aus "kinderszenen"

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
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birke
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Beitragvon birke » 06.11.2020, 15:01

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ich stehe auf dem spielplatz, im sandkasten, als ein riesiger hund auf mich zurennt. ehe ich auch nur zucken kann, springt er mich an. später habe ich angst vor fremden hunden, vor allem, wenn sie nicht angeleint sind, wenn sie auf mich zurennen, und nein, gar nie böses im sinn haben, nur spielen wollen, wie ich damals im sandkasten.



sonntag, früher nachmittag. ich treffe meine freundin im hof. sie ist todschick gekleidet und darf sich nicht schmutzig machen. stolz stellt sie einen fuß im lackschuh und weißem kniestrumpf auf den rand des sandkastens. „wir fahren gleich zu meiner oma!“ sagt sie zu mir, dabei reckt sie ihre stupsnase in die höhe. ich komme mir schäbig vor, wie ich da hocke, in meinen spielhosen und dem alten roten nickipulli. ich darf mich dreckig machen. ach, dabei wär ich doch nur einmal in meinem leben auch so schick angezogen! aber ich hab ja nicht mal ne oma.



(bin dabei eine reihe solcher szenen/ skizzen zu schreiben.)

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Kurt
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Beitragvon Kurt » 06.11.2020, 19:53

Ich finde diese „Szenen“ schön. Und wenn ich mir vorstelle, ein damit gefülltes Buch. Mir hat mal jemand ein Buch geschenkt, von Peter Handke, im Suhrkamp erschienen. Es waren nur solche „Szenen“ darin. Handke wollte wohl ursprünglich einen Roman oder so draus bauen, hat es aber nicht gemacht, weil die „Szenen“ für sich dem Verlag auch so gefielen. Sie schrieben sinngemäß oder so:
Mit das Schönste, was die deutsche Sprache derzeit zu bieten hat.

Mögen dir, liebe Birke, noch viele weitere schöne „Szenen“ gelingen.

LG Kurt
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so, als hätten wir alles im Blick." (Kurt)

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birke
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Beitragvon birke » 08.11.2020, 10:29

oh, danke, kurt, freut mich und ermutigt mich auf jeden fall weiter daran zu schreiben!
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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 08.11.2020, 11:11

Ja, gute Idee. Unvergessliche Szenen fahren mir auch hin und wieder durch den Kopf. Scheinbar belanglos, aber doch fesselnd, sonst wären sie ja vergessen. Vielleicht starte ich mal auch so einen Faden. (Dieser hier ist ein Solo-Faden, nehme ich an.)

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birke
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Beitragvon birke » 08.11.2020, 11:44

danke, pjotr, und jaa, starte doch auch mal einen faden, fände ich sehr interessant (ich denke, es ist übersichtlicher, wenn jeder seinen eigenen bereich hat, oder?) ich hatte auch erst gar nicht daran gedacht, evtl noch mehr szenen einzustellen, aber mal sehen. :)
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Nifl
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Beitragvon Nifl » 08.11.2020, 13:28

Oh ja, das gefällt mir auch sehr gut und freue mich auf weitere Episoden.

und nein, gar nie böses im sinn haben, nur spielen wollen, wie ich damals im sandkasten.

Da bin ich zuerst drüber gestolpert, bis ich das dann mal endlich als Ironie verstanden habe. Schön kritisch die Gegenüberstellung zum Selbstspielenwollen, also Freiheitsgrenzen einbringend dem Text Tiefe gibt.
Andererseits könnte man das auch als einmischende Ewachsenensicht werten, würde mir gleich am Anfang der Reihe überlegen, ob du das möchtest.

Viele Grüße
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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 08.11.2020, 13:52

Interessant. Ich lese das nicht ironisch. Das liegt wahrscheinlich an dem autobiografischen Eindruck, unter dem ich mir nicht vorstellen kann, das Kleinbirkchen im Sandkasten wahrlich etwas böses im Sinn hatte :-)

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birke
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Beitragvon birke » 08.11.2020, 15:01

danke, lieber nifl, freut mich sehr.

ironie oder nicht-ironie? fein, dass man sich nicht so sicher ist, dass beide lesarten funktionieren können. :)

da diese szene jetzt nur zufällig am anfang steht, denke ich, ist das okay. habe bisher nur eine lose reihenfolge, werde wohl einfach erstmal sammeln. und ggfs auch noch mehr hier einstellen. :)

liebe grüße!
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birke
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Beitragvon birke » 09.11.2020, 14:30

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(hier also eine weitere szene.)



ich soll für eine woche nach düsseldorf, zu papas verwandten. mit rieke, die genau so alt ist wie ich, verstehe ich mich ganz gut, aber sie ist so wild und laut. was soll ich eine lange woche dort? ich kenne die leute kaum. riekes älteren bruder mag ich. sie haben ein großes haus und einen garten. alle sind lieb zu mir. aber abends kann ich nicht einschlafen, rieke hält mich wach, dabei will ich mich nur verkriechen, muss alle konzentration darauf verwenden, den kloß im hals runterzuschlucken. ich darf bei jochen im zimmer schlafen, da geht es mir besser. morgens kann ich kaum essen, bekomme nur ein paar apfelstücke und etwas weißbrot mit nutella runter. noch heute schmeckt mir weißbrot mit nutella nach heimweh.

