gepfählte hände

Mucki
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Beitragvon Mucki » 27.10.2010, 23:42


2. Fassung

gepfählte hände

kann es nicht greifen
mit nackten händen berühren
muss meine haut retten
jeder geschützte griff trägt mich
sicherer durch diese zeiten
denkst du
hält mich fern
vom graugestockten fluss
wühle im dreck
jeder fleck bedeutet neue haut
irgendwann lässt du los
streifst die gedankenpest ab
und der fluss fließt



1. Fassung:

gedankenpest

du kannst es nicht greifen
mit nackten händen berühren
musst deine haut retten
jeder notgriff trägt dich weiter
sicherer durch diese zeiten
denkst du

halt dich fern
vom graugestockten fluss
hüll dich in dreckiges blei
jeder fleck bedeutet neue haut
irgendwann lässt du los
streifst die gedankenpest ab
und der fluss fließt



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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 28.10.2010, 10:16

Hallo Mucki,

das fand ich schon unter meinem Foto spannend, vor allem das hier:
halt dich fern vom graugestockten fluss
Das ist ein wunderbares Klangbild.

Ich lese es in eine ähnliche Richtung wie deinen Marie-Text. Du hast ein paar kleine Änderungen vorgenommen. Ich bin mir nicht sicher, ob ohne das Foto überhaupt klar wird, dass Handschuhe hier eine Rolle spielen? Den "Notgriff" verstehe ich ohne diesen Bezug dann eher so, dass sie eben aus der Not heraus doch etwas anfassen muss und sie das dann sicherer weiterträgt, zumal weiter unten dann die Zeile kommt "jeder Fleck bedeutet neue Haut", was dann auch darauf schließen lässt, dass doch eine Haut-Berührung stattfand? (An dieser Zeile überlege ich aber sowieso, sie erschließt sich mir nicht, irgendwie habe ich das Gefühl, da fehlt mir etwas zum Verständnis im Text, oder ich stehe auf der Leitung. .-)) Das "loslassen" und "abstreifen" funktioniert dann für mich nicht mehr als "Überwindung", Auflösung. Ich würde versuchen die Handschuhe einzubauen, wobei Handschuh nicht gerade ein klingendes Wörtchen ist, :o) vielleicht könntest du mit einer Umschreibung arbeiten?
"musst deine haut retten/ die reissfeste schicht/ trägt dich weiter ..."

Das "denkst du" würde ich wieder streichen. Dass das alles nur innerhalb ihrer/seiner Gedankenwelt stimmig ist, wird klar und es nimmt der ersten Strophe durch diese Außensicht, dieses Urteil, an Kraft.

Das "dreckige blei" verstehe ich nicht so ganz, auch nicht, wie man sich darin einhüllen kann? Da fand ich das "blau" auch klanglich zur "haut" schöner. Ist das so gedacht, dass hier schon eine "Beschmutzung" stattfindet? Durch das Bild sah ich die Flecken außen auf der Schutzschicht, ohne, sehe ich sie/ihn tatsächlich im Dreck.

Die letzte Zeile kann sowohl als Befreiung gelesen werden, in dem Sinn, dass alles wieder in Fluss kommt, oder als Bedrohung, dass man dem graugestockten Fluss zu nahe kam und nun von ihm mitgerissen und darin untergehen wird. Diese Unsicherheit, dass es sich nicht eindeutig ins Positive auflöst, immer noch diese Gefahr spürbar bleibt, gefällt mir sehr.

Beim Titel bin ich mir nicht sicher, einerseits scheint er mir zu spielerisch, andererseits entstehen durch ihn Assoziationen die den Text weiter öffnen. Im Text würde ich ihn aber nicht wiederholen, sondern nur schreiben: "streifst sie ab", weil das dann auch offener lesbar wäre im konkreten und übertragenen Sinn.

