HBF

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
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ZaunköniG
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Beitragvon ZaunköniG » 18.12.2014, 16:28

HBF


1 - Gebäudereiniger


Flecken auf der neuen Glasfassade
von Vogelkot und fetten Bratwurstfingern.
Dahinter schweift der Blick den jungen Dingern
ins Dekolleté... - Ein Wisch - und weg... Gerade

kam wieder dieses Bild: Ein Lichtreflex
und eine Silhouette an der Scheibe, -
die Schliere, der verschmierte Majo-Klecks -
sieht der nicht auch genauso aus? Beileibe!

es ist o.k. wenn er heut Scheiben putzt.
Er steigt nie wieder in den Führerstand.
Die Fragen "Warum ich" und "Wem es nutzt"
sind ohne Antwort abgehakt. Die Hand
wischt schnell die Geister fort. Nichts mehr zu sehen.
Wie tote Blätter treiben draußen Krähen.


II

Wie tote Blätter treiben draußen Krähen,
sind bei der nächsten Zugeinfahrt zerstoben.
Wenn an der Bahnsteigkante Kinder toben
gefriert sein Herz. - Er kann sowas nicht sehen. -

Noch immer nicht - Die früheren Kollegen
schau'n gerne mal vorbei auf einen Schwatz.
Anfängliche Betroffenheit hat Platz
gemacht für Smalltalk. Nichts hilft besser gegen

die ewige Erinnerung: Ein Schatten -
ein dumpfer Schlag - verfolgen ihn ins Grab.
Nur die, die einen vor der Scheibe hatten
seh'n hinter sein Gesicht - und sie verstehen.

Und wieder landet dieser Pulk von Krähen;
Sie setzen sich am kalten Bahnsteig ab.
Der Anspruch ihn auszudrücken, schärft auch den Eindruck

Quoth
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Beitragvon Quoth » 18.12.2014, 18:46

Zwei mit einander verschränkte Sonette - vielleicht aus einem Kranz? Beim ersten dachte ich an einen Gebäudereiniger an einem Bürohochhaus, aber der Titel HBF - Hauptbahnhof - stellt wohl klar, dass beide Texte denselben Ort reflektieren. Das Sonett, ursprünglich mal erfunden, um wohllautende Liebesklage zu formulieren, ist längst zu einer toten Form geworden, in die man so gut wie alles füllen kann - eben auch fettige Bratwurstfingerabdrücke, Mayonnaise-Flecken, Vogelschiss etc., ja sogar auch Formeln der Werbung - "wisch und weg" - für mein Gefühl ist es geradezu ein mutwilliges Bekleckern der alten ehrwürdigen Form! Legitim, aber für meine Begriffe nicht konsequent genug - und dann doch wieder mit einem grossen, ehrwürdigen Thema vermischt: Sterben und Tod ...
Mich irritiert, dass der Gebäudereiniger arabisch eins ist, der zweite Text hingegen römisch zwei. Absicht oder Versehen?
Das "Beileibe!" in der zweiten Strophe ist wohl ein verkürztes "Beileibe nicht". Fragwürdig.
Deine Kunstfertigkeit, Zaunkönig, im Reimen und Sonette Schreiben, ist unbestreitbar, aber eine Synthese mit dem Inhaltlichen bleibt hier für mich aus.
Gruss
Quoth
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

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ZaunköniG
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Beitragvon ZaunköniG » 18.12.2014, 22:59

Hallo Quoth,


Ein Kranz? Die Option liegt auf dem Tisch - und sie reizt mich, aber ob das Thema wirklich für 14 Sonette trägt?
Das ist natürlich eine theoretische frage, denn es hängt ja nicht vom Thema ab, sondern wie weit ich es als Autor durchdringe.

