Klöckeln

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Max

Beitragvon Max » 16.08.2009, 13:08

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Die hier ist aber auch sehr schön .... das passiert mit defektem Converter :-)
Hörversion

Hörversion von Mucki



Klöckeln


Seit Tagen der gleiche Regen. Von Osten wütet er gegen das Haus. Auf dem Dach klingt er wie Erbsen, die man auf Papier ausschüttet, an die Scheiben klatscht er. Sie sind mit der Zeit undicht geworden. Unter dem Fenster hat sich eine kleine Lache gebildet. Auch das Dach leckt an zwei Stellen. Das Wetter hat sich im Tal gefangen. Es kommt nicht über den nächsten Berg. Nun schwappt es zwischen den Hügeln hin und her, wie Wasser, das man in einem tiefen Eimer bewegt.

Er sitzt an seinem Küchentisch und lauscht auf das Vergehen der Zeit. Zu Anfang war es leicht. Die braune Uhr im Zimmer gongte unsichtbar einmal alle 15 Minuten. Zu jeder vollen Stunde schlug sie die Zeit. Vor drei Tagen hätte er sie wieder aufziehen müssen. Seitdem ist es still und er schnitzt Kerben in den Tisch. Eine Kerbe für jede Stunde, die er fühlt, acht Kerben für die Nacht. Achtundsechzig Kerben seitdem.

Das Messer hat schon seinem Vater gehört. Auch er hat Kerben geschnitzt. Als der Bruder geboren wurde, sein Ältester, kaufte der Vater ein Kantholz. Zu jedem Geburtstag rief er die Kinder zu sich in sein Arbeitszimmer und nahm Maß. Jede Kerbe wurde mit einem Namen und einer Zahl versehen: Max 5 Jahre, Georg 7 Jahre. Stets war der Bruder im gleichen Alter ein wenig größer gewesen als er, erst in den letzten zwei Jahren bis zum achtzehnten Geburtstag spurtete er nach, schoss auf, so dass die Brüder nun exakt gleich groß sind. Nach dem achtzehnten Geburtstag fehlen die Kerben.

Das Messer hat seinem Vater gehört. Ein gutes Messer. Der Griff aus Hirschhorn, die Klinge mittlerweise dünn vom Schleifen. Ein scharfes Messer. Gestern hat er sich damit in den Daumen geschnitten. Absichtlich. Nicht tief. Nur ein paar Tropfen. Auf dem Tisch sind noch die Flecken zu sehen, dunkelbraun auf dem mittelbraunen Holz. Das Blut stockte bald, wie die Zeit hier stockt.

Er hat die Stunden gezählt, die Tage, doch hat er vergessen, welcher Tag vor drei Tagen war. Es könnte Dienstag sein oder Mittwoch. Auf jeden Fall ist Spätherbst. Der Regen draußen, das ist Herbstregen. Die Lache unter dem Fenster ist zu einem ansehnlichen See angewachsen. Kleine Seitenarme mäandern in Richtung des Esstisches. Wie lange würde es dauern, bis das Haus unter Wasser steht? Er hat die Geschichte von der Sintflut vor vielen Jahren in der Bibel gelesen. Geglaubt hat er sie nicht. Später hörte er, dass sich die gleiche Geschichte in viel älteren Überlieferungen wiederfindet. Also hat sie vermutlich doch einen wahren Kern. Er stellt sich vor, er müsse die Besatzung einer Arche zusammenstellen. Viel käme hier oben nicht zusammen. Er natürlich, ein paar Insekten vermutlich noch, das gäbe eine karge Erde nach der Sintflut.

Bald kommen sie wieder klöckeln. Er hat den alten Brauch immer gemocht, ist selbst oft genug verkleidet als Zussmandl mit Glocken von Haus zu Haus gezogen, auf die entlegenen Höfe. Es war nicht nur die Freude am Verkleiden, die ihn mitmachen ließ, nicht nur die Geselligkeit. Stets war auch das Gefühl dabei, auf den fremden Höfen willkommen zu sein. Wie ein Arzt, der Schmerzen lindert oder ein Priester, der einen Geist austreibt. Er hat in den Augen der Alten gesehen, dass er Teil des Guten war, das gegen das unbenennbare Böse stand.

