Kolumne: Kurzbesuch auf Schloß Lichtenau

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 14.05.2006, 14:58

Kurzbesuch auf Schloß Lichtenau

Nicht, dass ich so etwas öfter täte. Oh nein!

Es ist nur so: Ich werde offenbar den Rock´n´Roll nicht ganz los.
Black Sabbath. Animalische Instinkte. Rohheit und Wollust.
Völlerei und Genusssucht. Selbstkasteiung.
Die sieben Tod-Tugenden des Thomas M. aus D.

Die Regel ist: Einkauf im Naturkostladen, Körnerbrot und Biobauernhofgemüseundmilchproduktekiste. Gelegentlich ein glücklich gestorbenes Huhn. Freilaufende Eier. Feine geistige Getränke. Frischer Tabak. Holz und Lehm und Kork. Mülltrennung. Gut gelüftete Zimmer. Die Ausnahme ist: Leichenteile essen. Kadaver, am eigenen Stresshormonsud erstickt, auf buntem Glutamat-Nest an Salatgarnitur, Jahrgang 98. Kurz: Sünde. Verlust jeglicher Moral. Bluttriefende Lefzen. Rituelle Schlachtungen. Satansanrufe. Kannibalismus. Nicht gut gelüftete Zimmer. Es hat wie fast immer etwas mit der Kindheit zu tun.
Die Scheibe Fleischwurst von der dicken Metzgerfrau, der gute Milkana-Schmelzkäse und immer tüchtig Maggi inne lasche Suppe. Geschmacksinitiale, die zuerst glücklich und später süchtig machten.

Lange Zeit ging alles gut. Doch heute stehe ich vor einer Ausnahmesituation. Es ist die Lust. Die Sucht. Die Gier! Ich geh jetzt zu Plus! Mir ist jetzt alles egal.
BILLIG sein soll es heute. Billig, viel und scheiße. Wie die außen verbrannte und innen rohe Bratwurst vom Schwenkgrill beim Stadtteilfest. Da muss SENF drauf, und zwar BILLIGER, und vor allem VIEL.
Bierwurst, das Doppelpfund zu heute nur 99 Cent, ja, und Doppelrahmschmelzkäsezubereitung Typ Kräuter, 79 Cent, wau, jetzt noch die Asi-Schokobratze von Nutoka, Flasche Burgwallbronn, krisse Durchfall von. Und dann, ganz unvermittelt, stehe ich endlich vor der wahren Erfüllung meiner dunkelsten Begierde:

Ein Produkt des Labels SCHLOß LICHTENAU:
Eine Riesenpackung Fleischsalat.
FLEISCHSALAT!

Nur diese auf Plastik-Schachteln gezogene Verhöhnung der Genfer Menschenrechts-Konvention ist jetzt noch in der Lage, meine lasterhafte Raserei zu bremsen. Das kaufe ich. Sofort. Ich bin so erregt, dass ich kurz davor bin, es aus reiner Durchtriebenheit zu klauen.
Die Aufschrift der Packung verrät in elegantem Violett: klein DELIKATEß groß FLEISCHSALAT und - dann ganz klein darunter - MIT 27 Prozent FLEISCH. Die Worte Delikateß und Fleischsalat im Zusammenhang genannt sind in etwa so grotesk wie Diadem und Kamelscheiße. Großartig! Bemerkenswert ist auch, dass das Wort Delikateß tatsächlich mit ß geschrieben ist, und sich somit ebenso redlich wie vergebens müht, dem Mayonnaise-Massaker einen umschmeichelnden und vornehmen Charakter zu verleihen. Das ß sieht so falsch aus, dass man geneigt ist zu glauben, dieses Wort sei auch schon vor der Rechtschreibreform niemals so geschrieben worden. Hier wäre das Doppel-s mit Sicherheit an gutem Orte, wenn nicht gar ein dreifaches. Aber vornehm geht die Welt zugrunde.

