faschismus

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
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Werner
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Beitragvon Werner » 15.10.2016, 16:14

schmiegt sich an dein ohr
das rauschen der zeit
verschwindet vom radarschirm
deine stimme
schhh
gesänge gespuckt in die waagschale
gegen den schmerz
bewegen sich die wörter
sicher in der luft
nehmen es mit papierfliegern auf
um die wette
fffhh
flüstern in dein haar
verstummen an deinem hals
werden rot
zeigen haltung
bei der frage nach dem eintritt des landes in den krieg
tzzzh
die eroberung des wassers
war lange schon abgemacht
vor der erfindung der meere
tak tik
tak
...... tik

schhh schhh schhh das rauschen der zeit jacek dreht sich um und starrt auf die kommode und den schrank in der fensterscheibe spiegeln sich eidechsen das telefon klingelt drrrh drrrh drrrh jacek schaltet den fernseher ein und zippt durch die kanäle atemlos durch die nacht ... pft ... ein flugzeug ist beim landeanflug auf die afghanische hauptstadt über dem hindukusch zerschellt ... pft ... seit wann wissen sie dass ihr sohn männer liebt ... pft ... ist die poesie des meeres der wellen und kormorane über der bucht ... pft ... nur noch drei tage sensationelle preisvorteile ... pft ... in der schublade liegt noch immer die hülle einer schlange die sich vor jahren dort gehäutet hat mutters schrei hallte durchs ganze haus die nachbarn liefen herbei als wäre gerade das jüngste gericht in vollem gange

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 16.10.2016, 01:15

Schöne Lautmalerei.

Last

Beitragvon Last » 17.10.2016, 15:40

Hallo Werner,

ich frage mich bei solchen Texten (und das ist nicht als Kritik an diesem Gedicht gemeint, sondern einfach als Frage, auf die ich nicht unbedingt eine Antwort weiß):

Ist es bei solchen Themen angemessen, fast ausschließlich in Bildern zu sprechen und deren Konkretisierung dem Leser zu überlassen? Darf man sich da als Autor noch in eine eher beschreibende Position zurückziehen, seine Bedenken lediglich implizit in den Bildern mitschwingen lassen? Oder sollte man eher direkte Aussagen treffen (was ja noch lange nicht bedeutet, dass der Text dadurch die Tiefe oder der Leser seinen Interpretationsspielraum verlieren würde - Beispiel Brecht)?

Niko

Beitragvon Niko » 17.10.2016, 17:45

Sehr interessante Frage, last! Ich finde grundsätzlich Werners Richtung gut. Jedoch sollte man immer auch bedenken, inwieweit der Leser das umsetzen kann. Der interpretatorisch Spielraum sollte weit genug und eng genug sein. Er muss Bewegung zulassen, sollte aber insofern abgrenzen, als dass man nicht zu weit von dem, was man sagen möchte, abdriften kann...

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Werner
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Beitragvon Werner » 17.10.2016, 20:42

ja, eine interessante frage. aber, ich schreibe literatur, keine propaganda oder bin kein journalist oder historiker oder gar politiker, der kommentiert oder bewertet.

hier war es so, ich schrieb erst den text, ziemlich in einem rutsch, und wusste aber, kaum dass er fertig war, dass er nur diesen einen titel haben kann. mit einem anderen titel, der auch möglich ist, würde der text in eine ganz andere richtung "laufen"?

natürlich gibt es genug historische und gegenwärtige beispiele für "faschismus". ich wollte aber dem titelbegriff ein aussehen, eine intention, eine "spielart" (blödes wort in diesem zusammenhang) geben bzw. demaskieren. was löst der begriff aus, was das politische system, im einzelnen, in einer gruppe, in einer gesellschaft? vielleicht findet sich in dem text etwas davon wieder? ich weiß es nicht. ob es gelungen ist, kann ich ebenfalls nicht sagen?

hier zitiere ich gerne Wolf Biermann: "Du lass Dich nicht verhärten, in dieser harten Zeit ..." irgendsoetwas in die richtung vielleicht noch am ehesten.

aber, wie gesagt, eine interessante frage. was vermag kunst, literatur? ich bin der meinung, kunst, literatur verändert nicht die verhältnisse, aber vielleicht manchmal das bewußtsein darüber?!

