ruhig

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
avedon

Beitragvon avedon » 20.11.2005, 18:12

mir läuft es eisig die schulter hinunter. mein herz pumpt nur noch kaltes blut. kein winter hat mich je so besessen, keiner hat mich je so berührt. ich gehe und spüre doch keinen schritt. keine druckstelle schmerzt den erfrohrenen fuß. mit jeder sekunde verlier ich mich mehr in den lüften, die mit ihren scharfen messern um mich zischen. meine hand hat zu zittern aufgehört und hinter meinen blauen lippen wachsen raubtierzähne aus perlmutt. betörend schön glitzert der schnee in den gassen. betörend schön glänz der gefrohrene teich. betörend sein klingen wenn steine aufschlagen und träume zerspringen.

die taube hat auf der flucht ihre federn gelassen. das geschoß in ihrer schulter hat ihr herz verfehlt. doch das interessiert den jäger nicht, der sie an den füßen aufhängt und dann zu den anderen wirft. gemeinsam verrotten wir. "gemeinsam wollen wir in den himmel schweben und uns ganz dem lieben gott hingeben", zwitschern fröhlich die täublein im sarg.

die zigarette ist mir aus den fingern geglitten. ich lasse sie zu meinen füßen verglühen, denn ich kann mich nicht mehr beugen. ich kann mich nicht mehr spüren. nun also b i n ich kälte. nun endlich ist d i r kalt, wenn ich den raum betrete. "ruhig,", sage ich mit ruhiger stimme, "lass uns ruhig sein. lass uns schweigen, denn nur die stille kann solch hohe räume füllen." verwundert wischt du mir die eisscherben vom gesicht. du nennst mich mädchen und leerst mir lauwarme worte über den kopf, aber ich taue nicht. "nicht sag, du würdest mich verstehen, wenn doch kein wort meinen mund je verließ. nicht halt mich an der hand – halt abstand!" ich sehe fragen zwischen deinen stirnfalten sitzen. ein verzweifeltes grollen rollt aus deinem mund, doch nichts erzittert. die wände stehen stramm um mich. auch der boden widersteht und hält mich eisern. die tage sind gegangen, an denen du mich fürchten sahst. die tage sind gezählt, an denen ich in deinem bett verblutend lag. einst wäre ich fast verbrannt an mir - wegen dir. und wieder greifst du auf meine schulter. und wieder greifst du mir ins gesicht. da lass ich meine zähne blitzen. "halt mich nicht! denn du weißt nichts vom feuer und du weißt nichts von der nacht. wie finster, glaubst du, kann dieser raum noch werden? wie kalt eine ausgebrannte hand?" du siehst mich an, als sei ich irre. und lächelst sachte vor dich hin. da halt ich deinen kühlen hals mit meinen eisigkalten händen fest, bis keine frische atembrise mehr deinen kühlen mund verlässt.
so sorglos lag dein kühler kopf noch nie an meiner seite. so leblos war kein raum bisher, den ich mit dir teilte.
nun also b i n ich kälte. das stört keine gesellschaftsschicht und auch mein leben stört es nicht. nur manchmal abends, wenn ich den sohn zudecke, damit es ihm nicht friert, bemerke ich, wie er zurückschreckt, wenn meine hand seinen körper berührt.

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 24.11.2005, 17:42

Hallo avedon,

abgesehen (knausigrer Kommentar, ich weiß :grin: ) davon, dass es mir rein optisch schwer gefallen ist, die Geschichte zu lesen, weil alles klein geschrieben ist (wenn das Absicht ist, vergiss meine Kritik :grin: ), hat mich besonders das immer wieder weiter auserzählte Bild der Kälte, des Eises, auch auf metaphorischer Ebene gefesselt.

Manche Ausdrücke lassen mich "alles andere als kalt":

hinter meinen blauen lippen wachsen raubtierzähne aus perlmutt


du nennst mich mädchen und leerst mir lauwarme worte über den kopf, aber ich taue nicht.


Und auch diese Stelle:
und wieder greifst du auf meine schulter. und wieder greifst du mir ins gesicht. da lass ich meine zähne blitzen. "halt mich nicht! denn du weißt nichts vom feuer und du weißt nichts von der nacht



Im letzten Satz ist mir noch aufgefallen, dass du mit dem Wort Gesellschaftsschicht auf eine völlig andere Ebene wechselst, vielleicht würde ich den Kommentar weglassen, es zerstört die Nähe, die man sonst so gut zu den erzählten Personen aufbauen kann und wird ja auch nicht weiter auserzählt?