Nun nistet in seinem Haus die Stille. Der nächste Hof ist fünfhundert Meter talabwärts. Einen knappen Kilometer höher liegt noch eine Hütte. Wenn er jetzt stürbe, man fände ihn vermutlich erst Tage später. Niemand wüsste, dass er jetzt, genau jetzt, stirbt. Nur er. Er könnte sich selbst beim Sterben zusehen. Wie damals dem Fisch im Aquarium seines Bruders, der tagelang mit kaputter Schwimmblase schief im Becken schwamm und dabei träger und immer träger wurde. Zum Schluss stieß er ein paar Mal mit dem Kopf durch die Wasseroberfläche und tauchte wieder auf den Grund des Beckens hinab. Er hatte seinen Blick nicht abwenden können. Auch als sein Bruder, der den Todeskampf des Fisches nicht sehen wollte, ihn bannen wollte wie eine ansteckende Krankheit, ihn bat wegzuschauen, hatte er weiter ins Aquarium gestarrt. Schließlich hatte sein Bruder geschrien, den Tränen nahe, er solle endlich den Fisch in Ruhe sterben lassen. Da war er gegangen. Am nächsten Tag lag der Fisch tot am Grund.

Woran würde er merken, dass er stirbt? Würde er es überhaupt merken oder würde nur das Geräusch der Tropfen, die von der leckenden Decke in kleine Pfützen spritzen, immer leiser werden? Dass er lebt, merkt er nicht. Er atmet ein und er atmet aus. Er fühlt. Er denkt. Ja. Aber er hat geatmet, gefühlt und gedacht, solange er sich erinnern kann. Wäre er tot, würde er es vermutlich auch nicht merken. Wieso aber gibt es einen Unterschied zwischen Leben und Totsein, wenn man beides nicht spürt? Und wieso merkt man dann, dass man stirbt? Selbst dass er älter wird, ist für ihn eher eine Tatsache als ein Gefühl. Man kann sie an den Falten ablesen, die sich um seine Augen gebildet haben, oder seinem grau gewordenen Haar. Aber er fühlt sich nicht anders als er sich vor zwanzig Jahren gefühlt hat. Denkt er.

Auch das Haus ist älter geworden. Die große Blutbuche stützte sich, vor ein paar Jahren alt geworden, zu sehr auf das Dach. Das kostete ein paar Schindeln. Ein Sturm raubte weitere. Dort dringt nun Wasser ein. Außerdem ist die Farbe an den Wänden rissig geworden. Sie hätten schon längst einen neuen Anstrich gebraucht. Er seufzt.

Die Arme des Sees unter dem Fenster haben sich unterdessen mit den anderen beiden Pfützen, zusammengeschlossen. Er sollte nun wirklich Eimer holen. Der Wind ist unter die Läden der Fenster gefahren. Vielleicht klopft es auch. Er steht nicht auf, um nachzusehen.

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 05.09.2009, 16:57

Ja klar, ich habe nur gedacht, dass deine sanfte gleichmäßige Stimme zu dem Text passen würde - und ich glaube, es könnte für dich auch spannend sein, weil du eigentlich andere Texte liest *anheiz*

.-)

liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 05.09.2009, 17:03

*grins* Lisa!

Ausgedruckt hab ich mir den Text schon mal. ;-)

Saludos
Mucki

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 05.09.2009, 17:11

hihi :spin2:
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Max

Beitragvon Max » 06.09.2009, 12:17

Sonst muss die Schauspielerin fragen, an die wir auch für Wolkov gedacht hatten ;-) ....

Mucki
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Beitragvon Mucki » 06.09.2009, 13:06

Eine Schauspielerin wird die Stimme Wolkovs sein? Hui, welche?
Verrätst du es?

Neugierige Grüße
Mucki

Mucki
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Beitragvon Mucki » 06.09.2009, 18:21

Hi Max,

so, ich habe mal versucht, deinen Text zu lesen und oben im Kopfposting den Link eingesetzt. Vermutlich müsst ihr die Lautstärke auf ziemlich laut stellen. Ich hab es mit dem integrierten Apple-Mikro aufgenommen und dies ist ziemlich geräuschempfindlich.

Saludos
Mucki

Max

Beitragvon Max » 06.09.2009, 20:10

Die Schauspielerin muss erst noch zusagen, dann verrate ich es .. allerdinsg finde ich Deine Stimme ebenso gut wie ihre.

