Heimkehren

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Max

Beitragvon Max » 20.01.2007, 21:46

Heimkehren

Vor ungefähr einem Jahr, am 26. Januar, starb meine Mutter. Sie war schon seit Längerem bettlägerig gewesen, dennoch traf mich die Mitteilung ihres Todes unvorbereitet. Anders hatte die Nachricht als erster erfahren und verständigte mich telefonisch. „Mama ist heute Nacht gestorben“, war alles, was er sagte. Noch bevor die Trauer einsetzte, kam mir der absurde Gedanke, dass ich nun, mit 56 Jahren, Vollwaise geworden war. Weiß Gott, wieso Anders es wieder einmal früher wusste als der Rest von uns, schließlich dozierte er an einer kleinen Universität in den Staaten.

Anders war immer der erste. Sowohl alphabetisch – wer wollte es da schon mit einem Anders Abel aufnehmen – als auch chronologisch. Als erster von uns fünfen wurde Anders geboren, dann Heinrich, der nun als Arzt im Süden praktiziert, dann mein Zwillingsbruder Max, der Theologe, und ich, schließlich unser Nesthäkchen Martha. Uns alle hatte unser Vater ein Instrument gelehrt, aber Anders und Martha verband das Klavier in besonderem Maße. Stundenlang saß Martha am Piano, stand Anders daneben, wiederholte sie dieselbe Phrase, verbesserte er ihr Spiel. „Schneller“, „rhythmischer“, „gefühlvoller“ klang es immer wieder zu uns herüber. Damals hätte wohl niemand vorhergesagt, dass Martha einmal eine bekannte Pianistin werden würde.

Auch in der Schule war Anders stets der erste. Wir waren alle keine schlechten Schüler, aber Anders machte als erster Abitur und er machte das beste. Nicht nur von uns fünfen, der Schule oder der Stadt. Anders machte das beste Abitur des Landes und das zweitbeste, was jemals landesweit bestanden wurde. Kam die Sprache darauf, vergaß Anders nie zu erwähnen, dass das beste 1943, also in den Kriegwirren und somit sozusagen unter verzerrten Wettbewerbsbedingungen zustande gekommen war. Auch im Studium – Anders studierte Philosophie, natürlich, die Königsdisziplin, wie er sie nannte – ragte er heraus. Seine Magisterarbeit wurde in einer wissenschaftlichen Zeitschrift publiziert. Allerdings zog sich seine Dissertation über Gebühr hin. Nie schien sie ihm vollkommen und seine Karriere bekam einen leichten Knick. Vielleicht hatten ihn danach deshalb verschiedene Universitäten immer nur auf Zeitverträgen beschäftigt. Dennoch blieb Anders das Vorbild der Familie. Wie eine Monstranz trug unser agnostischer Vater, Gott hab ihn selig, Anders Leistungen vor uns her; so hoch hielt er sie, dass mich selbst heute, beinahe vierzig Jahre später, ein heiliger Schauder überkommt, wenn ich daran denke.

Ich kam mit Anders überein, ihn am Flughafen abzuholen. Seine Frage am Telefon „Wird dein Auto auch geräumig genug sein?“ hielt ich zunächst für einen misslungenen Scherz, ich hatte vergessen, wie er war. Doch als ich ihn durch die gläserne Tür, welche die Gepäckausgabe von der Einganghalle trennte, am Gepäckband hantieren sah, wusste ich wieder, dass Anders bei nie scherzte. Ich wusste nicht, was genau er alles eingepackt hatte, aber selbst auf die Distanz war die Mühe erkennbar, mit der er die beiden Überseekoffer vom Band zog. Ich erinnerte mich: Schon als Kind hatte Anders das Schweizermesser mit den meisten Funktionen. Später trug er auch im Hochsommer bei 30 Grad im Schatten immer einen Regenschirm bei sich, nur „für den Fall der Fälle“, wie er skeptischen Mienen darzulegen pflegte. Und so folgten den beiden Überseekoffern noch zwei weitere unförmige Pakete, von denen eines erkennbar die Form eines Bügelbretts hatte. Ich sah ihn gestenreich mit einem Zollbeamten diskutieren, der ihn schließlich zweimal durch die Sicherheitsschleuse gehen ließ, um seine ganze Bagage in die Vorhalle zu schaffen.

