WdW: unterwegs

Mucki
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Beitragvon Mucki » 25.04.2010, 14:21



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- jeden Sonntag ein neues Wort als Musenkuss -
Lyrik, Prosa, Polyphones, Spontanes, Fragmente, Schnipsel, Lockeres, Assoziatives, Experimentelles
- alles zu diesem Wort - keine Kommentare - alles in einem Faden - 7 Tage Zeit -



Hallo in die Runde,

unser neues Wort der Woche lautet:

unterwegs

Möge dieses Wort euch reichlich inspirieren! ;-)
Ich bin gespannt auf eure Beiträge!

Saludos
Gabriella

Mucki
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Beitragvon Mucki » 27.04.2010, 01:16

Von Punkern und schwarzen Klamotten

Mist! Schon so spät. Jetzt aber nichts wie los. Hab einen Termin in der Stadt, den ich unbedingt einhalten muss. Die Straßenbahn fährt immer pünktlich ab. Ich renne die Straße runter, passiere den Supermarkt, schramme an einer Parkbank vorbei, verheddere mich fast in einer Hundeleine, an deren Ende ein schneeweißer Pudel gerade beschlossen hat, sich in einem Haufen Scheiße zu wälzen. Sein Frauchen lässt einen Schrei los und zerrt den nun braun-weiß gescheckten Pudel zurück. Die Bahn erwische ich im letzten Augenblick. Ich setze mich im zweiten Waggon auf die Hinterbank. Dort habe ich einen guten Überblick. Und niemandem im Rücken. Das kann ich nicht leiden.

Ich bin immer in schwarz unterwegs. Schwarze Lederjacke, schwarze Hose, schwarze Stiefel, schwarze Haare, schwarze Augen, mit schwarzem Kajal betont, schwarze Sonnenbrille, im Sommer wie im Winter. Ich bin nicht gerade groß, 1.65 m, bei 50 kg. Die Leute gucken oft blöd, wenn sie mich in meinem Outfit sehen. Bin ich schon gewohnt. Was soll's.

Im Vorderteil des Waggons stehen fünf Punker rum, in schwarzer Lederkluft, Nasen, Lippen, beide Ohren gepierct. Knallrote und grüne Haare. Einer von denen hält ein Schlüsselbund in seiner Hand. Er scheint ihr Anführer zu sein. Die anderen blicken zu ihm auf. Der Typ ist auch ziemlich groß. Bestimmt 1.90 m oder so. Und so ein bulliger Typ. Ein Schrank mit ner fettsträhnigen Matte auf dem Kopf. Keine Punkerfrisur und ne normale braune Kackfarbe.
Er schlägt sein Schlüsselbund in der Hand hin und her. Ein ätzendes, ohrenbetäubendes Geräusch.

Der Waggon ist voll besetzt. Einige ältere Leute, ansonsten Teenies. Ich warte schon darauf, dass die Ledertypen sich zu mir nach hinten drängen wollen, da ich alleine auf der Hinterbank sitze, allerdings demonstrativ in der Mitte.
Der Schranktyp schlägt und schlägt seine Schlüssel. Zwei ältere Damen schauen sich hilflos um. Ne andere hält sich die Ohren zu.
Metall knallt auf Metall. Unerträglich. Nachdem das ca. fünf Minuten so weitergeht, hab ich die Schnauze voll und brülle nach vorn:
"Hey, hör auf, mit den Scheißschlüsseln herumzuschlagen. Das nervt!"
Die Fahrgäste drehen sich überrascht zu mir um und dann zu den Punkern.
Der Große stiert mich an.
"Meinst du mich etwa?"
"Ja, dich meine ich. Steck die verdammten Schlüssel ein!"
Er grinst seine Kumpels an. Die lachen sich einen ab.
"Warum sollte ich? Es scheint ja sonst hier niemanden zu stören."
Jetzt schlägt er die Schlüssel noch heftiger und zusätzlich gegen eine der Haltestangen. Die Leute gucken alle zur Seite. Der Straßenbahnfahrer bekommt nichts mit. Er sitzt im ersten Waggon der Bahn.
Mir langt's jetzt endgültig. Ich stehe auf, nehme meine Brille ab und gehe langsam auf den Typen zu.
"Leg die Schlüssel weg." Ich sage dies gedehnt, zwischen jedem Wort eine Pause. Meine Stimme klingt tief und ruhig. Das ist immer so, wenn ich sehr wütend bin, auch, dass sich meine Augen zu schmalen, schwarzen Schlitzen formen.
"Und wenn ich es nicht tue, was dann?" Er lacht spöttisch.
"Leg die Schlüssel weg", sage ich und gehe weiter auf ihn zu. Uns trennen vielleicht noch ca. sechs Meter.
Er hört auf zu lachen, schaut sich verunsichert um. Seine Anhänger sind verdutzt.
Die nächste Haltestelle naht. Ich gehe weiter auf ihn zu.
Der schmierige Typ steckt die Schlüssel in seine Lederjacke. Die Bahn hält. Er nickt den anderen zu. Sie steigen aus. Ich bemerke noch, wie der grünfarbige Punker durch die Zähne pfeift und mir verwundert hinterherguckt.