Das Sonett, ursprünglich mal erfunden, um wohllautende Liebesklage zu formulieren, ist längst zu einer toten Form geworden, in die man so gut wie alles füllen kann - eben auch fettige Bratwurstfingerabdrücke, Mayonnaise-Flecken, Vogelschiss etc., ja sogar auch Formeln der Werbung - "wisch und weg" - für mein Gefühl ist es geradezu ein mutwilliges Bekleckern der alten ehrwürdigen Form!


Tot ist eine Form nur dann, wenn sie es nicht mehr schafft neue Inhalte aufzunehmen. Der ewige Lobpreis einer idealisierten Liebe ist der gläserne Sarg des Sonetts, den es zu zerschlagen gilt! - Aber doch nicht so grob, dass man Schneewittchen gleich mit erschlägt. Es gab ganz phantastische Sonett-Dichter auch nach Petrarca und Shakespeare. Nach einer längeren rilkesken Phase tendiere ich in jüngerer Zeit mehr in Richtung Benn, Birnbaum oder Edna St. Vincent Millay, von der der schöne Ausspruch stammt: "Ich will Chaos im Sonett" Dabei ist sie keine Formzertrümmerin, die gleich ganz auf Reim und Versmaß verzichtet, aber Exzessiv auf das Enjambement setzt, auch strophenübergreifend. Und wie ich an anderer Stelle schon geschrieben habe muß Lyrik nicht schön klingen. Sie darf hässlich, traurig oder beängstigend sein, je nach gewähltem Sujet.

Es gibt Moden in der Sprache. Man kann sich seinen Wortschatz bei Hofe leihen oder im Jetset, man kann Superlative verwenden und Euphemismen, man kann sich originelle Neologismen zurechtbasteln oder Fremdworte suchen, alle diese Moden nutzen sich ab. Alle diese Worte können gut sein, aber sie sind es nicht, weil sie selten sind, sondern dann, wenn sie präzise sind. Ansonsten verwende ich gerne Jetzt-Deutsch. Und zwar mein eigenes oder was ich in meinem Umfeld höre. Dazu gehört auch eine Werbeformel wie "Wisch und Weg" die hier aber nicht als Werbeslogan verwendet wird sondern als geflügeltes Wort, so wie sich auch manches Filmzitat verselbständigt.

Du sagst: "legitim, aber nicht konsequent genug". Was wäre denn konsequent? Soll ich irgendwelchen Gangster-Rappern aufs Maul schauen? Die sind genauso wenig echt wie der Musikantenstadel. es ist nur eine andere, entgegengesetzte Pose.

Die uneinheitliche Nummerierung ist tatsächlich nur ein Versehen, da ich den Text aus verschiedenen Dateien zusammen-kopiert habe. Lass dich davon nicht irritieren. Das ist keine weitere Spitze gegen die Form ;)


Was mich im Zusammenhang mit Kritik andernorts interessiert: An welcher Stelle wurde dir klar, dass es auch um Sterben/Tod geht?

Gruß
ZaunköniG
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Zefira
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Beitragvon Zefira » 18.12.2014, 23:43

Es geht aber doch in beiden Gedichten um dieselbe Person, nicht wahr?
Einen ehemaligen Zugführer, der zum Gebäudereiniger umgesattelt hat.
Ich habe das erste Gedicht erst nach dem Lesen des zweiten verstanden und daraufhin natürlich das erste gleich noch einmal gelesen. Ohne etwas von der Form zu verstehen (ich erkenne da gar kein Sonett, zum Beispiel) macht das Gedicht auf mich den Eindruck, dass die Sätze in eine Form gesperrt wurden, aus der sie auszubrechen suchen - durch die Enjambements und vor allem in den durch Leerzeilen auseinandergerissenen Sätzen. Ein großartiger Kunstgriff, eine in sich gefangene und kreiselnde Gedankenwelt zu illustrieren, finde ich. Gefällt mir sehr!