„Ich wusste gar nicht, dass du neuerdings surfst“, scherzte ich nach der Begrüßung, während wir zwei Gepäckwagen zu meinem Auto manövrierten.
„Das – ist kein Surfbrett. Das ist ein Bügelbrett!“ erklärte Anders ohne eine Spur von Ironie.
„Oh“, entgegnete ich, „so etwas hätten wir sicher hier in Europa nicht aufzutreiben gewusst. Ich hoffe, du hast auch an ein Bügeleisen gedacht.“
„Natürlich“, antwortete er prompt. „Das Bügeleisen befindet sich in einem der Koffer. Ich möchte Mama auf ihrer Beerdigung unter keinen Umständen in einem zerknitterten Frack entgegentreten.“

Ich schwieg. Erst als wir schon im Auto saßen, wagte ich mich nach dem Inhalt des zweiten Pakets zu erkundigen. „Darin befindet sich nur mein Klapprad“, erklärte Anders mit unbewegter Mine. Jede weitere Nachfrage erübrigte sich. Zweifellos hätte er mir die Vorteile, genau dieses Klapprad beim Haus unserer Eltern zur Verfügung zu haben, in schillernden Farben ausmalen können. Ich verzichtete darauf. Die Vergangenheit traf mich in Form eines Bügelbretts und eines Klapprades und mit unerwarteter Heftigkeit.

Als wir später mit unseren Geschwistern beim Abendessen saßen, war mir die Vergangenheit schon wieder vertrauter. Anders hatte Vaters Platz an der Stirnseite der Tafel eingenommen, Mutters Platz ihm gegenüber blieb leer. Niemand hatte dies ansprechen müssen, es hatte sich ganz von allein so ergeben. Fast wirkte Mutter durch ihr Fehlen präsenter als sie es durch ihre stille Art bei vielen unserer lebhaften Treffen gewesen war. Auch diesmal schwirrte das Gespräch trotz des traurigen Anlasses schnell durch die vielen gemeinsam erlebten Augenblicke. Vor allem das gemeinsame Musizieren war immer ein Gesprächsthema, diesmal aber eine besonders kostbare Erinnerung. Vater hatte uns das Musizieren beigebracht, aber Mutter hatte es geliebt. Besonders wenn Anders ein ganzes Orchester erklingen lassen wollte und sich mit Trompete, Cello und Pauke gleichzeitig abmühte, von einem Instrument zum anderen wieselte, schließlich vor lauter Eifer jegliche Steifheit verlor und in ein Lachen ausbrach, das erst durch Atemnot und Lachtränen gestoppt wurde. An diesem Abend genügte schon das Erinnern, um Tränen in Anders Augen treten zu lassen.

All dies unterschied sich kaum von hundertfach Erlebten und doch war vieles anders. Vater war vor zehn Jahren gestorben, nun Mutter. Selbst Marthas schwarzes Haar durchzogen schon silberne Fäden. Heinrich hatte beinahe eine Glatze und ich neigte, ähnlich wie Max, zur Dicklichkeit. Nur Anders war von jeher Anders. Seine Haltung beinahe schmerzhaft aufrecht, als wolle er ein Rufzeichen setzen. Seine Sprache war klar, seine Kleidung akkurat, seine Sätze druckreif. Wie aus der Zeit gefallen mochte er wirken, nur der Ansatz seiner Schläfen war leicht ergraut. Doch nicht seine Schläfen waren es, die auch ihn um eine Winzigkeit verändert erschienen ließen.