Vielleicht kannst du mit meinen etwas wirren Gedanken dazu etwas anfangen, vielleicht lese ich auch durch Foto und Marie in eine ganz falsche Richtung? :blink1:

Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

Mucki
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Beitragvon Mucki » 28.10.2010, 13:01

Hallo Flora,

ich streifte gestern, als ich die Inspirationsfotos sah, noch mal durch die Beiträge und sah dort meinen Text zu deinem Bild. Und da dachte ich, ich könnte diesen Text durch kleine Änderungen für das Monatsthema verwenden. Dort nannte ich es "gepfählte hände", hier fand ich "gedankenpest" besser. Vielleicht ist hier aber doch "gepfählte hände" besser?
Ja, die ähnliche Richtung vom Marie-Text ist gemeint, und zwar hier die Mysophobie, welche die "Gedankenpest" darstellt, einerseits die Pest, und dass sich das alles eben im Kopf abspielt.
Beim "Notgriff" habe ich überlegt, ob es klar wird, ohne Erwähnung, dass das LI sich hier etwas überstreifen muss. Also nicht, dass LI eben aus der Not heraus doch etwas anfassen muss und es dann sicherer weiterträgt, sondern, dass LI nach seinen alten Mustern handelt.
Das "denkst du" finde ich wichtig, weil LI eben denkt, es würde dadurch sicherer durch diese Phasen der Angst gehen. Aber das ist eben ein Fehldenken, im Sinne von: denkste!

Die zweite Strophe enthält eine Zäsur, einen Aufruf an das LI, es soll eben das Gegenteil tun, sich überwinden, sich in Dreck wälzen, jeder Fleck auf der Haut, jede Berührung mit Dreck bedeutet Erneuerung, Befreiung und irgendwann kann LI sich von seiner Angst lösen.
Beim grau gestockten fluss handelt es sich um den inneren "gedankenpest-fluss", während es sich am Schluss um den inneren, wieder frei fließenden Fluss handelt, also LI wieder mit sich im Reinen ist, wieder fließt, sich befreit hat.

Mal schauen, was andere Kommentatoren meinen.
Danke für dein Feedback!

Saludos
Mucki

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 28.10.2010, 15:54

"halt dich fern
vom graugestockten fluss
hüll dich in dreckiges blei"


Da sehe ich die stärkste und die schwächste Textstelle direkt hintereinander. Abgesehen davon, dass ich die Formulierung "dreckiges Blei" so gar nicht nachvollziehen kann, schwächst Du überhaupt die Wirkung des Bleis ab, indem Du zuvor schon von "graugestockt" sprichst. Dieses starke Wort stellt das Blei soooo in den Schatten!

Mucki
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Beitragvon Mucki » 28.10.2010, 16:02

Hallo Amanita,

hättest du einen Vorschlag, was ich anstelle des "dreckiges Blei" nehmen könnte?
Was ich damit ausdrücken möchte, schrieb ich ja oben.

Saludos
Gabriella

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 28.10.2010, 16:32

O, ich weiß nicht, ob ich einen Vorschlag machen kann, der in Deinem Sinne ist, Gabriella!

Vielleicht einfach umdrehen - "hüll dich in bleiernen schmutz"

Oder was zum Einhüllen - "hüll dich in dreckige kleider (oder stoffe oder kleiderstoffe oder gaze <--- das war das erste, was mir, noch ungefragt, einfiel)"

Noch eine Anmerkung zum Blei: Bei mir überwiegt das Wissen, dass Blei giftig ist - wolltest Du denn so weit gehen, dass sich das Ich in Giftiges hüllen soll? Dann könnte man vielleicht "stumpfes blei" oder so etwas nehmen.

