Prosalog

Hier ist Raum für gemeinsame unkommentierte Textfolgen
Nifl
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Beitragvon Nifl » 23.07.2007, 18:09

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Foto A.P. Sandor et moi


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Hier handelt es sich um einen Faden, in dem ihr euch prosaisch zurücklehnen könnt. Lasst euren Gedanken freien Lauf. Erzählt von euren Träumen, eurem Ärger, euren Problemen, euren Sehnsüchten, euren Beobachtungen, euren Wünschen, euren Phantasien, euren Ideen, eurem Kummer, eurer Wut, eurem Tag, euren Spinnereien … "Die Wahrheit" spielt dabei selbstverständlich keine Rolle.
Fühlt euch frei.

Lasst euch von bereits verfassten Texten inspirieren, greift das Thema auf, oder schreibt einfach "frei Schnauze"… alles ist erlaubt.

Ich bin gespannt!




Kleingedrucktes:

Damit eure Kostbarkeiten behütet bleiben, müssen folgende Regeln beachtet werden:

Bitte keine Kommentare
Keine direkten Antworten (zB. Gratulationen, Beileidsbekundungen, Nachfragen etc.)
Keine Diskussionen
Kein Smalltalk oder Talk überhaupt

Geht immer davon aus, dass alle Texte Fiktion sind.



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"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)

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birke
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Beitragvon birke » 12.07.2012, 00:50

.


Ein Stöhnen im Strömen gibt sich zu erkennen.
Der Spiegel betrügt sich selbst.
Im Wasser quillt Leben, gurgelt, trägt und zieht dich.
Unterkopf kein Atem. Überkopf ein Bäumen.
Alle Wasser waschen & nähren dich, auch das Salz,
das sich reibt an uns, frönt der Sinnlichkeit.
Wasserfälle stürzen und halten dich.
Am Rand des Lebens kauert der Tod & lauert auf verlorene Seelen.
Doch solange wir unser Salz tauschen,
lebt das Meer und wäscht dem Tod die Augen aus.



.
tu etwas mond an das, was du schreibst. (jules renard)

https://versspruenge.wordpress.com/

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 12.07.2012, 09:07

Der Tod, mit ausgewaschenen Augen, gewährte eine Gnadenfrist, webte noch etwas gründlicher am Leichentuch, damit niemand es auftrennen könnte. Damit niemand sie trennen könnte, ihn, den jungen Mann und die trauernde Mutter. http://www.kunstbilder-galerie.de/gemae ... 88115.html

Mucki
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Beitragvon Mucki » 12.07.2012, 16:23


Nicht am Rand des Lebens kauert er, der Tod. Er ist da. Omnipräsent. Überfällt dich rücklings. Er steckt in einem Wort. Einer Geste. Einem Geruch. Im berühmten Ziegelstein. Im Gelächter. Vor allem im Gelächter. Von ihm. Verlorenen Seelen ist er Zucker. Sucht. Manisches Suchen. Manische Erwartung. Und sie merken nicht, dass sie schon tot sind.
Und der Tod lacht sich ins Fäustchen.

Gerda

Beitragvon Gerda » 16.07.2012, 23:22

Ach, der Tod, sagte Großvater, glaub mir, er ist ein Klacks. Nur der Weg dahin macht mir Sorge.
- Aber der Weg ist doch das Leben. -
Naja, das schon, aber gesund stirbt man nicht. Also, wovor ich mich fürchte ist, dass ich nicht mehr mit dir spielen und lachen kann. Dass ich Oma und vielleicht dich und deine Geschwister eines Tages nicht mehr erkenne. Dass dies geschieht wünscht sich niemand. Aber niemand weiß, ob der Betroffene es merkt, wie sein Gehirn ihm Streiche spielt. Nichts mehr behält, außer den alten Geschichten …
- Die Märchen Opa?

ecb

Beitragvon ecb » 27.07.2012, 08:12

Ich muß mir immer etwas vorstellen können. Unter meiner Mutter zum Beispiel, die neben mir sitzt und an einer Socke strickt. Aber ich kann mir nichts vorstellen. Sie verstellt mir die Sicht. Ist das einfach so? Gern hätte ich mir etwas vorgestellt, etwas anderes. Mögliche Vergangenheitsform. Vergängliche Möglichkeiten ...