Da ich eh bei der nächsten Haltestelle rausmuss, bleib ich gleich vorne. Applaus im Waggon.
Ne Teenagerin fragt mich, ob ich Karate könnte, weil ich so aussähe.
"Nee", antworte ich grinsend.

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 27.04.2010, 22:29

Das erste, das zweite und das dritte Mal

Das erste Mal passierte es in der Metro, wahrscheinlich beim Umsteigen. Ich kann mich erinnern, dass ich in einer Station in der Innenstadt rennen musste und ziemlich viel Gedränge herrschte. Fünf Minuten später, als ich im Wagen stand, merkte ich, dass meine Handtasche offen war. Mein Geldbeutel war verschwunden.

Ich konnte es nicht glauben. Drei Stationen weiter stieg ich aus, zog mich in eine ruhige Ecke zurück und leerte meine Handtasche komplett. Mein MP3-Player steckte noch drin, Gott sei Dank, und die Brieftasche mit meinem Führerschein auch. (Den Führerschein bewahre ich gesondert auf, weil es noch einer dieser grauen Lappen ist, die in keinen Geldbeutel passen.) Der Geldbeutel war jedoch weg und mit ihm mein Personalausweis, ungefähr achtzig Euro Bargeld, mein Linsenpass, ein Foto von meinen verstorbenen Zwerghäschen, die Bibliothekskarte und drei Rabattmarken vom Bäcker. Das Geld konnte ich verschmerzen, aber den Personalausweis brauchte ich nächste Woche für den Flug nach Hause.

Gleich am nächsten Tag fuhr ich zur deutschen Botschaft. Natürlich wieder mit der Metro, ging ja nicht anders. Die Botschaft war in einem großen grauen Gebäude mit einem Geländer zur Straße hin, das mit nadelscharfen Spitzen bestückt war. Es sah gefährlicher aus als Stacheldraht. Ich wurde mit einem Metalldetektor gefilzt und durfte in die Amtsstube eintreten. Es gab zwei Schalter, der eine unbesetzt, hinter dem anderen saß eine glubschäugige junge Frau. Eine dicke Glaswand trennte sie von mir. Als sie mich kommen sah, winkte sie und beugte sich zu einem Mikrofon herunter, das vor ihr auf dem Schreibtisch stand. „Nehmen Sie Platz“ krächzte es aus einem Lautsprecher über dem Schalter. Wenigstens sprach sie Deutsch. Ich setzte mich und erklärte mein Anliegen.

„Können Sie sich ausweisen?“

Ja, ich hatte noch meinen Führerschein. Ich griff nach der Handtasche. Sie war offen. Diesmal waren die Brieftasche mit dem Führerschein und der MP3-Player weg.

„Tja, dann muss ich rückfragen“, quäkte der Lautsprecher. „Haben Sie Anzeige bei der Polizei erstattet?“
Polizei? Da würde ich doch nur ausgelacht. Die musste sich um Raubmorde, Schlägereien und Falschparker kümmern.