Gäbe ich nun meinen Gedanken freien Lauf und ließe meine Phantasie auf quiekenden Schweinehälften davongaloppieren, so sähe ich mit einem Male vor meinem geistigen Auge eine elegante Dame mit langem, weißen Kleide und breitkrempigem Sommerstrohhute im kolonialen Teakgestühl auf der Terrasse des Schlosses - Verzeihung - Schloßes Lichtenau sitzen. Im Zustand vollendeter Verzückung schöbe sich nun die edle Mittvierzigerin mit güldenem Bestecke einen Happen des Delikateß-Fleißchßalateß zwischen die bebenden Lippen, leise Geigen und zarte Knabenchöre schwöben durchs Bild. Und während mich gerade ganze Fleischbrätsinfonien in den Gelüstehimmel hinauftrügen, führe mir der Einkaufswagen einer ganz anderen Frau in die Hacken und risse mich jäh an die Kühltheke zurück.
Ich begehe den Fehler, dem erfahrene Discounter-Kunden natürlich niemals erlegen wären, und beginne aus unerfindlichem Grunde, mich für die restlichen 73 Prozent des Packungsinhaltes zu interessieren. Später wurde mir aus gut unterrichteten Kreisen zugetragen, dass andere Kunden mich dabei beobachtet haben sollen, wie ich psalmengleich und gedankenverloren folgende Litanei hinunterleierte:

Delikateß-Fleischbrät
Delikateß-Natriumnitrit
Delikateß-Stärke
Delikateß-Gewürze
Delikateß-Zuckerstoffe
Delikateß-Stabilisator Trinatriumcitrat
Delikateß-Antioxidationsmittel
Delikateß-Wasser
Delikateß-Geschmacksverstärker Mononatriumglutamat
Delikateß-Verdickungsmittel Natriumalginat

Gurken, Ei und Essig registriere ich nur am Rande. Was ich brauche ist Fleischbräät. Ich greife zu. Schnell bezahlen und raus.

Wieder daheim. Es geschieht. Das Glutamat. Ich kann es riechen. Ich kaue endlich. Ich schlinge. Ich schmatze. Es tropft aus den Mundwinkeln. Da sind auch die Geigen wieder. Alles ist gut. Ich lehne mich zurück. Doch darf ich das? Steht mir dieser fleischgewordene Frevel zu, diese ordinäre Genugtuung, bar jeglicher Würde und Moral, bar jeden Respektes vor der lebenden Kreatur? Denn wenn ich mich in diesem Moment der vollzogenen Völlerei selbst vollzudeklarieren hätte, ginge ich mit solchen Zutaten im Bauch wohl nicht mal als doppeltkorallenresistenter U-Boot-Lack durch die EU-Kontrollen und müsste mich spätestens morgen früh, sechs Uhr, freiwillig in einem 700 Meter tiefen, stillgelegten Salzbergwerk endeinlagern lassen.

Mach ich aber nicht. Morgen Mittag wieder Grünkern. Mahlßeit.
Zuletzt geändert von Thomas Milser am 15.09.2006, 03:25, insgesamt 11-mal geändert.

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 16.05.2006, 15:08

Lieber Tom,
ich habe noch nie über einen Text hier im Salon so gelacht wie über deinen (und alleine vor dem Bildschirmlachen ist schwierig!). Der Text ist "köstlich"...einfach nur wahr...und sogar die groß geschriebenen Worte passten ganz hinein (normalerweise kann ich das nicht so leiden, weil ich es gleich schreien hören).
Ich bin zwar weniger züchtig als das Ich, dafür mag ich aber keinen Fleischsalat, so gleicht sich alles aus :-$

Achso, diese Stelle halte ich (nicht aus prüden gründen) für kürzenswert:

Im Zustand vollendeter Verzückung und mit prall geschwollenen Schamlippen schöbe sich nun die edle Mittvierzigerin mit güldenem Bestecke einen Happen des Delikateß-Fleißchßalateß zwischen die anderen Lippen, le


Das lenkt zu sehr vom Fleischsalat ab...meiner Meinung :grin:

Wirklich herrlich!!!

Lisa

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 16.05.2006, 15:29

Danke Lisa, das ist ein ganz tolles Lob, und wenn das einer von meinen Texten schafft, dann freu ich mich echt.

Aber oh sch..ße, Du hast recht, das is gar nicht die Version, die ich einstellen wollte. Die Schamlippen müssen raus. Kommt sofort.