Gerda

Beitragvon Gerda » 27.07.2012, 09:02

Hoffentlich lässt er die Erinnerungen ruhen. Ihr laufen sie nach, seit sie weiß, dass sie sich wiedersehen. Ein Wagnis, sich vielleicht auch noch gemeinsam zu erinnern. Aber das Wiedersehen hat keinen Bezug zur Vergangenheit. Oder?
Sie malt sich aus, was sie sich verbietet. Dabei weiß sie nicht einmal, wie er heute aussieht. Er hatte ihr ein Foto versprochen, aber keins geschickt. Sie vergaß nachzuhaken. Überlegt, wie er aussehen könnte. Sie kann ihn sich beim besten Willen nur so jung wie vor langer Zeit vorstellen. Groß, drahtig, sportlich. Was, wenn er ihr gar nicht mehr sympathisch ist? Kann das sein? Die Stimme hat sich nicht verändert. Immer noch vertraut. Und sonst? Sie versucht eine Schablone über das Gesicht von damals zu schieben. Mit Falten und Lebensspuren. Das Haar denkt sie sich ergraut.
Soll sie nach den alten Fotos suchen? Ob er auch welche aufbewahrt hat? Seine Briefe hat sie nicht mehr. Eigentlich schade.

pjesma

Beitragvon pjesma » 27.07.2012, 12:01

gürkchen


gestern fiel mir auf, dass ich schon lange kein heftchen mehr mittrage. so ein etwas, unauffälliges,
worin man sich die interessanten wörter sofort notiert, „kostbare gedanken“. irgendwann hab ich wohl von den kostbaren gedanken abgelassen und eine einstellung hat sich befestigt, dass die „wichtigen“ gedanken und die schönsten wörter sich schon von selbst in meinem kopf, und später auch auf dem papier, durchsetzen werden. und meistens ist es so, sie erscheinen pulsierend, an sich erinnernd, ermahnend „benutz uns! setze uns ein!“…falls dem so nicht ist, gehe ich pragmatisch davon aus, dass es so sein musste und dass sie so wichtig nicht waren. schon mal damit ich kein gefühl habe, etwas wichtiges verpasst und verschlampt zu haben.
aber dieser satz, der mir gestern „erschien“, werde ich irgendwo einbauen müssen, einmal, wenn ich mich mit einer ratlosen und hilflosen hauptdarstellerin befassen werde. was ich jetzt auf keinen fall machen werde. jetzige darstellerinen müssen stark und gewitzt sein, müssen wie flinke schiffe die klippen umgehen und dürfen mich, die schreibende, nicht in die wehleidigen tiefen ziehen. weil, tal gabs genug in diesem verflixten jahr 2012. gesundheitlich, vor allem.

