(Existenzen)

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Peter

Beitragvon Peter » 30.06.2017, 19:53

Sein Gedanke, dass die, die sich hereinschleichen und den Raum mit Geruch anfüllen, vielleicht die einzigen sind, die in diesem Pseudo-Leben noch Wirklichkeit besitzen. Zu den Figuren gehört ein alter Mann, der einen Rucksack trägt und sichtlich das Gehen, wenn auch mit Mühe, gewohnt ist. Er hat einen besonderen Gang, als würde sein Schritt, kurz bevor sich die Bewegung rundet, abgehackt, so er nach vorne sackt, und in Voraussicht dessen presst er im Rücken die Arme zusammen, macht den einen Arm quer und hält ihn mit der anderen Hand fest. Andere sind triste Figuren, wie von einem Meer angespült, und ihr Geruch hat etwas Nächtliches, als trügen sie immer ihre Nacht um sich, die sie nicht mehr verlässt.

Sie werden angetrieben oder angelockt von dem Schild, das aufgestellt ist, das Kaffee, Kuchen und freien Eintritt verspricht. Zwischen den gewollten Sonntagsgästen des Pseudolebens fallen sie hindurch, schlüpfen herein, mengen sich unter die Besucher, und man würde sie vielleicht gar nicht bemerken, wären da nicht diese Bäume aus Geruch, diese furchtbaren Schatten, die nach allen Seiten ihre Arme strecken und das nichtige Gespräch wie mit Todesahnung durchbrechen. Man will sie nicht, sie stören die Nase, sie stören noch mehr den leichten Geist, sie stören meinen Kollegen, der die Sonntagsbrötchen schmiert, die so grausam in den fast zahnlosen Mündern verschwinden.

In unsre Inszenierung mischt sich der Abgrund hinein, der ein paar der Gäste vertreibt. Gerne kommen sie an einem anderen Tag wieder, sagen sie, und gehen eilig in den Regen hinaus, wo sie Schirme aufspannen und mit großen Schritten über die Pfützen gehen. Sie sind flüchtig, sie verlieren sich in der Straße, zur anderen Seite kommen schon neue nach, die sich bunt am Eingang drängen. Aber die Existenzen bleiben, einer bleibt wie angewurzelt an einem Tisch stehen, er ist in zwei Stunden noch da, er hat graue Turnschuhe an, die weiß gewesen waren, und sie haben etwas von Kerzenwachs, das auf den Boden lief.

Die Existenzen bleiben, so auch der alte Mann, der sich an das Kopfende des Tisches gesetzt hat, ein Brötchen zermalmt und währenddessen entweder stöhnt oder Selbstgespräche führt. Und sie kennen ihn, der, der da bedient, der das Pseudoleben mitspielt, der mit seinen Kollegen die Wort-Bonbons lutscht ihres süßen oberflächlichen Lebens, denn sie schauen nach ihm, sie erwarten ihn, er hat ein Haus für sie bereit, so kommt es ihm doch vor.

In der Nacht träumt er von ihnen, und es macht ihn so ruhelos. Sie stapeln sich in seinem Geist, als wäre er die letzte aller Wellen, die alles, was sich woanders noch leichthin spielt, tragen muss.

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 01.07.2017, 10:03

Hallo Peter,

schön von dir zu lesen! Ich war gespannt, was sich unter den Existenzen auftun wird.

Der Text wirft mich allerdings schon beinahe im ersten Satz durch das "Pseudo" in eine kritische Distanz. Diese Benennung wirkt auf mich, als würde ich es als Leser sonst nicht begreifen, als müsste mir das gesagt werden, als bräuchte der Text diese Krücke. Ich habe natürlich trotzdem weitergelesen, bis ich dann an diesem Punkt wieder eine kalte Welle, oder die Krücke über den Kopf bekam. .-)
Und sie kennen ihn, der, der da bedient, der das Pseudoleben mitspielt, der mit seinen Kollegen die Wort-Bonbons lutscht ihres süßen oberflächlichen Lebens, denn sie schauen nach ihm, sie erwarten ihn, er hat ein Haus für sie bereit, so kommt es ihm doch vor.
Das zerstört für mich dann das Gebilde des Textes. Das ist so laut und wertend, plakativ, dass ich das andere nicht mehr hören und sehen kann. Und das wäre doch für sich stehend stark genug, es würde doch sehen lassen, zeigen und mitnehmen, auch durch die schwankende Perspektive?
Und sie kennen ihn, der, der da bedient, der das Leben mitspielt, der mit seinen Kollegen die Worte lutscht wie Bonbons, denn sie schauen nach ihm, sie erwarten ihn, er hat ein Haus für sie bereit, so kommt es ihm doch vor.

