Am Abend, beim Sonnenuntergang

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Louisa

Beitragvon Louisa » 06.08.2010, 11:51

Schön ist das - der Sonnenuntergang gefällt mir als einziges nicht so gut. Aber andere Bilder mag ich trotz ihres leichten Pathos gerne.

Last

Beitragvon Last » 03.06.2010, 12:00

Dein Herz, das im Sommer gereift ist,
zogst du im Herbst aus der Erde.
Zerrieben an der spröden Haut deiner Finger
flockten schwarz die letzten Brocken herab.
Und ein neuer Regen befiel das Feld:
Du bist eine Frau, die geliebt wird.

Begreife mich, Mutter,
mit deinen rauen Händen voll Erde.
Erhebe mich, Mutter,
hinauf auf Gottes wölfischen Schoß.

Denn er trieb die Schafe vor meinen Schlaf.
Ihre Schreie hielten meine Augen offen, –
die Augen des Hirten, der sein Wiegenlied sang:
Am Abend, beim Sonnenuntergang.

wüstenfuchs

Beitragvon wüstenfuchs » 06.08.2010, 12:21

Schließe mich Louisa an, gefällt mir, wenn mir auch 3 mit den Schafbildern ein wenig zu biblisch daherkommt.

Viele Grüße
Wüstenfux

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 28.08.2010, 23:15

Ich finde die schreienden Schafe im Zusammenhang des Gedichts unverzichtbar - nur empfinde ich, wie (vielleicht) auch Lou, das Sonnenuntergangsthema als Beschönigung; abgesehen davon, dass "am Abend, bei Sonnenuntergang" schon eine Doppelung ist, und das gleich zweimal. Hier würde ich mal den Rotstift in Aktion brinmgen, sonst finde ich das Gedicht sehr stimmungsvoll.

Schönen Gruß von Zefira, Schafliebhaberin
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

Last

Beitragvon Last » 07.12.2010, 01:08

Im Nachhinein empfinde ich es als unklug, dieses Gedicht anonym eingestellt zu haben. Daher bitte ich darum, es ins Freie Weben zu verschieben. Noch einmal 'den Rotstift in Aktion zu bringen' halte ich nämlich nicht für ausgeschlossen.


Daher möchte ich auch zwei Fragen stellen:

1.) Kann das Gedicht nur als 'schön' mit 'leichtem Pathos' gelesen werden oder sind auch die folgenden Lesarten möglich?

a) Das subjektive Erleben einer ödipalen Krise

b) Die gegenüberstellende und sich dabei emanzipierende Reflexion von matriarchalen und patriarchalen Zuständen der emotionalen Entwicklung des Sprechers


2.) An das Sonnenuntergang-Motiv, das auf wenig Gegenliebe stößt, würde ich gerne näher herantreten. Ich hatte es eigentlich als "Highlight" des Textes angelegt. Nur eine konkrete Frage, die keine ausführliche Selbstinterpretation voraussetzt, fällt mir leider nicht ein.
Vielleicht klappt es, indem ich mich an Zefiras Kommentar anschließe: ja, es handelt sich dabei um eine 'Beschönigung', aber wie ist diese Beschönigung im Kontext des Gedichts einzuschätzen?

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leonie
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Beitragvon leonie » 07.12.2010, 10:38

Lieber Last, ich habe das Thema verschoben, ich weiß nur nicht, wie man jetzt Dich als Autor ins Kopfposting bekommt...Da muss Lisa helfen!

Liebe Grüße

leonie

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 07.12.2010, 23:08

Das könnte ich mit einem Trick schon machen, in diesem Fall ginge das vielleicht auch, weil die Diskussion vorher trotzdem noch nachzuvollziehen wäre. Wenn du magst, Last, dann schreib doch bitte ein leeres Psoting in diesen Faden. Ich schieb das dann nach oben, füg den Text ein und lösche das Kopfposting. Ansonsten ist es ja auch so OK.

