Anne hängt am Kreuz ihrer Einsamkeit.
Rechts eine Tochter, links eine Tochter,
zu Füßen ein Mann
und auf der Stirn die Dornenkrone,
gespannt zwischen Zuversicht und Zweifel.
Die Frauen, die den Boden
zu ihren Füßen scheuern,
beachten sie nicht.
Beim Wort Kreuz
denken sie an ihren gekrümmten Rücken,
an den Trost, der darin liegt,
dass die Arbeit ihrer Hände ihre Kinder ernährt.
Sie müssen sich nicht verkaufen.
Nur scheuern, bis der Boden glänzt.
Letzte Zeile: den andere mit Füßen treten" gelöscht. Weil da wirklich eine Wertung drin steckt.
Der glänzende Boden unter dem Kreuz
Zuletzt geändert von Xanthippe am 07.04.2016, 16:06, insgesamt 1-mal geändert.
Für mich ist der Name hier genau der richtige Einstieg in das Gedicht, auch klanglich. Zudem lese ich bei Anne auch das türkische "Mutter", oder "Mama" mit, was hier gut passt und auch das Religiöse nochmal auf andere Weise aufgreift.
Ich bleibe aber an dieser Zeile hängen:
Sie müssen sich nicht verkaufen.
Muss Anne sich verkaufen? Eine Prostituierte (auch als Begriff weiter gefasst)? Das passt für mich nicht. Und wenn ich es nicht auf Anne beziehe, dann weiß ich auch nicht, woher dieser Gedanke kommt. Finde ich schief und abwertend, ohne dass ich einen Sinn (für das Gedicht) darin sehe.
Ich bleibe aber an dieser Zeile hängen:
Sie müssen sich nicht verkaufen.
Muss Anne sich verkaufen? Eine Prostituierte (auch als Begriff weiter gefasst)? Das passt für mich nicht. Und wenn ich es nicht auf Anne beziehe, dann weiß ich auch nicht, woher dieser Gedanke kommt. Finde ich schief und abwertend, ohne dass ich einen Sinn (für das Gedicht) darin sehe.
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)
Ja, diese Zeile war mir auch nicht klar.
Dachte an Sich-Verkaufen in der Ehe. Aber: Wer sagt denn, dass die Putzenden und Schrubbenden es nicht (auch) tun (müssen)? Sie waschen und putzen sich vielleicht rein von solchen Gedanken - aber auch dann finde ich es nicht stimmig (bzw. so unstimmig, dass das wiederum eine Aussage für mich wäre).
An die türkische Mama habe ich auch gedacht. Aber das geht für mich überhaupt nicht zusammen.
Dachte an Sich-Verkaufen in der Ehe. Aber: Wer sagt denn, dass die Putzenden und Schrubbenden es nicht (auch) tun (müssen)? Sie waschen und putzen sich vielleicht rein von solchen Gedanken - aber auch dann finde ich es nicht stimmig (bzw. so unstimmig, dass das wiederum eine Aussage für mich wäre).
An die türkische Mama habe ich auch gedacht. Aber das geht für mich überhaupt nicht zusammen.
Vielen Dank für eure Rückmeldungen. Das sind wichtige Informationen für mich. Ich könnte jetzt ganz viel zur Verteidigung und Erklärung vorbringen, warte aber noch eine Weile damit. Spannend finde ich gerade, dass der Text scheinbar auch ohne den Hintergrund, vor dem er entstanden ist funktioniert, wenn natürlich auch mit Abstrichen.
Vielleicht ist es auch diese spontane Reaktion, die ich auch hatte, die dann nachdenklich macht und auch aufmerksam. Auf jeden Fall regt es für mich mit diesem Namen/Wort Gedanken und Fragen an, kratzt an Bildern und das, ohne dass das Gedicht darauf pochen würde. Fände ich sehr schade, wenn das wegfallen würde.An die türkische Mama habe ich auch gedacht. Aber das geht für mich überhaupt nicht zusammen.