Tom.

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 10.07.2006, 16:13

Ich erlaube mir, diesen Text selbst nochmal nach vorne zu holen, bevor ich schon wieder neue einstelle. Und die Rubrik ist ja eh nur dünn besiedelt.

Außerdem hatte ich noch zwei kleine Fehlerchen entdeckt.

Bild

MarleneGeselle

Beitragvon MarleneGeselle » 11.07.2006, 08:39

Hallo Tom,

mit Schmunzeln gelesen. Ein kleines "Fehlerchen" ist dir aber unterlaufen: Mit dem Mageninhalt könnte man dich nicht in einem Salzstock zum radioaktiven Abfall endlagern, du müsstet in die Giftmüllverbrennung! §bump§

Liebe Grüße und bis demnächst im Ökoladen
Marlene

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 11.07.2006, 10:01

Hallo Marlene. Die Firma dankt!

Aber meinst du nicht, dass das in einem Gusstahl-Behälter tief unter der Erde sicherer aufgehoben wäre? Wer weiß, was beim Verbrennen (Achtung: doppeldeutig!) alles für Gase frei werden...

Bild

MarleneGeselle

Beitragvon MarleneGeselle » 11.07.2006, 12:40

Hallo Thomas,

ich habe eben Angst, dass sich das ganze Zeug durch den Gussstahl durchfrisst und mit dem Salz aus dem Salzstock unschöne Verbindungen eingeht. Beim Verbrennen hätte man wenigstens schnell alles hinter sich.

Supertoller Smiley übrigens.

Liebe Grüße
Marlene

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Beitragvon Thomas Milser » 11.07.2006, 12:46

Dann sollte man Edelstahl nehmen, V4A oder so. Ich hatte eh ein 's' bei Gussssssssstahl vergessen, dann taugts eh nix.

Verbrennen ginge mir auch zu schnell, ist von daher unlyrisch. Die Fleischsalatindustrie soll ruhig wissen, dass ihr Produkt die nächsten 10.000 Jahre unter uns schlummert...und tickt...

MarleneGeselle

Beitragvon MarleneGeselle » 11.07.2006, 12:51

Hallo Tom,

ich hoffe, du hast nicht gedacht, was ich gerade denke. :shock: Also, ich möchte nicht als Fleischsalat wiedergeboren werden.

Guten Hunger
Marlene

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 11.07.2006, 12:54

Weiß jemand die Halbwertszeit von Natrium-Glutamat?
Gibt es Studien?

carl
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Beitragvon carl » 15.07.2006, 16:38

Hallo Tom!

Selten so gelacht!!

Gruß, Carl

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Beitragvon Thomas Milser » 15.07.2006, 16:55

Freut mich, Carl. Freut mich riesig.
Ich finde selbst, dass das eine meine besten (und meisten ausgefeilten)Kolumnen ist, und deshalb finde ich es gut, dass sie dann doch noch von ein paar fleißigen Leserbienchen wahrgenommen wird (und offensichtlich erheitert).

Gruß vom Tom.
Menschheit, Du hattest von Anfang an nicht das Zeug dazu... (Charles Bukowski)

Max

Beitragvon Max » 15.07.2006, 17:09

Lieber Tom,

ich habe sehr über Deine Text lachen müssen und es hat mich angeregt, vielleicht selbst eine kleine Glosse zu meiner Gefangenschaft in niederländischen Kantinen zu verfassen (vielleicht demnächst auf diesem Sender) - dort ist nämlich der Fleischanteil in den sogenannten vlees-kroketjes (Fleisch(!)-kroketten) nur 15% und man ahnt, dass dieser nur von grausm überfahrenen Tieren stammen kann.

Liebe Grüße (ich habe gerade keinen Hungermehr, ein Wunder9
mAX

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 15.07.2006, 20:14

Hi Max,

das Thema 'Fleischkroketten' klingt an sich schon super, und bei deiner flotten Schreibe kann das nur lustig werden... Denn man Tau!!!

Tom
Menschheit, Du hattest von Anfang an nicht das Zeug dazu... (Charles Bukowski)


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