Der bleibende Dachschaden

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Kurt
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Beitragvon Kurt » 03.01.2015, 23:34

Im neuen medizinischen Lichte
widerstrahlte ein Y auf seiner
Stirnglatze mehr zum Schädeldach hin,
bei allen anderen aber ein X.
Die Ärzte nannten es eine Y-Krankheit;
das Volk sprach vom Dachschaden.

Er floh, ein Fantasiereisender, in das
Land der umgekehrten Verhältnisse,
wo unter dem medizinischen Lichte
bei allen jeweils ein Y auf
dem Schädel aufleuchtete, nur bei
ihm schimmerte das X. Nun wähnte
er sich befreit vom Dachschaden.

Jedoch traf er auf Widerspruch,
weil es nicht angehen könne, ein
ganzes Volk mit Dachschäden.
Es wurde demokratisch abgestimmt
und ihn nannten sie x-krank.

Auf einem internationalen Ärztekongress
stellten die beiden Länder
ihre neuentdeckten Krankheiten vor;
das Land der umgekehrten Verhältnisse
die X-Krankheit, das entgegengesetzte
seine Y-Krankheit.

Sie einigten sich, dass es weder
eine X- noch Y-Krankheit gäbe.
Das Volk sprach aber weiterhin vom
Dachschaden, wenn ein Bewohner aus
dem fremden Land zu Gast war,
also einer mit einem Y auf
der Stirn bei denen mit lauter
Xen oder umgekehrt.
"Wir befinden uns stets mitten im Weltgeschehen, tun aber gerne
so, als hätten wir alles im Blick." (Kurt)

Nifl
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Beitragvon Nifl » 04.01.2015, 16:00

Ein originaler Kurt. Wieder sehr prosanahe und schlicht. Anfänglich wurde versucht die Sprache zu "verlyrisieren" mit "Lichte" oder einigen Konjunktiven, sowie partiellem gehobenen Sprachgebrauch wie "wähnte", dies wurde allerdings nicht konsequent durchgehalten, was zB. das "Land" zeigt, das nicht zum "Lande" wurde, und im Gegenteil sperrige Wörter wie "demokratisch" oder "Ärztekongress" inflationär das Sprachbild bestimmen.
Die Message ist auch sehr schlicht, ein schönes Thema für eine Deutschklassenarbeit der unteren Jahrgänge mit dem netten Effekt der wichtigen Hinterfragung von Diskriminierungsstrukturen.
Interessant ist, dass es sich bei dem polaren Gegenentwurf um einen Phantasiereisenden handelt, der die zweite (antagonistische) "verkehrte" Welt nur erdenkt. Wer das schön aufdröselt, bekommt ein +.

Gruß
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)

Kurt
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Beitragvon Kurt » 04.01.2015, 17:55

Danke Nifl. Vielleicht kann ich ja in einem nächsten Schritt versuchen, diese Prosa noch etwas mehr zu verdichten, verlyrisieren, eine Textstelle durch eine Metapher ersetzen, noch ne kl. Wortschöpfung zwischenschieben etc . Aber ein Prosagedicht wird es natürlich bleiben.

LG Kurt
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Kurt
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Beitragvon Kurt » 04.01.2015, 23:04

Zu den Schülern. Ja, da sollte man sich früh der Thematik widmen. Ich habe vor kurzem
eine kl. Diskussion gehabt im Netz über Rassismus. Die Erwachsenen wussten noch nicht mal, dass es keine Rassen bei den Menschen gibt. Bei den Hunden ja, und das hat seinen Grund. Aber das erfahren die Schüler alles im Biologieunterricht. Das ist nicht Aufgabe der Lyrik, aber so ein Gedicht als Aufhänger zur Auseinandersetzung in Sozialkunde, joor.

LG Kurt
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Nifl
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Beitragvon Nifl » 05.01.2015, 09:20

Hallo Kurt,

verdichten, Metaphern, Wortschöpfungen, semantischen Fluss vertiefen-> JA, verlyrisieren, Hilfe NEIN.

Und auch Hunderassen bestehen aus Individuen.

Gruß
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