Ein Meer aus Köpfen bewegt sich auf und ab. Jeder denkt für sich, ein zwei Schritt weit. Ein Kopf mit schwarzen, fettigen Haaren vor mir. Diesem fehlt die zielgerichtete Gleichförmigkeit der anderen, er wankt, ist langsamer. Gerade als ich vorbeigehen will, sinkt er in die Welle. Wäre ich ein kleines Stück weiter vorn gewesen, hätte ihn halten können. Eben noch unsichtbarer Teil des Stromes und im Bruchteil einer Sekunde ausgegrenzt wie ein verspritzter Tropfen, der abperlt und erst dadurch Kontur bekommt.
Sie liegt der Länge nach auf dem Boden der Bahnsteigunterführung des Mannheimer Hauptbahnhofs. Nun erkenne ich, dass sie schon vorher ausgegrenzt war. Obwohl sie vollkommen schwarz gekleidet ist, erkennt man speckige Schmutzränder. Hose und T-Shirt sind zerlöchert. Einige Leute gehen einfach weiter. Time is Money. Ein gestürztes Rind hält die flüchtende Herde nicht auf. Sie zittert und ist so blass wie die weißen Glanzkacheln an der Wand. Zwei drei bleiben mit mir stehen. Sie versuchen wie ich, die Lage einzuschätzen. Ich gehe in die Hocke und spreche sie an:
"Was ist mit Ihnen ?"
Sie reagiert nicht. Verdammt, meine Führerscheinprüfung liegt fast zwanzig Jahre zurück und seither bin ich nicht mehr mit Erster Hilfe konfrontiert worden. Wo bleibt denn nur der Arztheld aus den Filmen, der solch eine Lage immer sofort souverän meistert ? Ich sehe zu den anderen auf und höre von einem mit Nadelstreifenanzug:
"Die hat sich den Goldenen Schuss gesetzt, man sollte die Polizei holen"
Ein anderer erwidert ihm:
"Der soll die bloß nicht anfassen, da kann man sich ja sonstwas holen, vielleicht hat sie Aids"
Ich drehe mich wieder der Frau zu. Sie versucht sich aufzusetzen. Demonstrativ greife ich nach einem ihrer dünnen Arme und helfe ihr dabei. Sie sitzt nun mit dem Rücken an die Kachelwand gelehnt. Als ich wieder zu den anderen aufblicke, sind sie verschwunden. In einer Viertelstunde müsste ich auch in der Firma sein, der Projektleiter aus Wetzlar kommt. Wichtige Besprechung. Wenn ich mich beeile, bekomme ich den Bus noch. Sie starrt mit zitternden Lippen auf den Boden. Ich hadere mit mir. Ach Scheiße, denke ich, setzte mich neben sie in den Dreck, fingere mir eine Zigarette aus der Schachtel und zünde sie an. Manche Zigaretten schmecken besonders, meistens wenn man zuvor einige Zeit nicht rauchen durfte oder auch nach Prüfungen. Ich ziehe genüsslich, diese schmeckt besonders.
"Haste auch ne Kippe für mich?"
"Du solltest nicht rauchen"
"Warum nicht?"
"Warum nicht? Na du kannst Fragen stellen. Weil hier rauchfreie Zone ist!" , sage ich grinsend. Ich scheine mich gefangen zu haben. Mir ist wieder jede Ernsthaftigkeit fremd. Sie ist wohl noch nicht soweit zu lachen, oder wenigstens zu lächeln. Ich reiche ihr eine Zigarette, die sie mit ihren langen, schlanken Fingern entgegennimmt und zünde sie an. Die Finger einer Klavierspielerin, denke ich. Irgendwann wird sie falsch abgebogen sein oder ist chancenlos in die falsche Richtung geschubst worden.
Wenn ein Kollege vorbeikommt und mich sieht, bin ich erledigt, und wenn ich dann noch das Meeting verpasse, bin ich doppelt erledigt.
"Was war das eben ?", frage ich.
"Was geht dich das an, du Spießerarschloch? Kommst dir wohl toll vor?"
Wir rauchen ohne ein weiteres Wort zu Ende.