also es gibt da irgendwo, in einer zukünftigen geschichte diese protagonistin , die sich zwecks gesundheit auf umänderung ihrer bewegungs- und ernährungsgewohnheiten gestürzt hatte. um gesünder zu werden, will sie abnehmen. um abzunehmen, sollte sie kohlenhydrate vermeiden. da aber die nieren mit eiweißen nicht einverstanden sind, sollte sie tierische eiweiße vermeiden. was nicht das schwerste wäre, weil sie auf hülsenfrüchte und nüße ausweichen könnte. wären die nicht gichtfördernd, (das gicht,dieses familienerbe!). das man mit viel wassertrinken unter kontrolle halten kann. welches widerum (die erhöhte wassereinnahme) damit resultiert dass mit bösen schlacken auch kostbare minerallstoffe aus dem körper herausgespült werden. so setzt sie also auf bewegung, außerhalb der üblichen bewegung. was in verbindung mit vorhandenem übergewicht, ganz schnell mit ischias resultiert, und sich mit rheumatosen, gichtbegleitenden schmerzen gut kombinieren lässt.
ein perpetuum mobile an wehwehchen, oder : wie die drei vier bauern den könig bis in alle ewigkeit ganz ohne schachmattaussicht, dennoch gejagt haben. ein weniger oder mehr hypohondrisches märchen. mehr weniger.
aber das ist nicht DER satz.
die protagonistin beschließt dann, sehr wahrscheinlich , das bestmögliche zu unternehmen um die wehwehchen zu überlisten und der gesundheit wieder näher zu kommen. sie geht eifrig schwimmen. was ihr nach einiger zeit ein leichtes ziehen im blasenbecken beschert, das bekanntlich mit nieren verbunden ist, welche die eiweißprodukte nicht vertragen, was wiederum hülsenfrüchte…blablaetcetc…seufz.
irgendwann sehen wir dann die protagonistin in einem schwimmbecken, sich an dem rand haltend, und, wäre es ein comic, (was es durchaus werden könnte, wäre es nicht so demütigend und schmerzhaft) würde über ihrem kopf eine sprechblase stehen mit der frage „ja soll ich jetzt drinne bleiben und weiter schwimmen, oder raus gehen?“

die protagonistin schwebt im becken schwerelos und ratlos wie eine gurke im essigwasser.

DAS ist der satz.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 27.07.2012, 19:30


Es gibt Filme, die durch einen einzigen Satz leben. Sich mir einprägen und einfach mit mir gehen. 'Die vollkommene Blüte ist selten. Man kann sein ganzes Leben nach ihr suchen. Und es wäre kein verschwendetes Leben.' Aus "The last Samurai". Dieser Satz hat eine solche Tiefe, dass ich immer wieder etwas Neues in ihm entdecke. Diese 'vollkommene Blüte' repräsentiert ein ganzes Universum, ob im Großen oder gerade im Kleinen. Das Kleine, erst so unscheinbar, wird zur Essenz des Lebens, zum Dreh- und Angelpunkt. Und zum Anker. Meinem Anker, an dem ich mich festhalte, ohne jemals die Blüte zu pflücken.

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Eule
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Beitragvon Eule » 16.08.2012, 10:22

Durchs Wegland. Ausgewrungen, nur noch schmutzige Rinnsaale. Alpträume, ein Stumpf als Totenschaufel, Nervenflimmern im Häuserkorridor, zerschossen lauernd auf die Bombensonne hinter den Tagebucheinträgen. Ein letzter: Bis dann, noch schlägt sein Herz, die Spitze hielt er für einen Löffel. Einmal Medizin für den Zyanidschlamm und das Überlebenstrauma, ohne Betonung fehlte die Antwort. Kurzgeschlossen, starrer, geliebter Knochen im Schleifkessel. Bis dann, physikalisch.
Zuletzt geändert von Eule am 16.08.2012, 12:22, insgesamt 1-mal geändert.
Ein Klang zum Sprachspiel.

Gerda

Beitragvon Gerda » 16.08.2012, 11:05

Auf dem Weg zu einem „Fremden“

Er weiß nicht, dass sie schreibt. Selbst das nicht. Dass das Leben aus Geschichten besteht, für sie eine Geschichte begonnen hat. Schon in jenem Moment, als sie ihn vor über vier Jahren, unter der alten Adresse seiner Eltern gefunden hatte. Er rief sie an, nachdem er ihren Brief erhalten hatte.