(zum Text hoffentlich später)

liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

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Beitragvon allerleirauh » 08.12.2010, 17:43

hallo last,

ich glaube, ich kann dir deine fragen nicht schlüssig beantworten, aber ich will dir gern zurückmelden, wie ich dein gedicht empfinde.

zunächst: den sonnenuntergang würde ich im text belassen. mir erscheint er inhaltlich und rein lexikalisch nicht pathetisch und als bestandteil des abschließenden paarreimes bildet er für mich tatsächlich - nicht das highlight - wohl aber einen sehr eindrucksvollen schlusspunkt.

den "landwirtschaftlichen kontext" (reifen-Erde-Feld-Schoß-Schafe-Hirten...) finde ich stimmig, aber einen biblischen bezug, wie ihn der wüstenfuchs zu erkennen glaubt, kann ich nicht herstellen. ich hatte den text eher in einen antiken / mythologischen zusammenhang gebracht.

lga
Zuletzt geändert von allerleirauh am 09.12.2010, 05:52, insgesamt 1-mal geändert.

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 08.12.2010, 21:25

Hallo,

die Funktion, die ich dachte, gibt es gar nicht. Durch irgendwelche Tricks hat es jetzt es trotzdem geklappt! Bitte nicht so oft machen .-)

liebe Grüße,
Lisa
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Zakkinen
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Beitragvon Zakkinen » 08.12.2010, 22:32

Hallo Last,

mir gelingen die Übergänge zwischen den Strophen noch nicht so recht. Sie klingen mir so unterschiedlich, zumindest im ersten Eindruck. Leider habe ich, bevor noch sich eigene Bilder schlüssig ergaben, Deine Fragen gelesen. Nun stehen sie mir im Weg. Und als Antwort kann ich nur sagen: nein, das habe ich nicht gelesen. Aber vielleicht kann man. Ich müsste wohl die Metaphern verstehen. Wenn ich beginne, sind es mir fast schon zu viele.

Die Mutter las ich zunächst als Mutter Erde. Nehmen wir sie real als Frau, als die Mutter. Ihr Herz ist im Sommer gereift. Hm, verstehe ich erst mal nicht. Vielleicht gealtert? Wird jedenfalls im Herbst aus der Erde genommen. War es beerdigt? Versteckt? Dann scheint es zu zerfallen zu schwarzen Brocken. Ein Bild des Vergehens, des Todes will mir scheinen. Vielleicht aber auch der Schuld (schwarz?)? Jedenfalls scheint die Frau den Prozess selber und willentlich zu befördern. Denn aus dem Tod entsteht neue Fruchtbarkeit. Neuer Regen fällt auf das frisch gedüngte Feld. Lese ich da zu viel? Wie auch immer, die Frau wird (wieder?) geliebt. Bis hier her wäre ich nicht unbedingt auf Mutter gekommen.
Das kommt aber jetzt explizit. Hier am ehesten noch ödipal. Gottes wölfischer Schoß scheint mir etwas zu fett, irritiert mich. Es sei denn, Gott ist der Vater, dessen Schoß (Genital?) als Konkurrenz gesehen werden könnte. Doch warum will LyrIch da hin? Man will auf den Schoß für Trost, nicht um den Vater zu morden.

Schafe und Schlafen. Man zählt sie normalerweise, um einzuschlafen. Doch wenn sie schreien? Dann schläft es sich schlecht. ER treibt sie. Gott? Vater? Sie halten die Augen des LyrIch offen, das dann ja der Schäfer sein muss, sich somit sein eigenes Wiegenlied singt (versucht zu schlafen??). Oder ist das die Identifikation mit dem Vater? Und wofür steht der Abend, der Sonnenuntergang? Noch eine Metapher, oder einfach nur - Sonnenuntergang?

Wenn ich ehrlich bin, ich fürchte, ich bin komplett auf dem Holzweg. Aber vielleicht hilft es Dir trotzdem, indem es die Mühen beleuchtet, die ich mit dem Text habe.