Die Leichtigkeit des Gesprächs trug nicht nur mich in eine andere Wirklichkeit. Erst beim Kaffee entstand eine Pause und jeder hing seinen Gedanken nach. In die Stille hinein stellte Heinrich die Frage, die auch ich mir schon gestellt hatte: „Und was wird aus dem Haus?“
Niemand mochte darauf als erster antworten. Mein Blick wanderte zu Anders, doch der rührte scheinbar abwesend seinen Kaffee um. Schließlich antwortete Heinrich selbst auf seine Frage: „Ihr wisst, ich wohne 500 Kilometer von hier. Ich könnte mich nicht darum kümmern.“
„Mir geht es ähnlich“, stimmte Martha zu. „All die Konzertreisen, die Aufnahmen. Ich bin fast nie in der Gegend.“
„Also sollen wir verkaufen?“ Heinrichs Frage stand nun offen im Raum.
„Nein!“ riefen Max und ich zugleich aus wie es uns früher als Kindern auch oft passiert war. Als lebten wir nicht seit Jahren in verschiedenen Städten und als vergingen manchmal nicht Monate ohne einen Anruf waren wir einer Meinung. „Wir können es nicht einfach verkaufen“, argumentierte er. „Es ist das Haus, das Vater gebaut hat. Diese Mauern hat er mit hochgezogen. Hier wohnen unsere Erinnerungen, all das, worüber wir eben gesprochen haben, ist hier passiert.“
Ja, genau so empfand ich es auch, und dankbar legte ich Max die Hand auf den Arm. Mit jemandem geboren zu sein, der mein Fühlen und meine Erinnerung teilte, der so perfekt aussprechen konnte, was ich dachte, das war schon ein Wunder „Aber was wollt ihr machen?“ bohrte Heinrich nach.
„Man könnte es vermieten“, schlug ich vor.
„Selbst dann wäre es gut, wenn jemand gelegentlich nach dem Haus sehen könnte“, warf Martha ein. „Ihr beiden wohnt ja auch nicht gerade um die Ecke.“
Das stimmte. Dennoch, das Haus zu verkaufen, war für ich einfach unvorstellbar. Das Gespräch wurde hitziger, bis Max es mit einem einzigen Wort stoppte: „Patt!“

Mit einem Mal wurde uns klar, dass Anders noch gar nichts dazu gesagt hatte. Alle Blicke wanderten zum Kopfende der Tafel. Anders rührte immer noch in seinem Kaffee. Max schaute mich an. Was war von Anders zu erwarten? Er wohnte ein paar tausend Kilometer von diesem Haus entfernt.

Er schien zu überlegen. Dann sagte er leise, aber sehr bestimmt, so dass seine Worte einen beinahe offiziellen Status erhielten: „Mir wäre es recht“, „wenn wir das Haus behalten könnten. Es gab im letzten Monat zwischen meinem Dekan und mir unüberbrückbare Differenzen – ich habe meine Anstellung verloren. In zwei Monaten werde ich zurück nach Europa kommen. Ich könnte in dem Haus wohnen. Ich würde euch selbstverständlich Miete bezahlen.“

Anders Haltung war nun eine Spur weicher. Er hatte ein Urteil gesprochen, nicht nur über das Haus. Es wurde still. Nun rührte ich in meiner Kaffeetasse. Mit einem Male fiel mir wieder ein, das Mutter tot war und zum ersten Mal begriff ich es. Eine Welt ohne sie erschien mir seltsam unwirklich.

Dennoch ahnte ich, dass es mir leichter fallen würde, Mutters Tod zu akzeptieren als die Umstände für Anders Rückkehr. Max muss es ähnlich ergangen sein. Ein paar Wochen nach der Beerdigung sandte er mir ein Photo, das er an jedem Abend kurz nach dem Gespräch aufgenommen hatte. Nur das Bild, sonst nichts. Unsere Gesichter sind noch heiß von der Diskussion. Nur Anders scheint ohne Emotion, sein Körper ist straff wie beim Appell. Seine Hände sind zu Fäusten geballt. Über den Fingerknöcheln spannt sich die Haut weiß.

Änderungen aufgrund von Anregungen von Birute, Scarlett und vor allem Klara, Danke!!
Zuletzt geändert von Max am 21.01.2007, 15:20, insgesamt 2-mal geändert.