Last

Beitragvon Last » 19.10.2016, 16:44

Hallo Werner,

ich mag diesen Text sehr. Ich lese ihn gerne wieder. Ich finde darin wieder etwas neues.

Aber nach wie vor ist für mich nicht klar, ob es um das Leben im Faschismus geht oder um eine Gesellschaft, die den geeigneten Nährboden bietet, um in eine faschistische Gesellschaft überzugehen. Vielleicht geht es auch nur um die mediale Auseinandersetzung mit einem zeitlich oder räumlich entfernten Faschismus. Das empfinde ich nicht als literarische Schwäche des Texts. Der Begriff Faschismus reicht aus, um ein Spannungsfeld zu erzeugen, in dem sich der Text hin und her bewegt. Nur kann ich als Leser so nicht zu einem schließenden Urteil gelangen, jedenfalls nicht aus dem Text heraus.

Die Gedichte, an die ich auch Jahre später noch zurückdenke, die meine Weltanschauung prägen, verknüpfe ich für mich aber mit sehr konkreten Aussagen. Vielleicht stützt das die Erinnerbarkeit.

Ich bin mir unsicher, ob ich an literarische Texte grundsätzlich die Erwartung stellen kann, dass sie mein Leben verändern. Ich versuche gerne jeden Text so zu lesen, als würde er alle Verhältnisse umstürzen. Das muss ich sicher nicht tun und das gelingt mir sicher nur selten. Aber wenn ich das nicht täte, wäre das Lesen dann mehr als ein Zeitvertreib?

Natürlich ist das Lesen ein legitimer Zeitvertreib. Dann gilt aber auch: außer Lesen nichts gewesen.

Zurück zum Faschismus. Darf Faschismus Zeitvertreib sein?

Hier im Gedicht ist das ja nicht so. Das möchte mehr sein als Zeitvertreib und ist es auch. Ich halte für mich immer noch die Stimmung fest, die im Spannungsfeld greifbar ist.

Werner hat geschrieben:ich bin der meinung, kunst, literatur verändert nicht die verhältnisse, aber vielleicht manchmal das bewußtsein darüber?!


Hast Du schon einmal einer Frau ein Liebesgedicht vorgetragen? Vielleicht sogar eins, dass Du selbst für sie geschrieben hast?

Existieren Verhältnisse überhaupt außerhalb des Bewusstseins darüber?

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Werner
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Beitragvon Werner » 19.10.2016, 19:05

mir geht es meist darum, wie fühlt sich eine sache an, will sagen, löst das gedicht im leser eine ähnliche stimmung, ein ähnliches gefühl aus, wie ich es beim schreiben hatte, oder wie der inhalt des gedichts in sich trägt bzw. das thema des gedichtes ist? insofern kann literatur gar nichts verändern, nur reflektieren, auf einer rationalen bis emotionalen, oft auch unbewussten ebene?! aber das bewusstsein über eine sache ein thema kann die literatur ein bisschen verändern, es zur sprache bringen und damit aufzeigen.