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)
Hallo Xanthippe, es gibt in dem Text zwei Klassen von Frauen: Die einen, die sich wie Anne selbst erhöhen, indem sie ihr Leid mit einem religiösen Mythos vergleichen und sich entsprechend, bis hin zur Dornenkrone, selbst stilisieren, für mich sind das die Bildungsbürgerinnen ... Und dann die anderen, deren Kreuz das eigene überforderte Rückgrat ist, die nie auf die Idee kämen, sich derart zu stilisieren, weil ihr Daseinskampf dafür viel zu hart ist. Ein schöner Kontrast, wobei mir die ersteren ziemlich anmaßend, ja, vielleicht sogar albern vorkommen im Gegensatz zu den viel realeren Putzfrauen - falls ich das an einem Karfreitag mal bewerten darf!
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.
Liebe Xanthippe,
erst einmal wieder bemerkenswert: Ich las den Betreff des Fadens und war gleich angezogen und wusste, da verbirgt sich etwas. Es kommt natürlich nicht in letzter Konsequenz auf diesen Sog an, aber ich bin insgeheim schon ein ziemlicher Fan solcher Titel, mit dieser Musik in ihnen, die mich anlockt. Es steckt alles drin, was im Text auf einen wartet, man weiß schon, sogar dass man es kennt, aber man hat es noch nicht probiert, gleich bekommt man es gesagt.
Und der Text, der dann folgt, fällt nicht hinter meine Erwartungen zurück. Ein einfaches, aber mächtiges Bild, in der verschiedene Rollen (Väter, Männer, Töchter, Mütter ...) bildlich in Beziehung zu einander gesetzt werden und darüber etwas über sie aussagen.
Ich verstehe es in der Anlage in etwa wie Quoth, sehe aber die Frauen, die den Boden scheuern, nicht als weniger problematisch an bzw. denke, dass der Text beide Lebenshaltungen gleich stark problematisiert. Nur wendet er eben die Perspektive und konzetriert sich stärker auf Annes Erleben: Während normalerweise derjenige, der am Kreuz hängt und das Opfer bringt, verehrt/angerufen wird, wird Anne von den anderen schaffenden Frauen nicht einmal wahrgenommen. Sie hingegen aber scheint, wie sonst die Anhänger zum Kreuz zu blicken, den Boden als etwas Glänzendes ehrfürchtig zu erblicken, denn er ist das Produkt, das Zeichen, das Anbetungswürdige der Frauen, die wirklich etwas tun. Deshalb liegt auch der Schmerz bei ihnen (wie sonst andersherum bei Christus).
Der Blick nach unten wird zur Wunschstrecke. Und das Schaffen, das selbstkaputtmachen das Anbeutungswürdige, was schon ziemlich verdreht ist, aber tatsächlich abbildet, wo sich viele Frauen heutzutage befinden.
Ist das sich verkaufen Annes Dienst, um ebenso wie die anderen Frauen ihre Kinder versorgt zu wissen, eben nur durch die Bindung eines Mannes, indem sie sich so stilisiert und sich so zu jemanden macht, der nichts tut? Gibt es nur diese beiden unmündigen Möglichkeiten für Frauen, für ihre Kinder zu sorgen: nichts tun zu können und alles tun zu müssen? Die beiden Fronten scheinen sich jedenfalls nicht zu verständigen.
Quoth, es stimmt, die zweite Art scheint noch vermeidungswürdiger, und ist es vielleicht auch, weil es so hochgezüchtet ist. Aber ich bin unsicher, ob das so richtig bemessen ist - unser Kulturlevel ermöglicht solche Zustände, es ist sogar gewollt, es existiert ein Sog, in den Menschen, ich möchte sagen, auf gleiche Art geraten wie in andere Zustände, die man vielleicht als unvermeidbar proklamiert. Und dann, wenn sie in diesem Zustand sind, verlangt man von ihnen, dass sie diese einfach abschütteln, verachtet ihre Bioweinerlichkeit, ihre Stunden beim Therapeuten, ihre Kreisel in höheren Sphären.