Ich würde an der Geschichte also unbedingt noch weiter arbeiten, sie verspricht eine wunderschöne Erzählung zu werden ...mir jedenfalls :grin:

avedon

Beitragvon avedon » 24.11.2005, 20:05

ich dank dir, liebe lisa, danke danke danke.
ich hab schon gedacht die geschichte sei hoffnungslos ... weil sie so eckig ist - vielleicht sollt ichs lieber bleiben lassen, geschichten zu schreiben - sie enden nämlich immer so - so eigenartig wirr und unrund.
aber du siehst noch sinn? das freut mich.

african queen

Beitragvon african queen » 20.12.2005, 21:40

O:) hallo avedon,
diese Eiseskälte , die kann ich richtig spüren, die ist gewaltig.
da ich ein Sonnenkind bin, schicke ich dir wärmende Sonnenstrahlen.

Dita

Beitragvon Dita » 01.01.2006, 22:51

Deine Zeilen haben mich getroffen. Schmerz konnte ich schon lange nicht mehr in solch enormer Wucht in Zeilen lesen. Du siehst mich beeindruckt.
Noch immer ein wenig mitgenommen grüßt,
Dita

Klugmann

Beitragvon Klugmann » 22.01.2006, 14:19

Warum die Kälte ertragen? Die Sonne hat doch soviel mehr zu bieten und ein Neuanfang, in welcher Beziehung auch immer, bringt ein Stück Entwicklung mit sich, die den Stillstand verdrängt. Es gehört Mut dazu!

Alles gute.
Anna

Franktireur

Beitragvon Franktireur » 30.01.2006, 23:14

Ich finde den Schluß nicht wirr und unrund, und ich finde die Geschichte ganz und gar nicht eckig, und was soll das mit dem Sinn?

Du solltest als Autor(in?) dein Licht nicht so unter den Scheffel stellen. Abgesehen von der Kleinschreibung (meist hasse ich das wie die Pest), die mich hier aber rasch nicht mehr störte, habe ich nichts zu meckern.

Atmosphärisch dicht (ich sehe keinen Störfaktor im Hinweis auf die Gesellschaftsschicht, sondern eher noch eine Verstärkung der beschriebenen Isolation - abgeschnitten von allem, innerlich noch lebend, aber nach außen tot - tief verletzte Seele/Psyche, derart zurückgezogen, daß selbst die sogenannten Vital-/Körperfunktionen nicht mehr erwärmt werden (was für ein klasse Bild!)) und kein Hoffnungsschimmer in Sicht. Nicht einmal das Kind schafft es, die Wärme zurückzubringen.

Ich sehe die Geschichte eher als Psychogramm einer gescheiterten Ehe/Beziehung, in der alles zerstört wurde, was das Leben lebenswert macht - die Konsequenz wird ohne Wenn und Aber, ohne Schonung aufgezeigt, und vor allen Dingen: ohne falsches "betroffenmachensollendes" Selbstmitleidgesäusel, und das ist stark.

Einer der besten und dichtesten Texte, die ich in den letzten Monaten im web gelesen habe.

Gruß

moana

Beitragvon moana » 02.02.2006, 13:28

Hallo!

Also, ich bin zwar noch recht neu hier, um genau zu sein, ist das mein erster Tag als registrierter User :mrgreen: Aber ich muss jetzt einfach meinen Senf zu deinem Text geben, denn ich finde ihn einfach wundervoll. Er ist so richtig deprimierend und hoffnungslos. Als ich ihn gelesen hatte, saßen gerade noch ca. 5 Menschen um mich herum. Als ich fertig war mit lesen, waren es nur zwei. Und ich habe nicht einmal gemerkt, wie sie den Raum verlassen hatten...So fesselnd fand ich den Text. Also, von mir ein dickes Lob und ganz viel Respekt :!: :!:

Werther

Beitragvon Werther » 03.02.2006, 02:52

Mich fasziniert die Metaphorik! Ich habe kein klares Bild, nachdem ich deine Worte gelesen habe, aber da IST ein Bild, eher ein Motiv oder ein Gefühl. Auch die Reime finde ich an den jeweiligen Stellen passend, weil (scheinbar?) zufällig verteilt. Die Mischung von Lyrik und Epik hat was!
Ich würde es vom Abstraktheitsgrad und der Bildlichkeit sogar eher als Dichtung einordnen!

Mich würds freuen, hier bald noch mehr von dir zulesen!

Werther


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