Grüße von Zefira
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 19.12.2014, 08:25

Hallo Zaunkönig,

inhaltlich ist es für mich klar und auch sprachlich finde ich es sehr gut umgesetzt und in der Form „(ein)gefangen“ in einem guten Sinn, es entsteht eine Spannung, die trägt. Auch die Zweiteilung, das Kreisen gefällt mir gut. Nur zwei kleine Kritikpunkte. Ich würde die Zeichensetzung noch einmal anschauen und wo es geht reduzieren.
ins Dekolleté... - Ein Wisch - und weg... Gerade
Hier zum Beispiel finde ich es unnötig irritierend, auch optisch zu unruhig. ins Dekolleté - ein Wisch - und weg. Gerade

Und diese beiden Stellen:
die Schliere, der verschmierte Majo-Klecks
sieht der nicht auch genauso aus? Beileibe!
Das ist mir ein bisschen zu derb (ungewollt?) (Gehirnmasse) und die zweite Zeile ist auch die einzige Stelle, bei der ich dachte, dass sie spürbar der Form geschuldet ist und nicht aus sich selbst heraus bestehen kann. Vielleicht etwas wie: alles zieht ihn dorthin zurück. Und beim „Beileibe!“ könnte ich mir zum Beispiel auch ein „Nein. Bleibe!“ vorstellen. Nur mal als Anreiz da noch weiter zu überlegen.
Nur die, die einen vor der Scheibe hatten
Und auch diese Stelle, die den Inhalt noch einmal verdeutlichen soll (?) (Ist nicht nötig?) ist mir ein wenig zu flapsig geraten. Für mich schwingt da seltsamerweise „einen an der Waffel haben“ mit, liegt aber vielleicht auch nur an mir. :mrgreen:

es ist o.k. wenn er heut Scheiben putzt.
“es“ groß?

Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

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ZaunköniG
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Beitragvon ZaunköniG » 19.12.2014, 11:51

Hallo Zefira, hallo Flora,


Ja, es geht in beiden Teilen um die gleiche Person, das hast du, Zefira, richtig gesehen. Tatsächlich stand das erste Sonett zunächst allein. Ich hatte es in einer örtlichen Autorengruppe vorgestellt, wo es zwar mit Wohlwollen aufgenommen wurde, aber der Todesfall eben nicht erkannt wurde. Statt dieses erste Sonett zu überarbeiten, habe ich es ergänzt. - und erlebe nun, dass es manchen zu deutlich, zu drastisch geraten ist. Nun, man kann es wohl nicht jedem recht machen.

Was die Zeichensetzung und Rechtschreibung angeht, Flora, hast du sicher recht. Da bin ich mitunter etwas schlampig oder inkonsequent. Bevor ein solcher Text in den Druck muß ich auf jeden Fall nochmal drübergehen.

Bei dem verschmierten Majo-Klecks dachte ich eher an die Silouhette, nicht an Gehirnmasse oder ähnliches. Ich bin ja kein Lokführer und hatte Gott sei Dank auch als Autofahrer noch keinen vor der Scheibe, aber ich denke dass es ziemlich schnell geht. Ein Schatten, ein dumpfer Schlag, - und der Rest ist Kopfkino, das einen weiter verfolgt. und gerade weil die Bilder so unscharf sind, kann man sie überall wieder entdecken.

Die Zeile 8 sehe ich persönlich auch als die schwächste an. Der Ausruf "Beileibe!" passt zwar inhaltlich, ist aber auch etwas antiquiert ausgedrückt" und will sich nicht recht in den sonst eher saloppen Tonfall einfügen.

Für mich schwingt da seltsamerweise „einen an der Waffel haben“ mit, liegt aber vielleicht auch nur an mir. :mrgreen:

Die Assoziation war so nicht beabsichtigt, aber letztlich geht es ja auch darum, dass er psychisch einen Knacks wegbekommen hat. Und sicher kommt er hin und wieder in Situationen, wo sein Verhalten Außenstehenden etwas seltsam anmutet.
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Zefira
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Beitragvon Zefira » 19.12.2014, 12:20

Wenn Du die Assoziation mit der Hirnmasse vermeiden willst, könntest du vielleicht statt "sieht der nicht auch genauso aus?" formulieren: "hat der nicht auch die gleiche Form?"
Nur so als Idee. Ehrlich gesagt ist mir der Gedanke an Hirn gar nicht gekommen ...

