Aphorismen von Jules Renard und de La Rochefoucauld, kommentiert

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Quoth
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Beitragvon Quoth » 07.04.2016, 17:25

Jules Renard hat geschrieben:Um zu arbeiten, warte ich, bis mein Thema an mir arbeitet. (1900)

Oft verschwende ich Stunden damit, einen Text erzwingen zu wollen, der mir trotz aller Anstrengung nicht gelingt. Dann aber fließt er mir plötzlich wie von alleine zu. Dabei kann es zu inhaltlichen Verschiebungen kommen, die ich in der Phase des absichtlichen Schreibens nie vorgenommen hätte, auf die ich auch gar nicht gekommen wäre. Mit dem Begriff "Inspiration" kann ich nicht viel anfangen. Aber Renards Formel leuchtet mir unmittelbar ein: Das Thema muss anfangen, an mir zu arbeiten. Diese Verselbständigung dessen, was man gestalten will, ist vielleicht das Schönste an der ganzen Schreiberei.



Zitiert nach Jules Renard: Das Leben wird überschätzt. Aus den Tagebüchern ausgewählt und übersetzt von Henning Ritter. Matthes & Seitz, Berlin 2015 und nach Jules Renard: Ideen in Tinte getaucht, Tagebuchaufzeichnungen, übersetzt und ausgewählt von Hanns Grössel, Winkler, München 1986
Zuletzt geändert von Quoth am 11.06.2019, 17:10, insgesamt 2-mal geändert.
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Beitragvon Pjotr » 14.06.2019, 13:10

Ja, Birke, im alltäglichen Sprachgebrauch hört man von Neid öfter im Zusammenhang mit Sachbeziehungen als mit Paarbeziehungen, wo es wiederum eher Eifersucht heißt. Aber letztendlich sehe ich beides in der selben Kategorie, wie oben beschrieben. Zumal Neid und Ding nicht dasselbe sind; Neid ist ein Gefühl, ein Effekt, und das Ding ist dessen Ursache. So, wie der vermisste Partner nicht das Gefühl selbst ist, sondern dessen Ursache. Am Ende der Kette ist in beiden Fällen das Gefühl. Zudem wird aus dem Menschen, dessentwegen Eifersucht entsteht, gleichermaßen ein Besitzgegenstand, ein Ding; der Mensch wird zum Ding, das Gefühle bewirkt. Und da schließt sich die Kategorie, meine ich. Ich stimme Dir zu, dass man durch sprachliche Nuancen ein Bild mehr in die Richtung des Dingneids rücken kann oder mehr in jene der Paareifersucht. Aber was ich sagen wollte, ist, dass beide Nuancen dem allgemeinen Prinzip der Missgunst folgen, und der Verlustangst usw. Der Mechanismus ist derselbe. Nur die Farbtöne variieren.

Die Intensität des jeweiligen Gefühls muss nicht davon abhängen, ob es um ein Ding ("Neid") oder um einen Menschen ("Eifersucht") geht. Wenn der gegenwärtige Chef der USA sein größtes Hochhaus an einen Konkurrenten verliert, ist sein Verlustgefühl bestimmt intensiver als wenn er seine Frau an einen Konkurrenten verliert.
Zuletzt geändert von Pjotr am 14.06.2019, 13:39, insgesamt 2-mal geändert.

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Beitragvon birke » 14.06.2019, 13:36

ja, kann dir folgen, pjotr, und sicher greift auch eins ins andere bzw. überschneidet sich zuweilen... und dennoch differenziere ich ganz klar zwischen beiden begriffen.
mir kommt da zb die eifersucht zwischen geschwistern in den sinn - einem kind kannst du schlecht sagen: ach, lass doch los, ach, ist doch egal, sei mal nicht so - das kann es nämlich gar nicht. diese angst von den eltern weniger geliebt zu werden als seine schwester/ sein bruder, dieses gefühl der eifersucht, ja, auch der verlustangst, hat hier m. e. wenig mit neid zu tun (auch das gibt es unter geschwistern allerdings).
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Beitragvon Pjotr » 14.06.2019, 13:50

Ich stimme Dir da vollkommen zu. Der eigentliche Punkt, auf den ich hinaus will, ist meine Feststellung, dass Neid nichts anderes ist als Verlustangst. Man sagt das Wort "Neid" oft nur so hin, ohne auf dessen Grund zu gehen. Ich gehe jetzt so weit und sage, es gibt überhaupt gar nicht so etwas wie Neid. Der Begriff bedeutet für mich nichts anderes als pure Verlustangst. Verlustangst, das gibt es. Ihre Stärke und Richtung ist variabel. -- Und Eifersucht ist eben auch Verlustangst.