Über vierzig Jahre, stehen als unerforschter Kontinent zwischen zwei Leben. Die Telefonate seit einigen Jahren geben kaum Hinweise, auf das, was sie erwartet. Viel gereist ist er. Geschieden. Zwei Söhne. Er bewohnt sein Elternhaus, das sie kennt. Er hat keinen PC, kein Internet. Unvorstellbar. geht zu seinem Sohn, wenn er etwas im Netz recherchieren will.
Auf die Landschaft freut sie sich. Aber ist nicht auch eine Erwartung damit verknüpft? Hat die Freude auch mit ihm zu tun? Es wird sich zeigen. Hoffentlich lässt er die Erinnerungen ruhen. Ihr laufen sie nach, seit sie weiß, dass sie sich wiedersehen. Ein Wagnis, sich vielleicht auch noch gemeinsam zu erinnern. Aber das Wiedersehen hat keinen Bezug zur Vergangenheit. Oder?
Sie malt sich aus, was sie sich verbietet. Dabei weiß sie nicht einmal, wie er heute aussieht. Er hatte ihr ein Foto versprochen, aber keins geschickt. Sie vergaß nachzuhaken, wollte sich die Spannung erhalten. Überlegt, wie er aussehen könnte. Sie kann ihn sich beim besten Willen nur so jung wie vor langer Zeit vorstellen. Groß, drahtig, sportlich. Was, wenn er ihr gar nicht mehr sympathisch ist? Kann das sein? Die Stimme hat sich nicht verändert. Immer noch vertraut. Und sonst? Sie versucht eine Schablone über das Gesicht von damals zu schieben. Mit Falten und Lebensspuren. Das Haar denkt sie sich ergraut.
Soll sie nach den alten Fotos suchen? Ob er auch welche aufbewahrt hat? Seine Briefe hat sie nicht mehr. Eigentlich schade.
Er weiß, wie sie ausschaut. Aber das Foto, was sie ihm sandte, ist inzwischen schon vier Jahre alt. Warum sie solange gebraucht haben, um sich zu verabreden? Darauf gibt es nicht die richtige Antwort. Vielleicht kommt es nach so vielen Jahren nicht mehr auf ein Jahr mehr oder weniger an.
Der Zug hält in München, wo sie umsteigen muss.

GJ20120710/Ausschnitt

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 23.08.2012, 21:09

Die Frau im Nachbarstuhl muss älter sein als ich, ein ganzes Stück älter, wahrscheinlich weit über sechzig. Nachdem ich mich gesetzt habe, kann ich nur noch ihre Knöchel und Füße sehen, schmale Knöchel und gepflegte Füße mit pink lackierten Nägeln.
Kurz darauf kommen die Füße der Friseuse in mein Blickfeld. Die Friseuse ist ungefähr Mitte zwanzig. Sie hat blau lackierte Zehennägel, aber die Sandalen, die sie trägt, sind fast das gleiche Modell wie die ihrer Kundin.
Sie bemerkt es im gleichen Augenblick wie ich. „Sehen Sie mal, wir haben die gleichen Sandalen“, sagt sie. Die Kundin antwortet nicht sofort, vermutlich vergleicht sie und stellt schließlich fest: „Aber ich habe die schöneren Füße!“
Martina, die meine Haare schneidet, kann sich das Lachen kaum verkneifen. Ich muss an einen Vorfall vom letzten oder vorletzten Jahr denken, den Besuch einer Freundin. Wir hatten uns wohl zwanzig Jahre lang nicht gesehen, da rief sie mich an einem Sonntagvormittag an: sie sei zufällig ganz in der Nähe, ob sie jetzt gleich mal auf einen Kaffee kommen könne. Ich war völlig überrascht, hatte nur zehn Minuten Zeit, mich aus meiner Wochenendschlamperei aufzuraffen und mich irgendwie zurechtzumachen. Zwanzig Jahre … Ich rannte ins Bad, überprüfte Gesicht und Haare, rannte an den Kleiderschrank und entschied schließlich, dass in so kurzer Zeit nichts zu machen war. Sie musste mich so nehmen, wie ich bin, zwanzig Jahre älter. Ich suchte mein schönstes Paar Ohrringe heraus. Meine Ohren waren nicht merklich gealtert, die konnte ich gefahrlos zur Geltung bringen.