Was den Ausdruck "einen vor der Scheibe hatten" angeht - ich habe keine Ahnung, wie oft es vorkommt, dass Zugführer jemanden oder etwas (Tiere zu überfahren ist wohl auch kein Spaß) auf den Gleisen sehen; in vielen Fällen geht es wohl auch gerade noch gut aus - aber es ist ja ein typisches Berufsrisiko, deshalb würde es mich nicht wundern, wenn es unter Zugführern diese Redensart gibt: "Ich hatte zum Glück noch nie einen vor der Scheibe" oder so ähnlich. Mich erinnert das an einen Ausspruch von Axel Prahl, der einen Tatortkommissar spielt und in dieser Rolle einmal von einem erschlagenen Opfer sagte: "Der hat ein Loch im Dach". Er drückte sich absichtlich drastisch aus, weil das seiner Meinung nach ein beruflicher Schutzmechanismus sei ... Nur so ein Gedanke.

Grüße von Zefira
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Beitragvon ZaunköniG » 19.12.2014, 12:53

@Zefira

Bei Vollbahnen in Deutschland wurden 2007 706 Suizide und 2010 899 Suizide gezählt. Nach Angaben der Deutschen Bahn müsse ein Triebfahrzeugführer im Berufsleben durchschnittlich zwei bis drei Selbstmorde verkraften. Je Million Zugkilometer ereigneten sich in den Jahren 2007 und 2013 zwischen 0,68 und 0,87 Schienensuizide. Nicht enthalten sind darin Schienensuizide bei anderen Schienenbahnen wie Straßenbahnen, Stadtbahnen oder U-Bahnen.

Diese Statistik geht wohl von 40 Berufsjahren aus, wobei mancher Lokführer eben nach dem ersten Suizid aussteigt. Hinzu kommen allerdings noch Unfälle, die sicher genauso traumatisch für den Lokführer sein können.

mit dem Schutzmechanismus hast du sicherlich recht, so haben auch Ärzte und Altenpfleger einen mitunter recht derben Humor.

Wenn Du die Assoziation mit der Hirnmasse vermeiden willst, könntest du vielleicht statt "sieht der nicht auch genauso aus?" formulieren: "hat der nicht auch die gleiche Form?"


Das gesehene auf einen einzelnen Aspekt zu reduzieren, nämlich in deinem Vorschlag die Form, entspricht nicht dem unmittelbaren Eindruck, sondern ist bereits reflektiert. Diese Reflektion findet aber gerade nicht statt, weil er das Bild im Wortsinne wie im übertragenen einfach wegwischt. Die Assoziation mit Hirnmasse ist zwar nicht beabsichtigt, aber sie passt doch in den Handlungs- und Gedankenrahmen. Warum sollte ich sie nicht erlauben?
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Beitragvon Ylvi » 19.12.2014, 14:54

Zaunkönig hat geschrieben:Die Assoziation mit Hirnmasse ist zwar nicht beabsichtigt, aber sie passt doch in den Handlungs- und Gedankenrahmen. Warum sollte ich sie nicht erlauben?
Für mich steckt darin etwas Abfälliges, Derbes, vielleicht der Humor-/Schutzmechanismus, den Zefi erwähnt. Nur passt das, dieser Umgang für mich nicht zur gezeigten Person?
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Beitragvon ZaunköniG » 20.12.2014, 08:56

Nein, die Hirnmasse taucht ja in keiner wörtlichen Rede auf, auch keine Andeutung darauf, insofern hatv es mit Zefis Schutzmechanismus nichts zu tun. Auch wenn ich meinem Protagonisten solche Assoziationen unterstelle, so wischt er sie doch weg, weil sie zu heftig sind.
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