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 29.10.2010, 08:43

Hallo Mucki,

Beim "Notgriff" habe ich überlegt, ob es klar wird, ohne Erwähnung, dass das LI sich hier etwas überstreifen muss. Also nicht, dass LI eben aus der Not heraus doch etwas anfassen muss und es dann sicherer weiterträgt, sondern, dass LI nach seinen alten Mustern handelt.
Dann könntest du ev. "geschützter griff" nehmen?
Die zweite Strophe enthält eine Zäsur, einen Aufruf an das LI, es soll eben das Gegenteil tun, sich überwinden, sich in Dreck wälzen, jeder Fleck auf der Haut, jede Berührung mit Dreck bedeutet Erneuerung, Befreiung und irgendwann kann LI sich von seiner Angst lösen.
Diese Zäsur habe ich so nicht wahrgenommen, ich hörte das LIch in seiner Gedankenwelt weitersprechen, ohne Bruch. Müsste es, wenn das in Richtung Konfrontation(stherapie) gehen soll nicht im Gegenteil heißen: "halt dich nicht fern vom graugestockten fluss?" Schau hin, setze dich aus? Und da du "Blei" schreibst und ich damit auch Gift assoziiere, geht dieser Aufruf dann für mich auch nicht auf, denn damit würden die Ängste des LIch sich ja nur bestätigen? Warum nicht einfach Dreck? Vielleicht könntest du aber auch mit Ich und Du arbeiten, als (innerer) Dialog, dann würde für mich der Aufruf, die verschiedenen Stimmen deutlicher werden.
Beim grau gestockten fluss handelt es sich um den inneren "gedankenpest-fluss", während es sich am Schluss um den inneren, wieder frei fließenden Fluss handelt, also LI wieder mit sich im Reinen ist, wieder fließt, sich befreit hat.
Ich kann das nur als einen Fluss lesen, aber wie gesagt gefällt mir das auch gut, dass es sich eben nicht so deutlich auflöst, da immer eine mögliche (Be)Drohung bleibt.

Schau mal vielleicht in diese Richtung?
► Text zeigen


Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

Mucki
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Beitragvon Mucki » 29.10.2010, 12:07

Hallo Amanita und Flora,

mit dem Blei stimme ich euch zu. Die Assoziation zum Giftigen ist hierin enthalten und das soll es natürlich nicht sein.
Deinen Vorschlag mit dem inneren Dialog, Flora, finde ich ganz gut.

Vielleicht wäre das eine Alternative, die "gedankenpest" möchte ich gern drinlassen, aber im Text, nicht im Titel:

gepfählte hände

kann es nicht greifen
mit nackten händen berühren
muss meine haut retten
jeder geschützte griff trägt mich
sicherer durch diese zeiten
denkst du
hält mich fern
vom graugestockten fluss
wühle im dreck
jeder fleck bedeutet neue haut
irgendwann lässt du los
streifst die gedankenpest ab
und der fluss fließt


Ich setze es oben mal als 2. Fassung ein.
Danke euch!

Saludos
Mucki

wüstenfuchs

Beitragvon wüstenfuchs » 29.10.2010, 16:31

Hallo Gabriella,


den Titel "gepfählte Hände" hat für mich etwas ungeheuer Schmerzvolles.
Die weiteren Zeilen zeigen die große Verletzbarkeit des l.Ichs, das um jeden Flecken Haut kämpft.

Erlebe diese Zeilen als sehr intensiv, das Abstreifen kommt fast zu schnell, das Fliessen auch. Ich glaube einen viel längeren Prozess eines schmerzlichen Ringens zu spüren. Könnte mir eine längere Prosa mit Gedankenfetzen vorstellen,

gefällt mir gut,

viele Grüße
Fux

Mucki
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Beitragvon Mucki » 29.10.2010, 18:16

Hi Ben,

danke für deinen Eindruck. Es freut mich, dass es intensiv bei dir rüberkommt.
Ja, man könnte auch hier (wie beim Marie-Text) sicher eine längere Fassung und dann in Prosa schreiben, stimmt schon. Du sagst "Gedankenfetzen". Jou, wenn, dann würde das in Fetzen kommen mit vielen abrupten Schnitten zwischendrin.
Hier ging es mir tatsächlich nur um einen kurzen, aber intensiven Fokus.

Saludos
Gabriella


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