Zugleich gilt andersherum, dass es auch ein Klischee ist, dass der, der arm dran ist, nichts für sein Elend kann. Mir gehen jedenfalls die putzenden Frauen in dem Text ebenso auf den Keks. Was nun wieder nicht heißen soll, dass das nicht auch furchtbar sein kann --- darüber müsste man wohl Stunden sprechen.
Ich selbst wiederum habe bei dem Gedicht - vermutlich weil eigentlich ein Mann am Kreuz hängt und der dieses Problem ja nicht hat - an einen Gedanken gedacht, den ich vor Jahren einmal hatte, nämlich dass das einzige, wofür ich Männer wirklich beneide, ist, dass sie in bestimmten Situationen eher drauf gehen als Frauen. Darin liegt für mich eine Form der Freiheit. Frauen haben in vielen Situationen Optionen, um weiterzumachen, die Männern verwehrt sind. Zum Beispiel so zu werden wie Anne.
Das ist sicher auch romantisiert, aber ich glaubem--- dann auch wieder nicht. Für Männer mag sich das natürlich anders anfühlen, klar. Wobei ich das Gefühl habe, dass viele Männer daraus wirklich Kraft und Schönheit schöpfen?!
Liebe Grüße
Lisa
erst einmal wieder bemerkenswert: Ich las den Betreff des Fadens und war gleich angezogen und wusste, da verbirgt sich etwas. Es kommt natürlich nicht in letzter Konsequenz auf diesen Sog an, aber ich bin insgeheim schon ein ziemlicher Fan solcher Titel, mit dieser Musik in ihnen, die mich anlockt. Es steckt alles drin, was im Text auf einen wartet, man weiß schon, sogar dass man es kennt, aber man hat es noch nicht probiert, gleich bekommt man es gesagt.
Und der Text, der dann folgt, fällt nicht hinter meine Erwartungen zurück. Ein einfaches, aber mächtiges Bild, in der verschiedene Rollen (Väter, Männer, Töchter, Mütter ...) bildlich in Beziehung zu einander gesetzt werden und darüber etwas über sie aussagen.
Ich verstehe es in der Anlage in etwa wie Quoth, sehe aber die Frauen, die den Boden scheuern, nicht als weniger problematisch an bzw. denke, dass der Text beide Lebenshaltungen gleich stark problematisiert. Nur wendet er eben die Perspektive und konzetriert sich stärker auf Annes Erleben: Während normalerweise derjenige, der am Kreuz hängt und das Opfer bringt, verehrt/angerufen wird, wird Anne von den anderen schaffenden Frauen nicht einmal wahrgenommen. Sie hingegen aber scheint, wie sonst die Anhänger zum Kreuz zu blicken, den Boden als etwas Glänzendes ehrfürchtig zu erblicken, denn er ist das Produkt, das Zeichen, das Anbetungswürdige der Frauen, die wirklich etwas tun. Deshalb liegt auch der Schmerz bei ihnen (wie sonst andersherum bei Christus).
Der Blick nach unten wird zur Wunschstrecke. Und das Schaffen, das selbstkaputtmachen das Anbeutungswürdige, was schon ziemlich verdreht ist, aber tatsächlich abbildet, wo sich viele Frauen heutzutage befinden.
Ist das sich verkaufen Annes Dienst, um ebenso wie die anderen Frauen ihre Kinder versorgt zu wissen, eben nur durch die Bindung eines Mannes, indem sie sich so stilisiert und sich so zu jemanden macht, der nichts tut? Gibt es nur diese beiden unmündigen Möglichkeiten für Frauen, für ihre Kinder zu sorgen: nichts tun zu können und alles tun zu müssen? Die beiden Fronten scheinen sich jedenfalls nicht zu verständigen.