„Sie müssen zur Polizei. Der Verlust muss der Interpol gemeldet werden.“ Ach ja, natürlich, die Rabattmarken und die Bibliothekskarte. Da drohten internationale Verwicklungen.Ein Formular wurde mir zugeschoben. Ich sollte Namen, Geburtsort und Wohnort ausfüllen. Erschrocken merkte ich, dass ich schon Probleme hatte, mich an meinen Geburtsort zu erinnern. Womöglich gab es mich bald gar nicht mehr, wo ich ohne Ausweise dastand?
„Machen Sie erst einmal gute Fotos. Da drüben steht ein Automat. Ich telefoniere inzwischen nach Deutschland.“

Wen wollte die anrufen? Meine Eltern leben nicht mehr. Mein Bruder war auf der Arbeit, da geht er nicht ans Telefon. Mein Geschiedener würde mich sowieso verleugnen. Meine Häschen sind tot.

Sie hatte schon den Telefonhörer in der Hand und winkte ungeduldig seitwärts. „Gehen Sie da rüber. Machen Sie gute Fotos.“

Der Automat war Gott sei Dank mehrsprachig. In der Kabine hing ein Plakat, dem man entnehmen konnte, wie das Foto auszusehen hatte. Ich durfte keine Haare im Gesicht hängen haben, keine Sonnenbrille tragen und nicht verschleiert sein. Ich sollte den Kopf gerade halten und neutral dreinschauen. Letzteres fiel mir schwer. Der Hocker war zu niedrig, und ich wusste nicht, wie ich ihn höher stellen konnte, also reckte ich das Kinn hoch, was wohl nicht sehr neutral aussah, eher kämpferisch. Der Automat machte „Puff“. Auf einem Display erschien ein Vorschaubild. Es war nichts darauf.

„Wenn Sie ein neues Bild möchten, drücken Sie innerhalb von fünf Sekunden den roten Knopf“, stand darunter. „Sie können bis zu drei Bilder machen.“

Ich drückte den roten Knopf. Was soll ich mit einem Foto, auf dem nichts ist, weder kämpferisch noch neutral? Erneut machte es „Puff“ und ein neues Vorschaubild erschien. Wieder war nichts darauf.

Ich zog den Vorhang zurück und rief nach der Schalterdame. „Hallo … ich glaube, der Automat funktioniert nicht. Können Sie bitte …“ Der Automat rasselte. Da ich diesmal nicht den roten Knopf gedrückt hatte, nahm er wohl an, ich sei mit dem zweiten Foto zufrieden. Aus dem Schacht an der Seite rutschten drei Fotos, auf denen nichts war. Wahrscheinlich war ich einfach nicht mehr vorhanden.

Hilfesuchend sah ich mich nach dem Schalter um. Die junge Frau schien auch nicht weitergekommen zu sein. Sie hielt einen Telefonhörer in der Hand und runzelte die Stirn. „Ich komme nirgends durch. Kann es sein, dass die Gemeindeverwaltung bei Ihnen zu Hause nicht besetzt ist?“

Klar, das war die Sekretärin in der Gemeindeverwaltung, diese Zimtzicke. Die konnte mich nicht mehr leiden, seit ich einmal eine Satire über die Sperrmüllentsorgung geschrieben hatte. Jetzt stellte sie sich einfach tot.

„Ich kann es an Ihrem Geburtsort versuchen. Wie hieß der noch mal?“

Ich wusste es nicht mehr. Den hatte man vor dreißig Jahren eingemeindet.

„Wenn Sie es bei meinem Zahnarzt versuchen?“, schlug ich vor. „Der kann mit Sicherheit für mich bürgen. Mein Zahnstatus ist einzigartig.“

Sie starrte mich wortlos an.

„Oder der Linsenpass. Meine Optikerin …“ Nein, das kam auch nicht in Frage. Mit meiner Optikerin war ich seit einem Monat zerstritten, weil ich ihre Reklamewurfsendungen sexistisch und präpotent genannt hatte. Die würde mich auch verleugnen.

Ich machte einen letzten Versuch: „Der Bäcker müsste sich doch an mich erinnern können. Weil, ich hatte doch drei Rabattmarken …“ Dann fiel mir nichts mehr ein. Die drei Fotos zeigten immer noch Leere.