Grüße
Henkki

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Beitragvon Zefira » 09.12.2010, 00:10

Nachdem ich (endlich) begriffen habe, dass es der Hirte der letzten Strophe ist, der da spricht, sehe ich das von mir bekrittelte Sonnenuntergangsmotiv jetzt anders. In der letzten Strophe ist von einer Art Initiation die Rede; ich kann in dem Töten oder Quälen der schreienden Schafe etwas wie eine Tötung der Kindheit erkennen. Meine Kritik an dem Sonnenuntergangsmotiv muss ich jetzt zurücknehmen. Ich empfinde es als stimmig, nachdem ich die letzte Strophe verstanden habe.
Was mir immer noch nicht recht gefällt, ist die Wendung "... der sein Wiegenlied sang", ist das ein innerer Widerstand gegen das Erwachsenwerden? Der Wunsch, die Augen zu verschließen? Mir erscheint es etwas zu viel an dieser Stelle, einen Ausdruck des Staunens, der Fassungslosigkeit, vielleicht des Ekels -? empfände ich als passender, aber das ist eine sehr persönliche Sache.

lG Zefira
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(Ikkyu Sojun)

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Beitragvon Eule » 09.12.2010, 11:19

Hallo Last, ich finde den Sprachfluss, insbesondere die Zeilenmetrik am Textanfang, schon zu sperrig und holperig:

Besser klänge für mich: Dein Herz sommergereift/ ...

In Zeile 3 sind mir mit "zerrieben" und "spröde" zu viele ähnliche Konnotionen auf einmal drin, ebenso bei "flockten schwarz" in Zeile 4.
Letzteres Adjektiv korrespondiert wieder mit der "Erde" aus Zeile 2, ohne dass ich mir sicher bin, ob die dadurch erfolgte nachdrückliche Betonung auch für den Sinnzusammenhang nötig ist. Auch der "neue" Regen ist mir eigentlich zu umständlich und ausführlich. Diese adjektivische Überfüllung finde ich mit "pathetisch" ganz gut umschrieben, Strophe 1 müßte deutlich verschlankt werden, um die Bedeutung der "Kern"begriffe stärker herauszustellen. Damit bekäme die Strophe viel Authenzität zurück.

Ganz schrecklich wird es dann in Strophe 2, hier werden eigentlich nur Sinnbezüge aus der vorherigen rezitiert, neu ist nur die naturalistische Gottesumschreibung, dessen hymnischer Refrain auch aufs vulgäre Fressen-Gefressenwerden reduziert werden könnte.

Herzliche Grüße !
Ein Klang zum Sprachspiel.

Last

Beitragvon Last » 10.12.2010, 06:53

Hallo zusammen,

danke für die zahlreichen Rückmeldungen und dafür, dass jeder einen sehr eigenen Eindruck wiedergibt (das ist ja selten). Ich werde trotzdem nicht auf jeden Kommentar einzeln eingehen, sondern auf thematische Schwerpunkte. Aus der Fülle der Antworten finde ich nämlich durchaus einiges, was ich so geplant, im Text konstruiert habe. Allerdings nicht in einem einzelnen Kommentar, sondern das Eine hier und das Andere da.


Mythologie - Bibel

Tatsächlich ist die Mutter hier mythologisch wie eine Mutter Erde, eine Gottheit konzipiert. Der gegenüber aber die Schafsbilder (auch) biblisch gemeint sind, auf den männlichen Gottvater verweisen, wobei die letzte Strophe dann von ihrer Poetologie her (auch) an einen Psalm erinnern soll.


Strophenübergänge

Die drei Strophen verfolgen drei unterschiedliche Konzepte. Orientieren sich quasi an einer anderen Gedichtart, deren recht abrupter Übergang durch inhaltliche Übereinstimmung etwas verschwimmen soll.
Strophe eins erinnert an ein Liebesgedicht, allerdings sehr zart, sehr zurückhaltend, eher lieblich als inbrünstig liebend. Strophe zwei trägt deutlich dicker auf, geht schon in Richtung Ode, kann aber auch schon im Sinne eines Gebets gelesen werden, das sich dann in der psalmartigen Struktur der dritten Strophe manifestiert.
Gemeint ist mit dem immer neuen Konzept der jeweils nächsten Strophe eine Art Zensur: die nächste Strophe schiebt sich über die vorige, um das zu unterdrücken, was sich gerade erst angekündigt hat, aber noch nicht gesagt wurde. Außerdem ist es ein Konzept ähnlich wie im 'Hohelied', gleichzeitig Liebesgedicht und religiöse Schrift.


