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Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
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birke
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Beitragvon birke » 02.08.2020, 18:38

.

die nächte sind schon ausgekühlt
eine pandemie
geht nicht
einfach so vorüber
katzen räkeln sich
wie immer
schwebt der mond am sommer-
himmel und zikaden singen
unermüdlich
in dieser gelockten zeit
fehlt mir
deine späte stimme
augustwarm

.
tu etwas mond an das, was du schreibst. (jules renard)

https://versspruenge.wordpress.com/

Quoth
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Beitragvon Quoth » 08.08.2020, 11:53

Dass es manches gibt, das bleibt und an das man sich auch ein bisschen klammert (sich räkelnde Katzen, singende Zikaden, Mond am Sommerhimmel) ist unbestreitbar, und dennoch, die Zeit eines Lockdown ist keine hübsch "gelockte zeit", es ist eine Zeit des Umbruchs, in der viele Firmen pleite gehen, viele arbeitslos werden oder in die Vorstufe Kurzarbeit gehen, Alte in Einsamkeit und Eltern im Home-Office bei gleichzeitiger Kinderbetreuung verzweifeln, viele an oder mit einem Virus sterben ... Hier versuchst Du, Birke, poetisch zu verharmlosen, was es verdienen würde, durchaus ernst genommen zu werden. Meint mit herzlichem Gruß Quoth
Zuletzt geändert von Quoth am 09.08.2020, 07:24, insgesamt 1-mal geändert.
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 08.08.2020, 22:20

Hallo Quoth,

ich glaube nicht, dass es birkes Anliegen war, eine allgemeine Stimmungslage "einzufangen". Ihr Blick, ihr Empfinden ist und bleibt subjektiv, ich kann nirgends erkennen, dass irgendetwas darüber hinausweist, hinausweisen soll. Natürlich ist der Radius klein, aber kann man das dem Gedicht oder der Autorin vorwerfen?
Und wo verharmlost der Text etwas?
Erstaunlicherweise sind die Perspektiven auf Pandemie und Lockdown so ganz verschieden. Laute Rufe nach mehr Strenge, mehr Maßnahmen kommen genauso vor wie Erfahrungen, insolvent oder arbeitslos geworden zu sein. Andere bedauern, liebe Menschen lange nicht sehen zu können (ähnlich wie birke). Dann wieder gibts Gewinner. Oder andere sitzen zu Hause und trauen sich vor Angst kaum raus. Nie hätte ich mit dieser Vielfalt gerechnet, vor allem auch nicht damit, dass man sich oft so verständnislos begegnet.
birke nimmt einen einzigen Aspekt aus diesem unguten Konglomerat. Aber sie verharmlost nichts, nein.
Abgesehen davon, dass ich das Wort unermüdlich in Gedichten meist nicht mag und mit augustwarm nicht viel anfangen kann, finde ich diese kleine Skizze ganz schön, weil sie auf die scheinbare Normalität weist, die aber eben doch "anders" ist, mit Leerstellen hier und dort – und natürlich der Erkenntnis, " eine pandemie/ geht nicht/ einfach so vorüber".

Obwohl ich beruflich sehr eingeschränkt bin (und das seit Februar; meine damalige Ausstellung hatte ich ausgerechnet nahe Heinsberg, danach wurde alles abgesagt, inzwischen 20 Projekte-Veranstaltungen-Workshops ...), "vergesse" ich den Mist zwischendurch auch mal. Aber dann doch wieder das Gefühl, wie birke es in ihrem Text beschreibt: nein, so einfach ist es nicht.

Nifl
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Beitragvon Nifl » 09.08.2020, 16:06

"Hübsch" gelockt hat sie ja auch nicht geschrieben, Quoth.
Ich mag den Text, weil er eben gerade nicht aufgeregt "attributisiert".
Ich finde, er zeigt schön wie die sprachliche Kongruenz sich inhaltlich trotzdem lösen kann. Dieses Gefühl wie Normalität und Ausnahme eine innere Spannung erzeugen, die lähmen kann, die eine Blase um einen herum entstehen lässt, dadurch etwas (die Stimme) vermisst wird.
Diese Spirale der Locke ist sinnbildlich für mich passend.

Viele Grüße
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)

Quoth
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Beitragvon Quoth » 09.08.2020, 16:54

Hallo Amanita, hallo Nifl, merkwürdig, die "gelockte zeit" als Anspielung auf den Lockdown empfinde ich als unvorteilhaft provozierend. Die "denglische" Version "downgelockte zeit" (analog zu downgeloaded oder outgesourced) fände ich erträglicher. Bei der späten Stimme habe ich einen verlorenen Freund oder Lover assoziiert, keinen weggesperrten alten Angehörigen (den man ja anrufen kann, auch wenn das nicht dasselbe ist). Erinnert mich an meinen meistkommentierten Text hier im Forum, in dem ich Kirschblüte und Kernschmelze zu einander in Beziehung setzte: viewtopic.php?f=2&t=11888
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Amanita
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Beitragvon Amanita » 09.08.2020, 17:04

Stimmt, das wollte ich auch schreiben und hatte es vergessen: Da steht nichts von "hübsch"!

Interessante Falle, dass gelockt allzu schnell mit hübsch assoziiert wird.

Ja, vielleicht ist es ein "verlorener" Mensch, dessen Stimme man überhaupt nie mehr hören kann. Ich finde diese Unterscheidung aber unwesentlich.