Klara
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Beitragvon Klara » 20.01.2007, 21:54

Hallo,

jetzt nur ganz kurz, Max (gehe später ins Detail): Es ist gut erzählt!

Hab jetzt keine Zeit für mehr - gute Nacht!

Klara

Max

Beitragvon Max » 20.01.2007, 22:01

Liebe Klara,

danke für die Kurzimpression - wenn du mehr Zeit hast, freue ich mich auch über mehr.

Gute Nacht,
Max

Birute

Beitragvon Birute » 20.01.2007, 22:30

Hallo Max,

die Geschichte ist so beiläufig erzählt, und doch so echt und voller Leben. Toll!
Ein "m" für "war für mich einfach unvorstellbar".

Herzlich
Birute

scarlett

Beitragvon scarlett » 20.01.2007, 22:46

Lieber Max,

ja, Anders bleibt anders - und das bis zum bitteren Ende.
Er schafft es, auch in der aktuellen Situation zu überraschen mit diesem Anderssein- und gibt damit der Geschichte eine unerwartete Wendung. Das gefällt mir.

Deine Geschichte ist sehr gut erzählt- finde ich, wenn ich auch einige Kleinigkeiten anmerken könnte, allerdings nur sprachlicher Art. Z B in Abschnitt 2: da empfinde ich die Aufzählung als etwas ungeschickt. Auch würde ich die Erwähnung des Instruments, das alle Kinder vom Vater gelernt haben, in einen neuen Absatz - zumindest neue Zeile schreiben.
"Uns alle hatte unser Vater..." ... das erscheint mir auch irgendwie doppelt gemoppelt.. warum nicht, "uns alle hatte Vater..."? - Aber das sind KLeinigkeiten, wie gesagt...

Ändert nichts an der Tatsache, daß ich deinen Text mag und morgen nochmal genauer lesen werde.

Nacht,

scarlett

pandora

Beitragvon pandora » 21.01.2007, 11:18

lieber max,

warum kommt kehrt anders nach hause zurück?

a. weil er immer tut, was von ihm erwartet wird, weil er vernünftig ist und persönliches dem großen ganzen unterordnet?

oder

b. weil er erkannt hat, dass das leben nicht allein aus hehren wissenschaftlichen ambitionen besteht?

lg
p.

aram
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Beitragvon aram » 21.01.2007, 11:35

lieber max,

da "anders" als name ungebräuchlich und zugleich eine figur bei musil ist (vorläuferfigur von ulrich im mann ohne eigenschaften), drängt sich dieser bezug für mich auf - scheint aber nicht gewollt zu sein bzw. sinn zu machen... ich weiß nicht, ob sich solche namen einfach 'wiederholen' lassen... vielleicht ist es gar keine wiederholung, weil in der publizierten fassung des m.o.e. "anders" nicht mehr vorkommt... trotzdem kann ich diesen bezug nicht 'wegschalten'.

das liegt daran, dass sich ein eigenständiger sinn dieser namensgebung über deinen text (in den ich allerdings auch nicht richtig 'reinkomme') für mich noch nicht erschließt.

liebe grüße
aram
there is a crack in everything, that's how the light gets in
l. cohen

Max

Beitragvon Max » 21.01.2007, 13:10

Liebe Kommentatoren,

@Birute: lieben Dank für's Lesen, das 'm' ist eingebaut (also ein anderes M als dasM ;-) ).

@Scarlett: auch Dir ein herzliches Danke. Ich habe Deine Änderungen implemetiert.

@Pandora: Meine Interpretation wäre die, dass Anders heimkehrt als ein (partielles) Eingeständnis seines eigenen Scheiterns, als eine Einsicht - also eher b als a. Nur schade, wenn der Leser diese Einsicht in die Einsicht nicht gewinnt ;-).

