großmutter

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
moonlight

Beitragvon moonlight » 11.01.2012, 13:52

großmutter

einen flügelschlag lang
war ich frei und spielte
die transporte sie fuhren
dem leben vorneweg

ich spielte am tor
sah das marschieren in reihe
sie winkten und lachten
doch schöpfte die nacht

einen flügelschlag lang
war ich frei und spielte
atmete ganz europa
roch groteske leiber

ich spielte im takt
und hörte die schreie
hinter ihnen stand der tod
mit seinem gewehr

einen flügelschlag lang
war ich frei und spielte
hinter mir stand der tod
und fuhr mich ins gas


© Moonlight 2012
Zuletzt geändert von moonlight am 04.02.2012, 11:41, insgesamt 2-mal geändert.

Quoth
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Beitragvon Quoth » 12.01.2012, 08:06

Hallo moonlight,
müsste es nicht "einen flügelschlag lang" heißen? Wie es auch einen Tag lang, einen Moment lang heißt? Da diese Wendung dreimal auftaucht, bleibe ich dreimal an ihr hängen.
Gruß
Quoth
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

Gerda

Beitragvon Gerda » 12.01.2012, 10:45

Liebe Moonlight,

mir gefällt deine Intention auf eine stille konkrete Weise an (ein) Opfer des NS-Regimes zu erinnern, der Flügelschlag, als Metapher für den Moment, in dem ein Leben zerbricht, so verstehe ich den Text, der sich mir nur schwer erschließt.
Aber ich bin nicht sicher ob ich ihn wirklich verstehe.
Zunächst nach einer Perspektive gesucht, die die du nicht eindeutig vorgegeben hast.
Ich unterstelle, dass das Lyrich von den Erinnerungen der Großmutter erzählt, aber es bringt sich in die "Handlung" ein.
Letztlich weiß ich nicht, wer z. B. am Tor gespielt hat, war es die Großmutter oder das Lyrich? Oder beide am selben Zaun zu verschiedenen Zeiten?
Allerdings wirft gerade dieses ein ziemliches Problem für mich auf, weil ich mir denken kann, dass es den Blick auf nicht Selbsterlebtes des Lyrich lenkt, was aber nicht klar herausgearbeitet ist, denn das Lyrich ist benannt, bringt sich ein.
Vielleicht wäre die dritte Person, Singular die Lösung, dann rückte der Text möglicherwesie auf größere Distanz zum Leser.
Ich glaube indes, dass es wichtig für das Textverständnis und die -aussage ist.
Ich stimme Quoth zu, dass die Grammtik am "Flügelschlag" wackelt ;-)

Liebe Grüße
Gerda

moonlight

Beitragvon moonlight » 12.01.2012, 11:16

Hallo Quoth,

ich weiß wie es grammatikalisch korrekt ist.
Des Rhythmus wegen habe ich ein "ein" genommen.

Liebe Grüße
Moonlight

moonlight

Beitragvon moonlight » 12.01.2012, 11:28

Liebe Gerda,
herzlichen Dank für deine Mühe die du dir gemacht hast.

Die Großmutter (die damals ein junges Mädchen war) spielte in einen Mädchenorchester in Auschwitz.
Das Orchester spielte immer am Tor wenn die Arbeitskolonnen marschierten. Wenn die Deportationszüge mit Menschen aus ganz Europa ankamen, mussten Sie spielen.
Die Häftlinge sollten ohne Argwohn und ohne Gegenwehr in die Gaskammern gehen.
Dahinter standen immer Soldaten mit Gewehre.
Großmutter spielte und hörte die Schreie in den "Duschen"!
Sie spielte und atmete Europa.... "Schornsteinen"

Großmutter hoffte so sehr.

Liebe Grüße und nochmals vielen Dank für deine Worte.
Moonlight

Quoth
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Beitragvon Quoth » 12.01.2012, 22:08

Des Rhythmus wegen dreimal die Grammatik verbiegen, finde ich taktlos an dieser Großmutter von wem auch immer gehandelt! Bezugnahme, selbst familiäre, auf den Holocaust rechtfertigt kein falsches Deutsch.