Die Lesnung finde ich außerordenltich spannend, weil es ja mein Text ist, aber Deine Betonung daraus auch ein Teil von Dir macht ... jedenfalls kannst Du wikrlich gut lesen! Ich weiß jetzt nicht, ob ich es noch einmal probieren soll, weil Du so fehlerfrei liest ...

Liebe Grüße und lieben Dank
Max

Mucki
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Beitragvon Mucki » 06.09.2009, 20:24

Hi Max,

fein, das freut mich! :)))
Ich war mir etwas unsicher wegen der Qualität.
Hey, und fehlerfrei hab ich auch nicht gelesen. Zwei- oder drei Mal hab ich auch nicht sehr deutlich gesprochen. ,-)

Saludos
Mucki

Max

Beitragvon Max » 06.09.2009, 22:47

Ja, aber ich habe nur 2-3 Mal deutlich gesprochen ;-)

Trixie

Beitragvon Trixie » 06.09.2009, 23:37

fragt mich nicht wieso
ich weiß, der text hat viele stimmen bekommen, wird hier gemocht, für "gut" befunden.
ich schleiche seit seinem einstellungstag um ihn herum. fange an zu lesen, kann nicht fertig lesen. vielleicht nicht die richtige stimmung. immer wieder fange ich an, finde ihn gut, will ihn fertig lesen, schaffe es nicht. lasse mich ablenken, irgendwann mag ich nicht mehr von vorne anfangen, das ist doof.
dann lad ich mir max hörversion runter, fange an zu hören, schaffe es wieder nicht. der pc stürzt ab, ich muss schnell weg oder irgendwas kommt dazwischen. es ist einfach nich der richtige zeitpunkt, die geschichte vielleicht einfach zu lang.
jetzt sehe ich, dass wieder kommentare hier stehen. ich gucke rein und sehe, dass mucki eine viel gelobte version eingestellt hat.
ich lade mir beide versionen herunter. zuerst muckis, einfach so. ich fange an zu hören
und kann nicht mehr aufhören.
der anfang, mit dem rauschen (des regens), diese ruhige, sanfte stimme, und ich kann nicht aufhören zuzuhören.
ich hab mir diese wunderschöne, fesselnde, nachdenklich-machende geschichte, die hervorragend ausgearbeitet ist, flüssig erzählt ist, endlich gehört.

danke mucki, du hast das wunderbar gelesen. sehr gleichmäßig, als würdest du die geschichte wirklich erzählen, nicht vorlesen.

juhu, ich habe endlich zugang gefunden :)!

so, jetzt hör ich noch max nuschelversion.

oh, da fällt mir grad ein witz ein:

was spricht undeutlich und lebt im meer?
.
.
.
eine nuschel!
hihi...

grüße
die trix

Mucki
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Beitragvon Mucki » 06.09.2009, 23:52

Hui Trix,

das ist aber ein urliebes Lob! Da freu ich mich sehr. :banane3:

Und Max: ick kann dir flüstern! Während ich deinen Text las, habe ich mich derart oft versprochen, das glaubste ja nicht. ;-)
Ich mache das dann immer so: Bei einem Versprecher, lasse ich die Aufnahme weiterlaufen und rufe ein lautes MIIIIIIIEEEPPP ins Mikro und lese den Satz noch mal. Ähem, am Ende der Aufnahme waren so ca. 40 MIIIIIIEEEPPPs drin, die ich dann bei der Bearbeitung rausgeschnitten habe. Die Tonspur sah vorher echt ulkig aus mit den sieben ähm 40 Bergen drin. :spin2:

Saludos
Mucki

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 19.09.2009, 12:32

Liebe Mucki,

und hier wollte ich auch unbedingt noch vorbeischauen - Gabriella, ich finde es total spannend, was so eine weibliche, was deine weibliche Stimme mit dem Text macht - mir gefällt diese Mischung gut! Es erzeugt einen anderen Raum, in dem sich dann die Landschaft, das Gehöft und der Zustand des Erzählers Nuancenuniversen verschieben im Vergleich zu Max Lesung - in eine Richtung, die ich im Sinne der Intention des Textes lese. Vielen Dank, dass du das gemacht hast!

liebe Grüße,
Lisa
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Mucki
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Beitragvon Mucki » 19.09.2009, 12:45

Danke dir, Lisa!

Da freu ich mich. :-)

Saludos
Mucki


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