Die ältere Kundin ist aufgestanden, eine andere nimmt Platz und schiebt ihre Füße in mein Blickfeld – auch sie trägt ganz ähnliche Sandalen. Vermutlich sind die gerade Mode. Martina bemerkt es und fängt wieder an zu kichern. Ihr Schere fährt um meinen Nacken.
„Die Ohren ganz frei, bitte“, sage ich.
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

Gerda

Beitragvon Gerda » 28.08.2012, 02:30

Als er vor zwei Jahren das erste Mal davon sprach, dass sie sich treffen sollten, fand sie es spannend und nicht belastend. Warum er nicht komme. Nein, Sie solle kommen. Sie könne doch Urlaub machen. Es dauerte weitere zwei Jahre, bis zur Verabredung, weil sie kurz, bevor sie reisen wollte schwer erkrankte. Die Erkrankung bewirkte Veränderungen. Die Unbeschwertheit ist dahin. Ist es überhaupt realistisch dieses Wiedersehen? Sie spürt ihr Zögern, Bedenken.
Was passierte, wenn Erinnerungen von vor vierundvierzig Jahren lebendig werden würden?
Ist es richtig, dass sie im Zug sitzt und zu ihm fährt? An jenen Ort, an dem sie sich kennengelernt haben. So vieles ist möglich, offen. Auch, dass sich ihr Leben noch einmal verändert? Unvernünftig, daran zu denken. Sie wird versuchen sich zu kontrollieren. Zu sich auf Distanz gehen. Aufpassen, dass sich Illusionen nicht selbständig machen.

Sie denkt an die erste Fahrt zu ihm. Die D-Züge brauchten doppelt so lange wie heutzutage die ICEs. Sie fuhr über Nacht. Liegewagen war zu teuer. Sie hatte im Sitzen während der ewig dauernden Fahrt zu wenig geschlafen und war dennoch springlebendig aus dem Zug gestiegen. Aber an den Moment des Wiedersehens auf dem Bahnsteig kann sie sich nicht mehr erinnern. Wohl aber daran, dass sie auf dem Kitzsteinhorn waren. Er lief Ski auf dem Gletscher. Sie kletterte mit seinen Eltern bis auf den Gipfel. Unvergesslich. Der erste Dreitausender Gipfel. An den fürchterlich kalten Bergsee kann sie sich erinnern. An Wanderungen. An das Hinunterrutschen auf der ersten Geröllhalde ihres jungen Lebens beim Abstieg von einem Berg. An ihre Unerfahrenheit in der Liebe, im Leben. So jung. Damals.

Sie ist aufgekratzt, denkt an die Kleidungsstücke, die sie gestern gepackt hat für eine Woche in den Bergen. Mit den meisten verbindet sie Erinnerungen. An die Urlaube der letzten 4, 5 Jahre. War das in einem anderen Leben? In dem ebenso Berge und Seen vorkamen. Was erst kurze Zeit zurückliegt? Weiß sie Phantasie und Wirklichkeit zu unterscheiden? So nah ist sie der Zeit. Jene, die in den deutschen Herbst fiel. Von dem sie erst viel später begriff, was er ausgelöst hatte.

Aber zurück zur Gegenwart. Sie sitzt tatsächlich im Zug. Schaut aus dem Fenster und sieht den See glitzern, an dem sie damals auch waren. Schade, dass sie nicht aussteigen kann. Verlockend das Wasser. Gern würde sie ein Stück am See entlanglaufen. Sich spüren. Jetzt ganz real. Ihren neuen Badeanzug ausprobieren. Sie hat ihn doch eingepackt?
In wenigen Minuten wird sie aus der Regionalbahn steigen.
Er wird sie abholen … und dann? Sie wagt es nicht, sich ihn, eine Begrüßung vorzustellen.
Will locker sein, alles auf sich zukommen lassen.
Sie kann nicht. Hat einen Kloß im Hals und kalte Hände. Wie mit Siebzehn.

