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Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
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Amanita
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Beitragvon Amanita » 29.11.2017, 23:19

eine handvoll abschied:
die letzte.
du liefst stadteinwärts,
ich zum bahnhof.
wir würden uns doch
bald wieder treffen –
einen kaffee trinken
wie immer.

eine handvoll abschied:
die allerletzte –
vor diesem museumscafé.
hätten wirs geahnt,
was hätten wir anders gemacht?

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birke
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Beitragvon birke » 30.11.2017, 09:11

das ist die frage, die wohl immer (offen) bleibt …
ein feines gedicht, gerade durch seine scheinbare nüchternheit sehr berührend.
die "handvoll abschied" macht das gedicht haptisch ... den abschied greifbar.

wäre es meins, würde ich darüber nachdenken, die erste strophe noch ein wenig zu reduzieren:

(…)
ich zum bahnhof.
bis bald, auf einen kaffee,
wie immer.

und ich würde die frage eventuell anders stellen: „hätten wir etwas anders gemacht“?
nicht nur das „was“ (hätten wir anders gemacht), sondern auch: hätten wir überhaupt etwas anders gemacht. so oder so eine rhetorische frage …
und so oder so: mir gefällts sehr.
tu etwas mond an das, was du schreibst. (jules renard)

https://versspruenge.wordpress.com/

Niko

Beitragvon Niko » 30.11.2017, 15:47

Ein Text, amanita, der mich bewegt.
Ein Treffen mit dem, einem Kind. Abschied, ein Hauch Verzweiflung und Unsicherheit, Angst.
Ich finde den Text sehr intensiv, auch wenn er sich mir nicht in gänze schlüssig auftut.....

Herzlichst - Niko

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 30.11.2017, 17:14

Vielen Dank, Ihr Zwei.

Birke, ich schwanke ein wenig. Finde eigentlich ganz plausibel, was Du vorschlägst. Aber dann ist es mir doch zu nüchtern ... mal schauen, mit etwas Abstand (zum Text) sieht man es ja vielleicht nochmal anders.
Die Frage am Ende hatte ich erst eher so wie Du, habe es auch schon beantwortet ("wir hätten uns nicht losgelassen" oder so) und kam dann fast zwangsläufig zu meiner Version. Denn irgendwas wäre auf jeden Fall anders gewesen.

Niko, es muss jetzt kein Kind sein, das man für immer verabschiedet. Ich meine schon, dass der Text schlüssig ist. Wo stockt es bei Dir?

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 01.12.2017, 08:50

Hallo Amanita,

ich bleibe an dem Über-Superlativ "die Allerletzte" hängen. Die Letzte ist schon die Letzte, da gibt es nicht noch eine mehr.
Das ist nicht nur grammatisch dubios, sondern stilmäßig auch eher unlyrisch.

Und ich finde es auch immer etwas seltsam, wenn das Gedicht mir am Ende eine Frage stellt (die ich ob des Unbeteiligt-Seins) eh nicht beantworten kann, sondern bestenfalls der direkte Adressat). Dadurchfühle ich mich als Leser auch außen vor gestellt, weil du diese Worte offensichtlich an jemand speziellen richtest. Mein Eindruck.

Tom
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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 01.12.2017, 11:11

Hinterher war die letzte wohl doch nicht die letzte, und auf sowas hin nennt man doch meist das nächste letzte das allerletzte, mit ironischem Unterton.


Edit: Achso, das ist tatsächlich das gleiche Ereignis? Ja dann ...

... bei der Wiederholung wieder "letzte", oder synonym "endgültig"?

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 01.12.2017, 18:35

Oder vorher "vorletzte" ...
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Zefira
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Beitragvon Zefira » 01.12.2017, 20:03

Ich denke, "der letzte Abschied" ist tatsächlich mehrdeutig. Man kann sagen: "als wir uns das letzte Mal gesehen haben" und damit das zeitlich letzte Mal meinen, man wird sich also wiedersehen, es war das zeitlich letzte Mal, aber nicht das endgültig letzte Mal. Oder es war tatsächlich das endgültig letzte Mal - wie man erst hinterher weiß.
Insoweit finde ich, das "die allerletzte" hier als Gegensatz zur "letzten" hier berechtigt ist.

Grüße von Zefira
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

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Werner
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Beitragvon Werner » 01.12.2017, 22:32

ja, sehr schön

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birke
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Beitragvon birke » 01.12.2017, 22:50

für mich passt "letzte" und "allerletzte" hier sehr gut, "allerletzte" als endgültiges bewusstwerden im nachhinein ...
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Amanita
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Beitragvon Amanita » 01.12.2017, 23:17

Erstmal allen herzlichen Dank!

@ Tom: Ja, ich hatte das mit dem "allerletzten" auch kurz überlegt, habe es aber dann doch mit reingenommen. Denn wenn wir sagen "letzten Sonntag", meinen wir ja im allgemeinen nur den, der gerade hinter uns liegt. Mag sein, dass das Umgangssprachliche mitunter "unlyrisch" ist. Aber da ich ja insgesamt eine schlichte Sprache gewählt habe, finde ich das in diesem Kontext nicht schlimm.

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 01.12.2017, 23:19

Ach ja, und die Frage am Schluss ... ich denk' mal, dass viele (LeserInnen) sie – oder eine ähnliche – kennen.

Stimmt, beantworten kann sie niemand. Wahrscheinlich habe ich sie deshalb genau so formuliert.

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 01.12.2017, 23:41

eine handvoll abschied:
die letzte.

[...]

eine handvoll abschied:
die allerletzte –



Also ich meine jetzt, oben "die letzte" ist hier nicht zweideutigvermeintlich "die vorige" sondern eindeutig "die "endgültige". Und unten "die allerletzte" bezieht sich wiederholend aufs gleiche Ereignis. Da es hier nicht um Aufzählung geht (letzte, allerletzte, allerallerletzte) sondern um den selben, großen, einzigartigen Schnitt an sich, würde ich nun auch sagen, dass der Begriff "allerletzte" hier technisch nicht der passendste ist; auch stilistisch nicht, weil die unterschwellige Wort-Komik darin nicht zur übrigen Wort-Melancholie passt. Da bricht irgendwas im Bild.

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 02.12.2017, 11:40

danke, Pjotr, wie gesagt, ich hatte die Überlegungen auch, habe sie dann aber doch ad acta gelegt. Zumal es, wie ich finde, beim Lautlesen gut funktioniert. Ich bleib' dabei ... "Beim letzten Treffen waren wir im Museumscafé" heißt eben nicht unbedingt, dass es nie wieder eins gibt. Es kann auch heißen: "Beim nächsten Mal gehen wir in den Zoo".


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