Gruß
Quoth
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 12.01.2012, 22:37

Quoth, ich finde es zwar auch nicht gut, die Grammatik - wie Du zu Recht sagst - zu verbiegen (und schon gar nicht, wenn man es "eigentlich" weiß), aber wenn man überhaupt von einer Taktlosigkeit sprechen kann, dann wäre es eine dem Text und nicht der Großmutter gegenüber. Ein grammatischer Fehler macht einen Text schlecht(er), er ist aber eine Banalität im Zusammenhang mit dem Sachverhalt, der transportiert werden soll.

moonlight

Beitragvon moonlight » 13.01.2012, 14:17

Hallo Quoth,
ich hatte gehofft du würdest dir mehr Gedanken über den Inhalt machen.

Wenn es so sehr stört werde ich es ändern.

LG
Moonlight

moonlight

Beitragvon moonlight » 13.01.2012, 14:18

Hallo Amanita,
danke für deinen Kommentar.

LG
Moonlight

Quoth
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Beitragvon Quoth » 13.01.2012, 18:13

Großmutter von Moonlight

Einen Flügelschlag lang
war ich frei und spielte.
Die Transporte, sie fuhren
dem Leben vorneweg.

Ich spielte am Tor,
sah marschieren in Reihe,
sie winkten und lachten,
doch schöpfte die Nacht.

Einen Flügelschlag lang
war ich frei und spielte,
atmete. Ganz Europa
roch groteske Leiber.

Ich spielte im Takt
und hörte die Schreie.
Hinter ihnen stand der Tod
mit seinem Gewehr.

Einen Flügelschlag lang
war ich frei und spielte.
Hinter mir stand der Tod
und fuhr mich ins Gas.

Hallo Moonlight, ja, jetzt mag ich's lesen! Vielen Dank. Ich hab's mir für mich lesbarer gemacht (das ist kein Verbesserungsvorschlag), ich verstehe es einfach besser so. Eine merkwürdig verstümmelte Zeile ist für mich "doch schöpfte die Nacht". Was schöpfte sie?

Von diesem Mädchenorchester hat wohl jeder schon mal gehört. Dein Text fügt diesem Allgemeinwissen nichts Neues hinzu, entscheidet sich aber für die Weitergabe einer Legende: Dass dies Orchester bei Ankunft der Züge an der Rampe gespielt habe. Dies dürfte nicht stimmen (womit die ganze Sache aber um keinen Deut weniger grauenvoll ist). Trotzdem: Du entscheidest Dich für diese besonders effektvolle Version - wahrscheinlich um Effekt zu machen, und da gilt dann "Man spürt die Absicht, und man ist verstimmt."

In einem Punkt stimmt das Gedicht überhaupt nicht: Das lyrische Ich ist ja offenbar diese Großmutter, die im Mädchenorchester mitspielte, versetzt sich in sie hinein (und ist nicht von ihr verschieden, wie Gerda annahm). Für weibliche Deportierte, die das "Glück" hatten, in dieses Orchester aufgenommen zu werden, bedeutete dies in der Regel die Rettung, denn sie entgingen dadurch der tödlichen Selektion. Auch diese Großmutter, damals Mädchen, konnte ja nur Großmutter werden, indem sie überlebte und dann noch wenigstens ein Kind bekam, Mutter oder Vater der Enkelin, die von der Großmutter erzählt. Zugleich kann man sich fragen, ob die musikalischen Dienstleistungen in diesem Orchester nicht schlimmer waren als der Tod.

Adorno hat gesagt, nach Auschwitz dürfe man keine Gedichte mehr schreiben. Das war sicherlich falsch. Hätte er gesagt: Über Auschwitz dürfe man keine Gedichte schreiben, so könnte ich ihm zustimmen - und das nicht, weil es unmöglich ist, sondern weil es mit großer Wahrscheinlichkeit auf sentimentale Weise misslingt.

Gruß
Quoth
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

moonlight

Beitragvon moonlight » 14.01.2012, 10:03

Danke Quoth für deine Meinung.

