läßt, Knochen und Haare, daran würgt man ...
Es bleiben nur Laute, noch nicht zu Worten geformt. Sie sind es, die Leben ausmachen.
Wie will man auch den Verfall der Zeit durch Worte aufhalten??? Durch ungeformte Worte?

Dein Gedicht thematisiert für mich Sprachlosigkeit - und das ziemlich gut!

Mit Grüßen aus der Nachbarschaft,
sca

wüstenfuchs

Beitragvon wüstenfuchs » 13.10.2008, 12:36

Als ich den Text einstellte, war mir klar, dass er angreifbar ist über genau die Schiene, die Louisa nun gebracht hat.

Ich habs darauf ankommen lassen, weil die Vorteile überwogen.

Liebe Scarlett, danke, dass er bei dir angekommen ist.

Viele Grüße
Wüstenfuchs

Max

Beitragvon Max » 13.10.2008, 20:15

Lieber Fux,

wenn ich Deine Konversation mit Frollein Scarlett recht begreife, so schreibt Scarlett, dies sei ein Text über Sprachlosigkeit und Du stimmst ihm zu.

Dies wiederum macht mich sprachlos - überrascht mich. Könnet ihr beiden mir einen Hinweis geben, wo denn die Sprachlosigkeit in diesem Text siedelt (außer in der letzten Strophe natürlich .. ), mir schient es ja beim ersten Lesen eher ein Text über Sprache zu sein ....

Liebe Grüße
Max

Alma Marie Schneider
Beiträge: 143
Registriert: 29.11.2005

Beitragvon Alma Marie Schneider » 17.10.2008, 10:43

Die Sprache ist sehr direkt, fast grob. Im Gegensatz dazu wirken die fast verstummenden zaghaften Windungen der Bilder. Mir gefällt das Gedicht sehr gut. Es erzeugt viel Spannung, die allerdings etwas zerrt.

Liebe Grüße
Alma Marie
Die Schönheit erklärt man nicht, man empfindet sie (Peter Rosegger).

wüstenfuchs

Beitragvon wüstenfuchs » 17.10.2008, 19:36

Lieber Max,

der Text soll ein Stammeln ausdrücken, ein präverbales Stadium, ein Worten oder den Prozess des Wortens vielleicht.


Liebe Alma,

ich bedanke mich für deinen Kommentar,

Viele Grüße
Fux


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