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Beitragvon Nifl » 09.11.2020, 19:33

Oh wie wunderbar. Ja, diese ewigen, diese treuen Verknüpfungen, herrlich absurd menschlich. Da fällt wohl jedem was zu ein und dein Text lässt es sprudeln, sehr schön. Aber auch das andere Verrückte, dass man sich sehnen kann nach rational schlechteren Bedingungen.
Weiter weiter!
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Beitragvon Pjotr » 09.11.2020, 23:55

Der dritte Szenen-Text hat etwas, was der erste auch enthält: Das damalige Kind plaudert in der damaligen Gegenwart -- ausgenommen die Schlussbemerkung; da spricht der erwachsene Erzähler in der heutigen Zeit.

Das ist buchstäblich ein springender Punkt. Der bringt mich zurück auf die Frage, warum ich da keine Ironie herauslese. Weiter oben schrieb ich, ich könne mir nicht vorstellen, dass Kleinbirkchen etwas böses im Sinn hatte (unter der Annahme, der Text sei autobiografisch). Ich habe mich geirrt. Es liegt nicht an der Tatsache, dass meine Forenkameradin Birke für mich das Antiböse ist, sondern daran, dass Kinder generell ironiefrei denken. Der Text könnte also auch von einem unbekannten Kind stammen, ich würde auch dann die Sprache nicht-ironisch aufnehmen. Jetzt kommt aber dieser springende Punkt am Ende: Der letzte Satz spricht ja ein Erwachsener. Der kann durchaus ironisch gemeint sein. Die Ironiefrage bleibt also offen.

(Gibt es eigentlich Kinderbücher, die ironische Sätze enthalten? Ich merke an mir selber, dass ich sogar als 20-jähriger noch Schwierigkeiten mit Ironie hatte, und sehe das auch an anderen jungen Leuten. Man nimmt alles ernst. Weil man naiv ist.)

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Beitragvon birke » 10.11.2020, 09:53

tausend dank, lieber nifl, das beflügelt mich geradezu! :) nee, im ernst, freue mich, dass diese szenen etwas transportieren, schreibe nämlich gerade einfach auch unheimlich gern daran.

ja, pjotr, einige szenen enthalten diesen zeitsprung, den bezug zur gegenwart, den ich zumindest in manchen fällen für wichtig erachte.

was die ironie angeht, das hast du ziemlich treffend reflektiert, finde ich. ich meine, ein kind denkt schon, dass der hund „böse“ ist, weil er es ja ist, der es angreift. der erwachsene hingegen weiß, dass eigentlich nur die menschen, die hundehalter es sind, die man zur rechenschaft ziehen kann, denn warum darf der hund auf dem spielplatz herumlaufen, und dann noch frei, ohne leine? (es kommt so sehr darauf an, wie der hund erzogen ist, wie seine menschen mit ihm klar kommen, mit ihm umgehen.) und dieses „böse“, das ist auch so eine sache, wie definiert man das … aber das ist alles ein weites feld, weiterführendes feld, schön, wenn diese szene diese ganzen gedankengänge in bewegung zu setzen vermag.
edit - was natürlich auch mit hineinspielt ist dieser tatsächlich oft gehörte satz: "der tut nichts, der will nur spielen!"

und kinderbücher sollten wohl weitgehend ironiefrei sein, und sind es wohl auch? (gute frage.) ein ironieverständnis entwickelt sich ja erst mit den jahren (wobei es sicherlich auch ausnahmen gibt).

danke!

ps
noch etwas zur metaebene: was auch immer draus wird, würde das ganze dann vermutlich einigermaßen chronologisch sortieren. muss mir noch gedanken machen wegen der groß/-kleinschreibung, weiß nicht, ob hier die von mir favorisierte durchgängige kleinschreibung so gut passt…
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Beitragvon birke » 11.11.2020, 09:01

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erster april, irgendwann in der grundschulzeit. semir und ich gestehen uns unsere liebe. wir spaßen drum, müssen uns dabei aber immer wieder versichern, dass wir es ernst meinen. da ist auch noch kasimir. wie schön das leben sein kann! semir spielt auch klavier. kasimir nicht. dafür sammelt er mickey-maus-bücher und edelsteine, und hat angst, dass seine schätze eines tages bei einem brand vernichtet werden könnten, oh, und er besitzt so viele davon. eigens für den feuer-fall hat er ein ausgeklügeltes system entworfen, mit einer schnur. ich bin beeindruckt. semir ist anders. näher. wir haben die gleiche klavierlehrerin.



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Beitragvon birke » 12.11.2020, 07:56

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ich muss jedes andere kleine mädchen umarmen, das mir über den weg läuft. das mädchen im zug will nicht. sie trägt eine blaue jacke und trinkt tee aus einer thermoskanne. vielleicht später, sagt ihre oma, wenn sie warm geworden ist.

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