Metaphern

Es ist möglich, dass das ganze Konzept der Metaphern hier scheitert, weil es darin besteht, dass sehr viele Aspekte des Gedichtes verstanden sein müssen ehe man einzelne Metaphern ausdeuten kann und dann auch selten auf eindeutige Weise, sondern eher in der Möglichkeit subjektiv nachzuempfinden, was hier alles zusammen kommt. Es sind in dem Sinne eher Allegorien als Metaphern, die auf ganze Bündel von Gedanken verweisen (weshalb es auch sehr populäre Bilder sind, die gewält wurden).
Der "wölfische Schoß" stammt übrigens nicht von mir, sondern ist ein Celan-Zitat aus einem seiner frühen Gedichte, das ich jetzt nicht parat habe.


Metrik

Den ersten Vers werde ich metrisch sicherlich nicht ändern. Er ist daktylisch mit einer Vorsilbe (xXxxXxxXx) und hängt sowohl von seiner Metrik als auch von seiner grammatischen Struktur und vor allem vom Inhalt her stark mit dem letzten Vers der ersten Strophe zusammen.


Adjektive - Pathos

Einerseits finde ich Arnes Argumentation (Pathos statt Authenzität durch zu viele unnötige Adjektive) schlüssig. Andererseits denke ich, dass man dem Sprecher hier durchaus misstrauen sollte, nicht weil er ein Lügner ist, aber weil er sehr wohl Dinge verheimlicht, zensiert, zu unterdrücken versucht, und bei diesem Unterfangen innerlich schwankt. Authenzität scheint mir da nicht am rechten Platz zu sein. Auf diesen Umstand soll unter anderem der Gedankenstrich hinter "Augen offen" hinweisen.


Wiegenlied

Das Wiegenlied ist natürlich auch ein innerer Widerstand gegen das Erwachsenwerden, im Sinne der auferzwungenen Pflichterfüllung. Und es ist auch der Wunsch, die Augen zu verschließen, womit es als Hinweis gemeint ist, wie das gesamte Gedicht zu lesen ist.
Abend und Sonnenuntergang ist meiner Meinung nach keine Dopplung, weil der Abend eher die Stimmung des Sprechers bezeichnet, während der Sonnenuntergang eher auf den Tod seiner Götter verweist.

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Naja, wirklich funktioniert das Gedicht wohl nicht. Wahrscheinlich einfach, weil es zu komplex und gleichzeitig zu subjektiv ist, sodass ein Zugang für den Leser zu stark blockiert wird.

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 10.12.2010, 10:47

Hallo Last,

Naja, wirklich funktioniert das Gedicht wohl nicht. Wahrscheinlich einfach, weil es zu komplex und gleichzeitig zu subjektiv ist, sodass ein Zugang für den Leser zu stark blockiert wird.
Beeindruckend, was du uns hier zeigst. Ich glaube schon, dass das Gedicht funktionieren kann, es liegt ja eher an einem Mangel auf Leserseite. Die Frage ist eben, ob die Bezüge, Hintergründe entdeckt werden, das Zusammenspiel zwischen Form und Inhalt, da die Form ja jeweils nur eine Anspielung darstellt. Vielleicht könntest du da noch etwas verstärken, und es so dem Leser "einfacher" machen, allerdings weiß ich nicht, ob das dann nicht der Eigenheit des Gedichtes widersprechen würde und ihm somit auch etwas wegnehmen. Nachdem ich deine Erläuterung gelesen habe, klingt das alles für mich sehr schlüssig und ich lasse mich gerne darauf ein mit diesem Wissen die Zeilen noch einmal nachzugehen.
Gemeint ist mit dem immer neuen Konzept der jeweils nächsten Strophe eine Art Zensur: die nächste Strophe schiebt sich über die vorige, um das zu unterdrücken, was sich gerade erst angekündigt hat, aber noch nicht gesagt wurde.
Das ist ein wirklich spannender Ansatz.

Vielleicht wäre es eine Möglichkeit komplexen Gedichten mit einem starken kompositorischen Hintergrund ein kleine Legende zuzufügen, die ein wenig die Bezüge aufgreift und erläutert, sozusagen kleine Blockadenlöser. :-)

Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)


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