„Vielleicht gehen Sie erst mal zur Polizei und erstatten Anzeige“, sagte die Frau energisch. „Das müssen Sie sowieso tun. Bis das erledigt ist, bin ich vielleicht durchgekommen. Haben Sie Fotos gemacht?“

Ich reichte ihr die drei Bilder, auf denen nichts war. Ohne eine Miene zu verziehen, schnitt sie eines davon ab und klebte es auf das Formular, das ich ausgefüllt hatte.

Auf dem Weg zur Polizei kam dann meine Handtasche weg. Ich habe gar nichts davon mitbekommen. Aber sie war ohnehin leer bis auf ein Sudoku-Heftchen, in dem fast alles gelöst war, und die Wochenkarte für die Metro.
Der Rückweg zum Hotel dauerte sehr lange, weil ich zu Fuß ging.

Aber das ist wahrscheinlich eine gute Übung, denn wie es aussieht, werde ich auch zurück nach Deutschland zu Fuß gehen müssen.
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

Max

Beitragvon Max » 30.04.2010, 22:36

Unterwegs

Wenn ich unterwegs bin, bin ich nicht zu Hause. Wenn ich unterwegs bin, wohne ich anderer Leute Häuser, schlafe nachts leichter und stoße mir beim Weg ins Bad die kleine Zehe an der Türschwelle. Die ersten Tage riechen die Häuser auch – meist und im günstigsten Falle nach einem Putzmittel, das ich nicht benutze. Noch bin ich glücklicherweise nicht so senil, dass ich mich in fremden Häusern verlaufe, dennoch bleibt ein Gefühl der Fremdheit, dass ich dadurch kompensiere, dass ich es mir unterwegs gleich heimisch zu machen versuche. Dafür bringe ich Bücher mit von daheim, Musik, Kaffee und Gedanken.

Ich bin oft unterwegs. Aber ich bin es nicht mehr so gerne. Ich könnte Neues sehen und anderes tun. Aber ich sehe viel Ähnliches und tue oftmals dasselbe – nur eben nicht daheim.

Meine Hunde sind noch weniger gerne unterwegs. Sie scheinen seltsamerweise ein viel besseres Gedächtnis, ein besseres Gefühl für ihren Platz zu haben als ich. Unterwegs weichen sie mir kaum von der Seite, als sei ich der letzte Rest Heimat, der ihnen geblieben ist.

Selten, wenn ich unterwegs bin, bin ich im eigentlichen Sinne unterwegs. Ich bin nicht „auf dem Weg“ – ich bin nur anderswo. Meine Vorstellung von unterwegs ist auch nicht selbst erlebt. Es ist das schwarz-weiß Bild einer Pappelallee, das ein Freund meines Onkels vor Jahren aufgenommen hat. Dort ginge ich, stelle ich mir vor, und als sei ich ein Teil des Fotos, käme ich nie an ihr Ende. Dann, so denke ich, wäre ich vielleicht wirklich „unterwegs“.

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leonie
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Beitragvon leonie » 01.05.2010, 15:33

Ich bin auf dem Weg durch die Zeit. Sie ist eine Art Förderband, das mit mitnimmt, ob ich will oder nicht. Meist gehe ich ganz gerne darauf. Wo der Weg hinführt? Keine Ahnung. Manchmal male ich mit Ziele aus. Aber ob sie am Rande oder auch am Ende des Bandes sind, auf dem ich mich befinde, weiß ich nie.
Der Weg durch die Zeit ist ein ständiges Abschied nehmen. Jedes Jahr, jeder Monat, jeder Tag, jede Stunde, jeder Augenblick. Guten Tag. Guten Weg. Weiter gehts.
Ich kann den Wunsch nach Bleiben verstehen. Aber Bleiben heißt Sterben. Du läufst gegen die Richtung und merkst nicht, dass du auf der Stelle trittst.
Diese verdammte Sehnsucht danach, ewig jung zu sein. Der beste Weg, das Leben zu verpassen. Vielleicht ist Altern ja schöner als ich denke und die Überraschungen, die warten, versöhnen mich mit meinem Hadern über den Verfall.


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