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 29.08.2012, 21:06

Traum XY (Übers Erreichen)

Einen Wolf formen, während man erzählt, mit ihm heulen, weinen - bis man singt
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 31.08.2012, 00:51

Sei Ewald in Frührente ist – warum auch immer, behindert ist er eigentlich nicht, oder er ist jedenfalls jetzt nicht mehr behindert, als er es von jeher war – seit Ewald also in Frührente ist, hat er sich ein neues Hobby zugelegt. Er baut Holzskulpturen. Ich vermute, er hat einen Waldbesitzer im Bekanntenkreis, der ihm Baumstämme schickt, jedenfalls lagern vor Ewalds Haus jede Menge Baumstämme auf dem Bürgersteig und daneben ist sein Arbeitsplatz. Ich kann es formulieren wie ich will, es läuft immer auf die bittere Wahrheit hinaus: Ewald baut Holzskulpturen auf dem Bürgersteig.

Früher hat er angeblich hinten in seinem Garten gearbeitet. So lautet jedenfalls das Gerücht. Mitbekommen habe ich davon nichts. Jedenfalls soll die Ewaldine gemeutert haben, dass ihre Blumen voller Holzspäne sind und sie jeden Salatkopf viermal waschen muss. Und die Nachbarn nach hinten, hört man, haben sich auch beschwert, aber da weiß ich wie gesagt nicht sicher. Jetzt steht Ewald auf dem Bürgersteig. Er baut seinen Baumstamm vor sich auf, hochkant, und beginnt, eine Skulptur daraus zu machen. Dabei geht er vor wie in dem alten Bildhauerwitz: Wenn er etwa eine Eule haben will, nimmt er seine Säge in die Hand und sägt alles weg, was nicht nach Eule aussieht.

Jetzt ist das Stichwort „Säge“ gefallen. Ja, es ist leider an dem, dass Ewald eine Säge hat. Sie ist benzinbetrieben, sie kreischt, rattert, dröhnt und stinkt. Sie KREISCHT. Und RATTERT. Und STINKT. Ewald selbst trägt Schutzbrille und Ohrstöpsel und merkt in seiner schöpferischen Raserei vermutlich nicht viel von dem Lärm. Dafür merke ich um so mehr. Wenn ich morgens die Kübelpflanzen auf meiner Terrasse gegossen habe, ist gleich danach schon das erste Aspirin fällig, weil mir der Kopf dröhnt. Manchmal will Ewald mittags etwas essen und verlässt den Bürgersteig, dann kann ich auch auf meiner Terrasse etwas essen oder einen Kaffee trinken. Dann legt die Säge wieder los und ich muss schnell wieder hinein, die Fenster schließen und noch ein Aspirin nehmen. Vielleicht bekommt Ewald Provision von Bayer?

Ewalds Plastiken sind übrigens recht hübsch, in seinem Vorgarten stehen schon ein lebensgroßer Zwerg (also, ein wirklich recht großer Zwerg), ein Reiher, ein Geier, ein Biber (überlebensgroß) und ein Hase, der Männchen macht. Der Hase gefällt mir sogar richtig gut, aber ich werde den Teufel tun und Ewald fragen, ob er mir den Hasen schenkt. Ich will überhaupt nichts mehr von Ewald, ich will nur, dass er AUFHÖRT!!!