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Beitragvon birke » 14.06.2019, 14:15

aber: ist neid nicht eher die gier, etwas zu besitzen, was man nicht hat? (aber ein anderer schon.) das wäre nicht die angst etwas zu verlieren, sondern eher der begehr, etwas zu erlangen?
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Beitragvon Quoth » 14.06.2019, 20:16

Neid ist auch das Leiden darunter, dass andere nicht nur etwas haben, sondern sich leisten können, was man selber nicht hat und sich nicht leisten kann.
Freue mich, Birke, dass Du Dich gemeldet hast. Das mit dem verminderten oder nicht vorhandenen Selbstwertgefühl ist interessant, aber selbst dort gibt es noch die Variante des eitlen Melancholikers, der von allen bedauert werden möchte. Aber ich weiß, dass Depression furchtbar ist.
Hier habe ich eine Maxime, in der Eifersucht und Neid nebeneinander gebraucht werden:

de La Rochefoucauld hat geschrieben:Kokette Frauen geben vor, auf ihre Liebhaber eifersüchtig zu sein, um nicht zu erkennen zu geben, dass sie auf andere Frauen neidisch sind. Maxime 406
Les coquettes se font honneur d'etre jalouses de leurs amants, pour cacher qu'elles sont envieuses des autres femmes.

Mit den anderen Frauen sind für mein Gefühl diejenigen gemeint, die ihre Liebhaber vermeintlich oder wirklich außerdem beglücken.
Kokette Frauen - damals (zur Zeit des roi soleil) sicherlich Gunstgewerblerinnen im wörtlichsten Sinne, immer auf der Jagd nach vermögenden Adligen, die sie aushielten.
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Beitragvon birke » 15.06.2019, 11:04

Quoth hat geschrieben:. Das mit dem verminderten oder nicht vorhandenen Selbstwertgefühl ist interessant, aber selbst dort gibt es noch die Variante des eitlen Melancholikers, der von allen bedauert werden möchte.

oh ja, das stimmt, diese variante gibt es auch, da reagiere ich inzwischen "allergisch" drauf... aber ja, es gibt eben auch die, die tatsächlich an zu geringem selbstwertgefühl leiden (diejenigen tragen das aber auch nicht so nach außen wie erstgenannte variante).

de La Rochefoucauld hat geschrieben:Kokette Frauen geben vor, auf ihre Liebhaber eifersüchtig zu sein, um nicht zu erkennen zu geben, dass sie auf andere Frauen neidisch sind. Maxime 406


das muss man wohl im zeitgeschichtlichen kontext sehen... stutzig macht mich nur, dass solch eine aussage von einem mann stammt. wie kann er es wissen? ;)
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Beitragvon Klara » 15.06.2019, 11:49

Zur Eifersucht ohne Liebesgrund: Sie hat wohl eher mit gekränkter Eitelkeit zu tun (für alle Beteiligten sehr unangenehm!) und mit Macht(verlustangst) und mit der kruden Vorstellung, dass einem/einer ein anderer/eine andere gehöre.
Auf solche Ideen muss man erstmal kommen...

Und damit, wahrscheinlich, dass man einer anderen, einem anderen nicht gönnt, den Menschen zu berühren und zu lieben, von dem man selbst nicht mehr geliebt wird, selbst, wenn man ihn gar nicht mehr liebt.

Quoth
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Beitragvon Quoth » 15.06.2019, 19:08

Hallo Birke, Du hast geschrieben:
das muss man wohl im zeitgeschichtlichen kontext sehen... stutzig macht mich nur, dass solch eine aussage von einem mann stammt. wie kann er es wissen? ;)

Können nicht auch Männer gelegentlich Zutreffendes über Frauen schreiben? Ich erinnere nur an zwei Dramen: Die Antigone von Sophokles, und "Nora oder ein Puppenheim" von Ibsen (mit diesem Stück begannen Frauenbewegung und Feminismus).