Liebe Grüße
Ylvi
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

Peter

Beitragvon Peter » 01.07.2017, 17:33

Hallo Ylvi,

danke für deinen Leseeindruck!

Persönliche merke ich nichts Lautes oder Wertendes in dem von dir zitierten Absatz. Natürlich spielt in dem Text eine Perspektive oder ein Betrachtungswinkel eine Rolle, der bestimmt auch etwas von einem dunklen Blick hat :-), aber für mich bleibt der Text trotzdem lebendig. Die zu Beginn gesetzte Abwertung, unvermittelt von einem Pseudoleben zu sprechen, halte ich als Voraussetzung für die Entdeckung der "Existenzen" notwendig.

Liebe Grüße
Peter

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 01.07.2017, 19:10

Ich assoziiere normalerweise dunkel, weich und leise und auf der anderen Seite grell, hart und laut, insofern verliert der Text gerade an diesen Stellen für mich seinen dunklen Blick. :cool:
Und ist dir für die Entdeckung der Hinweis auf die Wirklichkeit, bzw. ihr Fehlen nicht Kern genug?
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Lisa
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Beitragvon Lisa » 13.08.2017, 22:05

Lieber Peter,

die "Existenzen" (ich mag, wie dieses Wort in diesem Text fast ein bisschen außerirdisch klingt) geistern in diesem Text als die Lebendigen unter den Geistern herum, haben sich - mit ihrem Verfall - noch ein Stück bewahren können und stören den Frieden der Sonntagsbrötchenschmierer.

Unter ihnen der Erzähler, der sich in dem Café den Obdachlosen näher fühlt als seinem Kollegen sowie allen anderen ordentlichen Gästen. Ich erlebe seine Beobachtungen, die bis in die Träume des Bedienenden hineinreichen, als eine Umkehrung, die sichtbar machen soll, wie unwohl er sich fühlt - die Bedrängung der Existenzen, die nicht gehen, sich stapeln, scheint mir nicht unähnlich zu der Bedrängung, die der Erzähler von der Pseudowelt erfährt und die ihn quält, aber anscheinend nicht aussprechen kann (ist mit einem Kollegen da) bzw. vielleicht ist er, bis auf diese Beobachtungen gar nicht von den anderen Gästen verschieden zu nennen.

Ich finde mich wieder in dem Gefühl, das der Erzähler mit seinen Beschreibungen erzeugt. Häufig denke ich, wozu habe ich eigentlich diesen ~Zug Richtung Verfall, nicht nur, aber häufig soll man sich eben entscheiden, sein Leben zu gestalten oder eben darnieder zu liegen -- davon unabhängige, dritte Bewegungen sind sehr selten, weil die Orte dazu selten sind. Das spielerisch anzugehen auf eine Nichtzombieart, was es gibt, habe ich nie gelernt, dieses Caféleben aber, da mitzumachen und all das -- ist das die bessere Alternative als verfallen zu lassen? Wenn man die Frage dann wieder umdreht, hat man verstanden, warum sich der Bedienende so fürchtet.

Liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Peter

Beitragvon Peter » 10.10.2017, 02:18

Liebe Lisa,

entschuldige bitte, dass ich heute erst schreibe (ich bin nicht schlaflos genug :-)).

Danke für deine Wahrnehmung des Textes! Ich glaube, das trifft es sehr gut, dass hier alles geistert und im Geistern sogar astrale Dimensionen annimmt :-) weil es, auch für mich selbst an dem Text, um Verortetheit geht. Den einen scheint das Leben zu gehören, die anderen tragen es als Last, sie werden es nicht los, es verwurzelt sie, die einen spielen es.

Der Protagonist, eigentlich im Einen, gehört vielleicht dem Anderen an, aber in Wahrheit ist er wohl weder dort noch hier, und vielleicht begreift er, dass es so einfach mit dem Leben gar nicht ist: man kann es nicht ausradieren, weder im verspielten Sinn noch in einem harten, das Leben stark angehenden Sinn: Es bleibt da und es will etwas, das weiter reicht.

In dieser ausstehenden Dimension, die sich in diesem Nachtstück nur durch den Traum ankündigt, haben die Existenzen zumindest die Kraft der Andeutung, und das lässt den Prot. wohl nicht los.

Den Widerspruch, das Leben zu gestalten oder es sein zu lassen (im besten Sinn), kenne ich auch für mich sehr gut.

Liebe Grüße
Peter


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