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Kurt
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Beitragvon Kurt » 17.12.2019, 11:18

Ich habe mal bei Verwandten und Bekannten nachgefragt, wie ihre kürzlich verstorbenen Angehörigen gelebt haben; ob sie im Laufe ihrer Berufstätigkeit aufgestiegen waren, und ob sie sich privat mit der Zeit immer wieder mal verbessert haben, mit Anschaffungen, wie etwa PkW‘ s oder modernes Mobiliar, Fernsehgeräte usw.
Viele hatten sich in ihrem Job nicht verändert. Aber allen war gemein: Sie hatten sich permanent neue Güter geleistet oder waren oft verreist. Und dieses Streben nach vermeintlichem oder tatsächlichem Komfort/Luxus schien mir das Wesentliche ihres Glückes ausgemacht zu haben.
"Wir befinden uns stets mitten im Weltgeschehen, tun aber gerne
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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 17.12.2019, 17:32

Ich denke, das Glücksgefühl beim Kaufen von etwas Besonderem -- ich meine hier nicht das tägliche Brot -- ist zeitlich sehr beschränkt. Das Besondere geht in den Besitz des Käufers über, und wenige Minuten später endet das Glücksgefühl auch schon wieder. Es folgt der nächste Wunsch nach etwas Besonderem. Diese Gefühlswellen sind wohl die Grundlage unserer Wirtschaft. Es gibt allerdings einen Unterschied zwischen damals und heute: Heutzutage soll man möglichst oft etwas kaufen; und weil das Geld nicht reicht, müssen die Produkte sehr billig sein. Im letzten Jahrhundert strebte die Wirtschaft zwar auch nach großer Kaufkraft, aber da kaufte man seltener, weil die Sachen teurer waren. Und das wiederum zwang die Kunden, robuste Sachen zu kaufen, was wiederum die Hersteller zwang, ihre Produkte robuster zu machen als jene der Konkurrenz.

Früher gab es weniger Menschen, und diese haben seltener das Besondere gekauft. Heute kaufen mehr Menschen sehr oft das Besondere. Der Raubbau an der Natur hat sich dadurch extrem beschleunigt. Die Attraktion eines Produkts ist jetzt nicht mehr seine Robustheit, sondern sein niedriger Preis. Die Hersteller wetteifern nun nicht mehr so stark um die beste Qualität, sondern um den niedrigsten Preis. Und kaum soll der neueste, niedrigste Stand der Preise wieder erhöht werden, beschweren sich viele Kunden. Kunden? Kaufsüchtige. Die Sucht will befriedigt werden. Also, weiter gehts. Kreuzfahrten ultrabillig. Flugreisen für fast nichts. Hemden für einen Euro. Mehr schuften. Mehr kaufen. Mehr Raubbau.

Zum Glück hat mich diese Sucht nicht befallen. Im Gegenteil. Seit längerer Zeit bin ich am Entschlacken. Mein Sachbesitz wird immer leichter. Ich kaufe nur noch lebenswichtiges. Altes Zeugs, das ich "nur" mag, aber nicht liebe, schmeiße ich raus. Das befreit. Der Lebensraum, die Wohnung, wird größer. Die Wände verschieben sich natürlich nicht nach außen. Sondern die Schlacke da drin verschwindet. Mein Bewegungsradius im selben Raum wird größer. Die Digitalisierung hilft dabei; Tonnen von Papier und CDs kann man jetzt in die digitale Hosentasche stecken und so auch vor dem Verfaulen schützen.

Und groß reisen muss ich auch nicht mehr. In den letzten 15+ Jahren habe ich maximal 2 Stunden in einem Flieger verbracht. Es reizt mich nicht mehr. Ich überlege, ob ich überhaupt meinen Reisepass verlängern soll. Ich werde zukünftig wahrscheinlich sowieso nur innerhalb Deutschlands oder maximal in der EU reisen. Es langweilt mich schon, wenn ich an all die Warterei denke in den Bahnhöfen. Ständig sitzt man irgendwo herum. Das kann ich doch auch hier haben. Ich sehe das so gemütlich wie Gerhard Polt: "Ich muss nirgendwo hin. Ich bin schon da!"

Kurt
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Beitragvon Kurt » 17.12.2019, 18:58

Ich habe schon in jungen Jahren mir den Luxus erlaubt, in einer Habengesellschaft zu SEIN. Funktionierte aber nur, weil die meisten meiner Mitmenschen HABEN wollten und alles am Laufen hielten.

LG Kurt
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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 17.12.2019, 19:07

Was meinst Du mit "Habengesellschaft"?

Kurt
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Beitragvon Kurt » 18.12.2019, 02:51

Habengesellschaft? Da denke ich an Erich Fromm.

Bei meinen Recherierten könnten auch einige Freizeitdichter dabei gewesen sein, allerdings keine/r außen Blauen Bock von uns hier. Abba das Fabulieren fand ja meistens im stillen Kämmerlein statt und hing man nicht gerne an die große Glocke. Und wenn man heutzutage mitteilt, man sei in einem Schreibforum im Internet, wird man eher bemitleidet. Und tatsächlich hat das Geschriebsel wohl mehr einen therapeutischen Effekt beim Schreiberling zum Ausgleich stupider Arbeit als einen Wert für die Gesellschaft. Gehört für mich auch mehr in den Bereich utopischer Tagträume nach dem Prinzip Hoffnung (Bloch).

LG Kurt
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