Zum zeitgeschichtlichen Kontext: Die berufliche Einschränkung von Juden und Frauen hat zur jeweiligen Entwicklung von Virtuosität in finanzieller und finanziell-erotischer Hinsicht geführt. So sehe ich es.

Hallo Klara, der extremste Fall ist Eifersucht auf einen Toten ... Gibt es! Vielleicht die absurdeste Form von Eifersucht überhaupt.
Gruß Quoth
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Beitragvon Pjotr » 15.06.2019, 20:43

... die Variante des eitlen Melancholikers, der von allen bedauert werden möchte.

Da sehe ich gerade Wolf Biermann vor mir. Der will auch immer, dass man mit ihm weint; mit ihm, dem Drachentöter, wie er sich nennt. Dem herausragenden, einsamen.

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Beitragvon Quoth » 15.06.2019, 23:06

Zum Thema Eifersucht und Neid fand ich im Netz diese de La Rochefoucauld zugeschriebene Maxime:

Die Eifersucht ist in gewisser Hinsicht gerechtfertigt und verständlich, weil sie nichts anderes will als ein Gut bewahren, das uns gehört oder von dem wir annehmen, dass es uns gehöre; wohingegen der Neid eine Wut ist, welche die Güter anderer nicht ertragen kann.


Kann ein Mensch "ein Gut" sein? Würde man das heute noch so sagen dürfen? Ich habe mich immer gescheut, von der Frau, mit der ich verheiratet bin (war), als von "meiner Frau" zu sprechen.
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Beitragvon birke » 15.06.2019, 23:41

das trifft es gut, finde ich!
der mensch: ein "gut" - ich sag mal, im wörtlichen sinne durchaus denkbar. ;) natürlich ist der mensch kein "ding" und kein mensch gehört einem anderen, höchstens zu oder an-.
aber diese definition an sich ist auch mein verständnis dieser beiden begriffe.
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Beitragvon Pjotr » 16.06.2019, 00:10

Dem Unterscheidungsmerkmal stimme ich zu: Eifersucht bezieht sich auf ein (Noch-)Haben, Neid auf ein Nichthaben. Insofern ist das Wort Neid schon hilfreich, um die Sprache zu präzisieren.

Zum Wörtchen "mein": Ich würde das Besitzverdachtsrisiko nicht übertreiben. Wenn ich von meiner Freundin erzähle, oder von meiner Geliebten, oder von meinem Feind -- wie soll ich das anders sagen?

Wenn es ein Uns gibt, dann gibt es auch ein Euch und ein Dein und ein Mein. -- Unser gemeinsames Erlebnis. Besitzen wir das Erlebnis? Nein. Und trotzdem kann man da die Wörter "uns", "mein" etc. verwenden. Es ist ein Beziehungswort. Die Beziehung kann einen Besitz meinen, muss aber nicht. Denke ich.

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Beitragvon Pjotr » 17.06.2019, 05:17

In den folgenden Sätzen wird klar, dass der "mein"-Sager sogar das Gegenteil eines Besitzers sein kann. Es kommt wohl auf das Objekt an, nicht auf das "mein"-Wort:

"Jawohl, meine Königin."

"Sehr gern, mein Herr."

"Das ist meine Partnerin."

"Da kommt mein Chef."

"Meine Frau wünscht, nach Hause zu gehen."

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Beitragvon Quoth » 18.06.2019, 09:27

Ja, Pjotr, während des 2. Weltkriegs gaben die Schweizer sich einen General, General Guisan, und wenn sie ihn ansprachen, so mit "Mon Général". Mein kann nicht nur die Überordnung des Besitzenden, sondern auch die Unterordnung des Besessenen bedeuten.

de La Rochefoucauld hat geschrieben:Es gibt keine Verstellung, die die Liebe, wo es sie gibt, lange verheimlichen, und keine, die sie vortäuschen könnte, wo es sie nicht gibt. Maxime 70


Auch hier sicherlich ein Bezug auf moralischen Rigorismus, der sich gemildert hat: Weder Verheimlichung, noch Vortäuschung von Liebe sind heute so oft zwingend gefordert wie im 17. Jahrhundert.
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