Quoth, es stimmt, die zweite Art scheint noch vermeidungswürdiger, und ist es vielleicht auch, weil es so hochgezüchtet ist. Aber ich bin unsicher, ob das so richtig bemessen ist - unser Kulturlevel ermöglicht solche Zustände, es ist sogar gewollt, es existiert ein Sog, in den Menschen, ich möchte sagen, auf gleiche Art geraten wie in andere Zustände, die man vielleicht als unvermeidbar proklamiert. Und dann, wenn sie in diesem Zustand sind, verlangt man von ihnen, dass sie diese einfach abschütteln, verachtet ihre Bioweinerlichkeit, ihre Stunden beim Therapeuten, ihre Kreisel in höheren Sphären.
Zugleich gilt andersherum, dass es auch ein Klischee ist, dass der, der arm dran ist, nichts für sein Elend kann. Mir gehen jedenfalls die putzenden Frauen in dem Text ebenso auf den Keks. Was nun wieder nicht heißen soll, dass das nicht auch furchtbar sein kann --- darüber müsste man wohl Stunden sprechen.
Ich selbst wiederum habe bei dem Gedicht - vermutlich weil eigentlich ein Mann am Kreuz hängt und der dieses Problem ja nicht hat - an einen Gedanken gedacht, den ich vor Jahren einmal hatte, nämlich dass das einzige, wofür ich Männer wirklich beneide, ist, dass sie in bestimmten Situationen eher drauf gehen als Frauen. Darin liegt für mich eine Form der Freiheit. Frauen haben in vielen Situationen Optionen, um weiterzumachen, die Männern verwehrt sind. Zum Beispiel so zu werden wie Anne.
Das ist sicher auch romantisiert, aber ich glaubem--- dann auch wieder nicht. Für Männer mag sich das natürlich anders anfühlen, klar. Wobei ich das Gefühl habe, dass viele Männer daraus wirklich Kraft und Schönheit schöpfen?!
Liebe Grüße
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.
Hallo Lisa, für meine Bevorzugung der unten arbeitenden Frauen habe ich einen Grund, der seinerseits auch in Frage gestellt werden kann: Sie sind bei sich, sind sie selbst, während die gekreuzigten Frauen sich zu Metaphern des Leidens erhöhen (und nicht von Kreuzigern erhöht werden), ich nehme sie hinter diesem Bild gar nicht mehr wahr, zumal dieses Bild (verdammter alter Adam) für mich auch eine erotische Komponente hat, Félicien Rops hat das Motiv mehrfach verwandt. Aber sind die Scheuernden wirklich bei sich - befinden sie sich nicht einer Abhängigkeit, die auch Selbstentfremdung ist? Würde diese Perspektive deutlicher, entstünde für mich ein ungefähres Gleichgewicht. Ein kluger, ein dialektischer Text!
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.
Lieber Quoth,
es ist immer eine Freude, was du an Bezügen heranziehst - jetzt hätte ich schon wieder Lust, eine Stunde über das Bild zu sprechen
Hm, ich habe die Frauen nicht als bei sich erlebt - aber wenn ich den Text nochmal anschaue, hast du recht, so ganz klar wird ihre Darstellung diesbezüglich eigentlich nicht. Für mich liegt in diesen Zeilen allerdings schon etwas Insziniertes:
Beim Wort Kreuz
denken sie an ihren gekrümmten Rücken,
Aber dieser Eindruck kann auch nur durch die sprachliche Durchführung der Wende entstehen - ich bin gespannt, ob Xanthippe hierzu noch was sagen mag.
Liebe Grüße
Lisa
es ist immer eine Freude, was du an Bezügen heranziehst - jetzt hätte ich schon wieder Lust, eine Stunde über das Bild zu sprechen
Hm, ich habe die Frauen nicht als bei sich erlebt - aber wenn ich den Text nochmal anschaue, hast du recht, so ganz klar wird ihre Darstellung diesbezüglich eigentlich nicht. Für mich liegt in diesen Zeilen allerdings schon etwas Insziniertes:
Beim Wort Kreuz
denken sie an ihren gekrümmten Rücken,
Aber dieser Eindruck kann auch nur durch die sprachliche Durchführung der Wende entstehen - ich bin gespannt, ob Xanthippe hierzu noch was sagen mag.
Liebe Grüße
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.
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