Dass birke eben nicht diesen überstrapazierten Begriff lockdown benutzt (Pandemie reicht vollkommen und ist ja eigentlich auch schon abgenutzt), finde ich angenehm, der Hinweis auf "to lock" genügt meines Erachtens.

Quoth
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Beitragvon Quoth » 09.08.2020, 21:10

Hallo Nifl, die Locke ist eben nicht nur eine Spirale, sondern so sehr ein Inbegriff von Attraktivität und gutem Aussehen, dass ein ganzer Berufszweig davon lebt, sie künstlich zu erzeugen, wenn sie nicht von Natur aus da ist. Ich erlaube mir, die "gelockte zeit" für ein beschönigendes Bild zu halten - für einen Epochenbruch, der sehr viel tiefer ist als Fukushima damals. Aber ich möchte betonen, dass ich dieses Bild keineswegs für unzulässig halte. Ich empfinde es nur als beschönigend, verharmlosend, ja, fast als satirisch.
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Amanita
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Beitragvon Amanita » 09.08.2020, 23:38

Hallo Quoth, es gibt aber auch Menschen (v. a. wohl Frauen), die sich die Haare glätten lassen oder zumindest glatt föhnen, weil sie (zumindest ihre) Locken doof finden. Eine Lockenfrisur kann auch "wirr" sein wie unsere Gegenwart, denk' ich ...

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 10.08.2020, 03:43

Erst jetzt verstehe ich Quoths Einwand. Beim ersten Lesen, nach dem eingeleiteten Kontext der "Pandemie", dachte ich an der besagten Stelle nicht im entferntesten an Haarlocken, bestenfalls an eine Doppelmetapher im Sinn von "Zeiten hier herlocken" -- neben "Zeiten hier einsperren".

Kann man der Zeit Locken verpassen? Nun, wenn Zeit verstreichen kann, dann kann man sie auch verlocken, denke ich, und eine Zeitschleife frisieren. Meine Skepsis ist weg, das Bild funktioniert. Eine eingeschlossene Zeit ist dann so etwas wie eine nicht enden wollende Zeitschleife. Also wie eine in sich geschlossene Locke. Bloß: Muss man diese Locke notwendig so sehr als "hübsch" interpretieren, dass die Hübschigkeit untragbar schlimm ist? Ich fand das Fukushima-Gedicht damals nicht schlimm.

Eine Locke ist eine Schleife; mit einer Schleife kann man etwas schließen. Also letztendlich kommen wir sowieso auf das Urbild von Locken zurück.

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Beitragvon Quoth » 10.08.2020, 09:52

Ja, Pjotr, Du bringst sehr gut Locken mit Verlocken zusammen. Ob die beiden Begriffe eine gemeinsame etymologische Wurzel haben? Wundern würde es mich nicht. Aber eine Schleife ist nun etwas ganz anderes als eine Locke, die Nifl korrekt mit einer Spirale verglichen hat. Doch nun will ich aufhören mit den Spitzfindigkeiten und der Autorin für ihren Text und auch dafür danken, dass sie unsere Meinungsverschiedenheit nicht ex cathedra zu schlichten versucht hat. Ich glaube ganz einfach, dass sie der Versuchung durch ein englisch-deutsches Wortspiel nicht widerstehen konnte.
Amanita, wirre Locken können besonders lockend sein ...
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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 10.08.2020, 10:24

Eine Schleife kann spiralförmig offen sein, das schließt aber nicht aus, dass sie, vor allem in technischen Bereichen, auch einen geschlossenen Kreislauf darstellen kann, also einen Loop, auf Englisch.

Aber mal ernsthaft: Mir gefallen Frauen mit lock'gem Haar; wie kann man denn so etwas schönes, natürlich Frohlockiges künstlich glattbügeln? Unfassbar.

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birke
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Beitragvon birke » 10.08.2020, 14:08

zunächst mal herzlichen dank für diese interessante diskussion! gern hab ich hier „gelauscht“ und ich staune, was ihr der „gelockten zeit“ alles entlockt, amanita, nifl und pjotr und freue mich darüber sehr. dem hab ich nunmehr wenig hinzuzufügen -

auf jeden fall aber, lieber quoth, liegt mir natürlich eine verharmlosung fern, und „hübsch gelockt“ hatte ich gar nie im sinn – (das ist ja auch eher subjektiv) – und das darauf folgende deutet ja auch darauf hin, dass es sich nicht um eine rein „attraktive“ zeit handelt, wenn das lyrich etwas (eine stimme, wessen und warum, bleibt offen) vermisst, wenn etwas fehlt. (vielleicht wäre dann das passende wort auch eher „lockig“, wenn es "hübsch" gemeint wäre??)

im sinn hatte ich tatsächlich eher etwas wirres und krauses, etwas, was sich nicht leicht, wenn überhaupt entwirren lässt, etwas wenig geradliniges, sondern verworrenes, chaotisches, und ja, schön auch die spirale, nifl, und dieser „loop“, pjotr… und ja, natürlich steckt der „lockdown“ irgendwie auch mit drin.

sicherlich ist dies eine subjektive sicht und momentaufnahme (vom anspruch einer allgemeingültigkeit in gedichten hab ich mich schon seit längerem verabschiedet... das kann ein gedicht niemals leisten und ist auch nicht der sinn eines solchen, meine ich. :)

vielen dank euch und liebe grüße von birke
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