Einsicht

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
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allerleirauh
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Beitragvon allerleirauh » 13.08.2013, 23:58

(Version 1)

Du atmest Dunkelheit ein,
wenn sich der Tag zu Dir auf die Decke legt wie eine träge Katze.

Die Ameisenschwärme waren geflügelt.
Im Gegenlicht: ein Insektenbrunnen aus springenden Leibern.
Spatzen fielen aus dem Himmel vor den Buchs, übermütig schnappten sie nach den flirrenden Bissen.

Dann steht der Mond auf der Leitung.

Als hätte ihn einer dorthingeschrieben, einer, der mondisch beherrscht und den Ameisenschwung.
Er rollt von der Zeile, der Mond, neigt sich ganz langsam nach rechts...
Die drei Wölkchen am Nachthimmel apostrophieren sein Licht und die, die eins sind mit sich und der Welt, mit den Ameisen und Katzen, sitzen ganz still und staunen.
Ein Mädchen steht auf dem Hocker, streckt sich und will etwas hinzufügen in Kindersprache.
Die Alte stützt sich auf die Vollmondnächte eines langen Lebens.

Auch du holst dir einen Stuhl. Du atmest Dunkelheit.
Du weißt: bald verwischen Nebel die Tinte der Nacht.


(Version 2)


du atmest dunkelheit
wenn sich der tag zu dir auf die decke legt
wie eine katze

die ameisenschwärme waren geflügelt
im gegenlicht:
ein insektenbrunnen aus springenden leibern
übermütig schnappten spatzen nach den flirrenden bissen

dann steht der mond auf der leitung

als hätte ihn einer dorthingeschrieben
einer der mondisch beherrscht und den ameisenschwung

drei wölkchen am himmel apostrophieren das mondlicht

ein mädchen steht auf dem hocker
streckt sich und will
kindersprache hinzufügen

die alte stützt sich auf vollmondnächte eines langen lebens

du holst dir einen stuhl
atmest dunkelheit
bald verwischen nebel die tinte der nacht

ecb

Beitragvon ecb » 14.08.2013, 19:54

Das sind schöne poetische Bilder, allerleirauh, getragen von verhaltener Freude und auch ein wenig Wehmut.
Sie verbinden in ihrem halbwachen Zustand Dinge, die für das wache Bewußtsein nicht zusammengehören, aber im Halblicht des Mondes gehört alles zusammen.

Mir gefällt dieser Versuch in lyrischer Prosa ausgesprochen gut.

Liebe Grüße
Eva

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 14.08.2013, 20:31

Ich stimme Eva zu!

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allerleirauh
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Beitragvon allerleirauh » 19.08.2013, 19:34

danke!

Mucki
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Beitragvon Mucki » 19.08.2013, 19:47

Hallo Annett,

deine Texte gefallen mir so gut, du hast deine ganz eigene Handschrift. Diesen Text hätte ich sofort als deinen erkannt, weil du mit deinen Worten Bilder malst. Und weil stets etwas Mystisches in ihnen enthalten ist. Sehr fein finde ich das.

Liebe Grüße
Gabi

RäuberKneißl

Beitragvon RäuberKneißl » 19.08.2013, 22:09

Hallo Allerleirauh,
mich sperrten die Ameisen und das Gegenlicht etwas aus dem so schön stimmungsvollen lyrischen Ton aus, denn das Katze-Bild zusammen mit der Dunkelheit am Anfang las ich als recht späte Dämmerung Vielleicht war die zweite Strophe als Rückblick gedacht? Logischer schiene mir bei einem so kurzen Text, diesen Teil dann nach vorne zu ziehen. Das 'auf der Leitung stehen' empfinde ich als 'Klops', passt für mich gar nicht zum sonstigen, versonnenen Ton. Vielleicht ginge der Übergang etwas direkter in der Art:

einer der mondisch beherrscht und den ameisenschwung
schreibt, aus Wölkchen sein Apostroph

ein mädchen ...

Grüße
Franz

jondoy
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Beitragvon jondoy » 21.08.2013, 00:27

selten sehe ich die wirkung von prosasprache und lyriksprache so unmittelbar direkt nebeneinander,
die unsichtbare grenze zwischen den beiden verläuft im grenzgebiet der beiden offensichtlich allein in der zeichensetzung, im niemandsland einer zwischenzeile..

aus deinen gewählten Bezeichnungen (Version 1) (Version 2) deute ich, das du es möglicherweise selbst ja so ähnlich siehst,

...und bei mir würde das urteil eindeutig ausfallen,
auf mich wirkt die prosasprache einfach lebendiger, sie versetzt mich in den Text, in die Stimmung des Textes,
lesen heisst, durch fremde hand sich zum Träumen bringen lassen,

in der version 2 wirken die worte auf mich statisch, die gedankenbilder abgehakt, unverbunden,
allerdings weiss ich von mir, dass mir selten lyrik überhaupt nahe kommt,

was mich so wundert ist, wie ein und derselbe text auf mich so anders auf mich wirken kann, allein durch anders gewählte zeilensetzung, offensichtlich erzeugt man allein mit punkt und zwischenzeilen eine andere sprachmelodie,
ein unsichtbares miniklavier, auf dem man unlesbare zwischentöne spielt,
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jondoy
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Beitragvon jondoy » 21.08.2013, 00:31

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