Ich weiß, dass ich nicht weiß…..

Gruß
Moonlight

Gerda

Beitragvon Gerda » 14.01.2012, 10:50

moonlight hat geschrieben:Danke Quoth für deine Meinung.

Ich weiß, dass ich nicht weiß…..ob das auch auf dich zutrifft?

Gruß
Moonlight



Diese Antwort, liebe Moonlight verstehe ich überhaupt nicht.

Allerdings verstehe ich erst nach Quoths Erläuterungen, was du intendiert hast und weshalb ich immer noch der Ansicht bin, dass dein Gedicht so nicht trägt, gar nicht tragen kann.
Im Grunde ist es doch aufgesetzt, sich in das Elend deiner Großmutter zu versetzen und ihr Schicksal für dein Mahngedicht (?) -jedenfalls - in dieser Form zu nutzen.
Dieser Inhalt, so meine ich, wenn er als Lyrik berühren und erinnern soll (ob es funktioniert weiß ich nicht, tendiere aber zum Nein), hat eine Distanz der Autorin nötig. Ein Lyrich zu bemühen halte ich für verfehlt, für unangemessen.
Du machst dich zum Sprachrohr des/r Opfer/s. Das wirkt auf mich nicht authentisch, sondern äußerst heikel.
Ich verstehe nicht, warum du es tust und was du damit erreichen möchtest, dass du diese Rolle übernimmst.
Als Autorin bist du nicht Darstellerin.
Auch die scheinbar bewusst gewählte Form mich als Leserin im Unklaren darüber zu lassen, um wen es eigentlich geht, empfinde ich als eher anstößig, denn berührend.
So erreichst du meiner Ansicht nach nicht, dass deine LeserInnen sich mit dem vielschichtigen Grauen detailliert auseinandersetzen können.
Ich verlange insbesondere von einem Text, der die Greueltaten des Nazigegimes thematisiert, dass er dieses intendiert.

Mein Vorschlag, einen Dialog zu schreiben. Wenn du deine Großmutter noch kennengelernt hast, kannst du das anhand der Informationen die dir vorliegen.
Dann wären auch nachgeschobene Erläuterungen überflüssig, du könntest alles in diesen Dialog packen.
Das fände ich sehr interessant und vor allem lebensecht.

Bedauerlich, aber so ist es kein Text für mich.

Liebe Grüße
Gerda

Quoth
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Beitragvon Quoth » 14.01.2012, 12:16

Hallo Gerda, Vorsicht: Moonlight nennt die Großmutter nie "meine" Großmutter. Ich nehme deshalb an, dass es sich um eine doppelte Identifikation handelt: Moonlight identifiziert sich mit der Enkelin einer Angehörigen des Mädchenorchesters, die sich mit ihrer Großmutter identifiziert. Solche Kunstgriffe sind erlaubt, funktionieren aber meist nicht, der Leser fühlt sich getäuscht und fatal an diesen Fall literarischer Vortäuschung falscher Tatsachen erinnert.

Gruß
Quoth
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

Gerda

Beitragvon Gerda » 14.01.2012, 13:37

Lieber Quoth,

vielen Dank für deinen Hinweis.
Das habe ich übersehen.
Selbst wenn ich eine fiktionale Konstruktion zugrunde legte, käme ich in dieser Form nicht damit zurecht. Für mich bliebe der Text im Versuch stecken, sich nicht Erlebtes zu eigen zu machen und das finde ich in diesem geschichtlichen Kontext fatal.


Liebe Moonlight,


Ich korrigiere meine vorige Rückmeldung dahingehend:

...Im Grunde ist es doch aufgesetzt, sich in das Elend (d)einer Großmutter zu versetzen und dieses Schicksal für dein Mahngedicht (?) -jedenfalls - in dieser Form zu nutzen.

... Falls es sich um deine Großmutter handelt, du sie noch kennengelernt hast, kannst du das anhand der Informationen tun, die dir vorliegen.


Liebe Grüße an euch beide.

Gerda


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