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nera
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Beitragvon nera » 21.10.2016, 04:12

auf die frage von last: ja, darf man. was den text angeht. man sollte nicht vage sein, wenn es um die erklärung oder interpretation geht, meiner meinung nach. aber der text, oder die lyrik muss nicht alles erklären, sondern fragen stellen, emotionen darstellen oder auch erzeugen, wie musik. bilder sind ein mittel, wie auch töne ein mittel sind, zu vermitteln. oder rhytmen. literatur kann sehr viel verändern, wie musik verändern kann oder bilder verändern können, weil sie an seiten in uns appelieren, die manchmal oder oft jenseits der genormten ratio funktionieren. wir werden doch sentimental, wenn wir einen geruch aus der kindheit riechen, selbst wenn wir uns gar nicht mehr an den ursprung des geruchs erinnern.
ja, ich mag diesen text sehr. er eiert nicht rum in seinem rumgeiere. er konzentriert sich. und gsd eiert der autor hinterher nicht rum (mag sein, du bist wieder beleidigt, werner, aber ich meine es so, wie ich es sage und meine damit vorallem, dass du es nicht nötig hast, vage zu sein, egal in welche richtung, auch nicht in deinen erklärungen zu deinen texten; die mag ich) und nein, ich finde nicht, das der autor sich im vorfeld gedanken über den rezeptienten machte sollte, das käme einem messer im kopf gleich.

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Werner
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Beitragvon Werner » 25.10.2016, 21:02

ich war noch nie beleidigt, um das mal zu klären. dann hast du meine eine oder andere reaktion im forum falsch verstanden. aber egal. dein kommentar trifft es gut. was vermag literatur, was nicht?

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Werner
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Beitragvon Werner » 25.10.2016, 21:03

ach, und danke für den zuspruch.

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nera
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Beitragvon nera » 26.10.2016, 00:38

dabei belassen wir es vorerst mal. und verwechsele zuspruch nicht. ( und irgendwie spamst du ganz schön rum, das macht mich wuschig?)

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 30.10.2016, 14:28

faschismus schmiegt sich an dein ohr

Das klingt in meinen Ohren so absurd und geschönt, wohlig, bejahend, romantisiert, dass der Rest des Textes keine Chance mehr hat, bei mir anzukommen, oder das wieder zu wenden. Wenn das nicht so gedacht war, würde ich überlegen, die erste Zeile umzustellen.

an dein ohr schmiegt sich
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

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Werner
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Beitragvon Werner » 30.10.2016, 16:37

da hast du natürlich recht. ursprünglich fing das gedicht auch an: an dein ohr ... das wurde beim lektorieren dem rhythmus geopfert. aber der titel geht nicht in den ersten vers über, sollen völlig getrennt sein, aber, du hast recht, das ist ein problem. aber, es geht dann schnell unmissverständlich weiter, die stimme die verschwindet, gesänge gespuckt, kriegseintritt usw. mir kam es hier eher auf das subtil unterschwellige von gewalt ein, deren vorläufer bzw. anfang man gar nicht erst oder kaum bemerkt, wie sie sich einschleicht in die welt, das leben usw., harmlos tut, mit kreide im hals daherkommt, im schafspelz, verstellt, beschönigt usw., wie es ja oft in der politischen wirklichkeit war, mit schönen versprechen auf ein besseres system. gerade läuft ja wieder die Heidegger-Diskussion, der faschismus hat / hatte auch viele anhänger, zuspruch bei weiten teilen der bevölkerung, ein schuldiger für das eigene unvermögen wird gesucht und schnell gefunden, überhaupt für mich immer noch ein rätsel, wie bei einem angeblichen volk der dichter und denker ein barbarisches massenmördersystem eines verrückten über jahre, unter den augen der weltöffentlichkeit, so lange "erfolg" haben konnte ... gut, die einen nehmen den anderen etwas weg, bereichern sich, verteilen den raub unter der eigenen anhängerschaft, bringen die abgestempelten um usw., das funktioniert(e) ... früher waren es die juden, heute sind es die flüchtlinge, irgendwer anderes hat immer schuld. aber, ein dichter kann in einem gedicht keine politische historische analyse des faschismus liefern, das vermag kein gedicht. hier geht es mir, wie gesagt, um die emotionale, subtil-unterschwellige, verborgene seite eines politischen gewaltsystems. ob es gelungen ist? kann es überhaupt gelingen? danke sehr für die kritische einschätzung.


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