Aus den Augenwinkeln versuche ich ihr Alter abzuschätzen, vielleicht ein paar Jahre jünger als ich, Ende zwanzig, aber das ist schwer zu sagen, weil sie sehr verlebt wirkt. Ihre weiße Haut ist an vielen Stellen wund und eitrig. Jetzt steigt mir auch -trotz des Zigarettenrauchs- ihr Geruch in die Nase, ein Gemisch aus Schweiß und Urin. Ich frage mich, warum ich nicht einfach gehe. Will ich exemplarisch mein schlechtes Gewissen rein waschen? Will ich mich freikaufen von dem unterschwelligen Schuldgefühl, dass ich meine alten Ideale über Bord geworfen habe? Alle Menschen sind gleich.
"Wie wär's mit einem anständigen Frühstück?"
"Wenn du mich ficken willst, dann sag das besser gleich. "
Mit dieser Antwort wird mir klar, wie lange sie wohl schon so lebt. Vermutlich kennt sie Männer wie mich nur noch mit solchen Absichten. Mir wird übel bei dem Gedanken mit ihr ...
"Ich ficke nicht beim Frühstück", antworte ich und ziehe sie auf die Beine. Ihr ausgemergelter Körper erinnert mich unweigerlich an Christiane F..
Sie wankt die ersten Schritte. Der Wirt rümpft die Nase angesichts meiner Begleitung, sagt aber nichts. Wir können durchs Fenster auf Gleis 1 sehen. Quietschend bremst ein ICE. Toughe Frauen mit Rollkoffer und Hosenanzug steigen ein und aus.
"Wie ist das alles gekommen?", will ich wissen.
Sie verdreht die Augen, sagt nichts.
"Haste noch ne Fluppe?"
Ich schenke ihr meine ganze Schachtel und lege noch 50 Euro dazu.
"Bestell dir, was du willst. Und wenn du heute Nacht ein Dach über dem Kopf haben willst - nein, ich will nicht ficken- dann sei um 18:37 Uhr am Gleis neuneinhalb ä neun", sage ich, aber an ihr sind die Harry Potter Bände sicher ungelesen vorübergegangen. Trotzdem glaube ich die Spur eines Lächelns wahrzunehmen. Auch der Blick aus ihren Augen scheint einen Moment beteiligter, so als würde sich ein verwuchertes Gartentor einen Spalt weit öffnen und prachtvolles Grün zeigen.
Ich haste zur Arbeit und betrete gleichzeitig mit dem Wetzlarer Kollegen die Firma. Er stand im Stau.
Den ganzen Tag sind meine Gedanken bei ihr. Warum ist es so gekommen? Könnte man sie retten? Wenn ja, wie?
Dann sehe ich mich in der kitschigen Rolle des Helden, der am Flügel steht, während ihre langen, manikürten Finger über die Tasten streichen, und sie mich aus ihrem schmalen Gesicht anlächelt.
Aufgeregt erreiche ich das Gleis, aber sie ist nicht da. Ich sehe sie nie wieder.
Ich ficke nicht beim Frühstück
Huhu Thom.
Freud Freud du ! *g .... also, ich ... ä ne ...
Super Hinweis! Ja! Das ist mir bei Stain' alive auch passiert und prompt anderenorts um die Ohren gehauen wurden (natürlich zu recht! ... )
Vielen Dank für deinen ungeschminkt guten Komm !
LG
Nifl
F...st du am Ende doch manchmal beim Frühstück? Schwang nicht doch so etwas mit?
Freud Freud du ! *g .... also, ich ... ä ne ...
Ich würde jedoch versuchen, die Eigenbeschreibungen (mir ist wieder jede Ernsthaftigkeit fremd...) zu reduzieren und dies mehr durch (komische) Situationsbeschreibung oder Dialoge herauszuarbeiten.
Super Hinweis! Ja! Das ist mir bei Stain' alive auch passiert und prompt anderenorts um die Ohren gehauen wurden (natürlich zu recht! ... )
Vielen Dank für deinen ungeschminkt guten Komm !
LG
Nifl
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)
- Thomas Milser
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Och weißt du, Nifl, morgens bin ich immer so richtig schön muffelig, beste Zeit für Rezensionen also... huargh!!!
Schön, wenn ich helfen konte...
Is da eigentlich ein Film drin? Du weißt, keine Fotos bite :o))))
Tom.
Schön, wenn ich helfen konte...
Is da eigentlich ein Film drin? Du weißt, keine Fotos bite :o))))
Tom.
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