Gestern bin ich rübergegangen und habe ihm erstmal Komplimente gemacht. Er hat sogar die Säge abgestellt, um von mir zu hören, wie toll er sägt. Dann habe ich ihn gefragt, ob er eigentlich ein Gewerbe angemeldet hat und die Plastiken verkauft. Vielleicht stehen sie ja schon bei Dawanda, und ich habe wieder mal nichts mitgekriegt? Nein, die verschenkt er, an sehr gute Freunde, oder er stellt sie in seinem eigenen Garten auf. Aber vielleicht meldet er irgendwann auch ein Gewerbe an, wenn noch mehr Leute kommen und ihm erzählen, wie toll seine Figuren sind. Er hat auch (erzählte er mir unaufgefordert) eine Genehmigung der Gemeinde, bis acht Uhr abends zu sägen. Weil es ja eine Liebhaberei ist, ist er nicht an die Richtlinien für Gewerbetreibende gebunden.

Ich habe mir verkniffen, zu fragen, ob er DURCHGEHEND bis acht Uhr abends sägen darf.

Statt dessen ging ich heute wieder hinüber und fing wieder an, ihm zu erzählen, wie toll er sägt. Gleich hat er die Säge wieder abgestellt, um das zu hören. So ein toller Künstler wie er, meinte ich, muss doch eigentlich ein Atelier haben. In Fulda gibt es solche Räume zu mieten, im alten Gleiswerk, die sollen sogar richtig stylish sein. Das kann er sich leider nicht leisten, hat er gemeint. Nicht als Frührentner. Vielleicht, wenn er erst sein Gewerbe angemeldet hat und die Miete für das Atelier von der Steuer absetzen kann. Aber das wird er erst dann machen, wenn Leute kommen und seine Figuren kaufen wollen. Vorher hat es ja keinen Sinn.

Der Hase gefällt mir verdammt gut, aber ich werde nicht fragen. Ich werde NICHT fragen! NEIN!!!

Aus Verzweiflung ging ich heute mittag zu meiner anderen Nachbarin hinüber, um sie zu fragen, ob sie eigentlich keinen Anstoß nähme an dem ununterbrochenen Kreischen der Säge. Meine andere Nachbarin hat die Terrasse auf der anderen Hausseite, weil sie ein Eckhaus hat. Auf ihrer Terrasse war wirklich kaum etwas zu hören. Sie saß mit der Zeitung in einem Liegestuhl und trank Kaffee. In der Terrassenecke stand ein über-überlebensgroßes hölzernes Eichhörnchen. Ich fragte sie gar nicht erst wegen der Säge, es wäre sinnlos gewesen.

Vor dem Haus gegenüber sind seit gestern hölzerne Riesenpilze aufgetaucht. Da nach Unterstützung zu suchen, hat wohl auch keinen Zweck.

Statt dessen denke ich jetzt nachts, wenn es schön ruhig ist, über Maßnahmen im Alleingang nach. Protestaktionen. Ich verlege meine häuslichen Tätigkeiten jetzt auch auf den Bürgersteig. Aber was bringt das? Ich könnte auf dem Bürgersteig Wolle spinnen, aber mein Spinnrad ist nicht laut genug. Ich könnte Bilder malen (dito) oder meine Wäsche bügeln (dito). Ich könnte auch Geschichten schreiben. Diese hier schreibe ich zum Beispiel gerade auf dem Bürgersteig, deshalb muss ich jetzt auch zu Ende kommen, weil der Akku an meinem Notebook in den letzten Zügen liegt. Aber all das ist ja nichts gegen Ewalds Säge; ich müsste mir etwas einfallen lassen, was WIRKLICH Anstoß erregt. Ein Gewerbe, das ich auf dem Bürgersteig betreiben könnte und das die Nachbarschaft so richtig stört. Ich wäre dann bereit, es einzustellen, wenn er seine eigene Sägerei einstellt. Was für Gewerbe betreibt man auf dem Bürgersteig? Aber ich kann nicht mehr richtig denken wegen des vielen Aspirin, mir fällt nichts Passendes ein. Und jetzt ist mein Akku auch endgü
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)


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