@Aram: Ehrlich gesagt konnte ich bei Anders nicht an Musil denken, weil Dein Hintergrundwissen da nicht habe. Der Anlass den Protagonisten Anders zu nennen war viel profaner. Es gibt einen Menschen, von dem ich einige Eigenschaften des Anders entliehen habe. Der heißt Andries. Das wollte ich schon allein deshalb nicht 1: 1 stehen lassen, weil das ein niederländischer Name ist. Anders ist zwar als schwedischer Name nicht wikrlich besser, aber er ist eben doch in ganz (Nord/Mittel)-Europa zu finden, wenn auch nur sporadisch. Außerdem hat mir dann gefallen, dass Anders auch als "anders" Sinn gibt und ich brauchte einen Namen der mit "A" anfängt für das Alphabetische zu Beginn.

Liebe Grüße
max

Klara
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Beitragvon Klara » 21.01.2007, 13:29

Hallo Max,

wie versprochen detaillierter:
Anders war immer der erste. Sowohl alphabetisch – wer wollte es da schon mit einem Anders Abel aufnehmen – als auch chronologisch. Als erster von uns fünfen wurde Anders geboren, dann Heinrich, der nun als Arzt im Süden praktiziert, dann mein Zwillingsbruder Max, der Theologe, und ich, schließlich unser Nesthäkchen Martha. Uns alle hatte unser Vater ein Instrument gelehrt, aber Anders und Martha verband das Klavier in besonderem Maße. Stundenlang saß Martha am Piano, stand Anders daneben, wiederholte sie dieselbe Phrase, verbesserte er ihr Spiel. „Schneller“, „rhythmischer“, „gefühlvoller“ klang es immer wieder zu uns herüber. Damals hätte wohl niemand vorhergesagt, dass Martha einmal eine bekannte Pianistin werden würde.


Vielleicht sollte „ich“ sich auch noch namentlich vorstellen, wenn schon so konventionell vorgestellt wird?
Die Szene mit dem Klavier finde ich gelungen.
Auch in der Schule war Anders stets der erste. Wir waren alle keine schlechten Schüler, aber Anders machte als erster Abitur und er machte das beste. Nicht nur von uns fünfen, der Schule oder der Stadt. Anders machte das beste Abitur des Landes und das zweitbeste, was jemals landesweit bestanden wurde. Kam die Sprache darauf, vergaß Anders nie zu erwähnen, dass das beste 1943, also in den Kriegwirren und somit sozusagen unter verzerrten Wettbewerbsbedingungen zustande gekommen war.


Das mit den Kriegswirren wäre doch eher ein Argument für ein leicht errungenes gutes Abi? Ich weiß es nicht, frage mich nur. Notabitur hieß das, oder? Da wurden die Jungen nachsichtiger durchgepeitscht, damit sie noch an die Front konnten, wars nicht so?...

Auch im Studium – Anders studierte Philosophie, die Königsdisziplin, wie er sie nannte –


Vielleicht noch deutlicher: Anders studierte Philosophie, natürlich!, die „Königsdisziplin“,

Einzig seine Dissertation zog sich über Gebühr hin. Nie schien sie ihm vollkommen und seine Karriere bekam einen leichten Knick. Vielleicht hatten ihn danach deshalb verschiedene Universitäten immer nur auf Zeitverträgen beschäftigt. Dennoch blieb Anders das Vorbild der Familie. Wie eine Monstranz trug unser agnostischer Vater, Gott hab ihn selig, Anders Leistung vor uns her; so hoch hielt er sie, dass mich selbst heute, beinahe vierzig Jahre später, ein heiliger Schauder überkommt, wenn ich daran denke.

Das Einzig stimmt nicht. Allerdings wäre stimmiger, denn auch seine Karriere zog sich danach ja über Gebühr hin.

Anders’ Leistung mit Apostroph, hier klarer machen, um welche Leistung es geht: Philosophie, bestes Abi oder alles zusammen? Eine geknickte Karriere wäre ja so eine Monstranz denn nicht mehr?
Ich kam mit Anders überein, ihn am Flughafen abzuholen. Seine Frage am Telefon „Wird dein Auto auch geräumig genug sein?“ hielt ich zunächst für einen misslungenen Scherz, ich hatte vergessen, wie er war. Doch als ich ihn durch die gläserne Tür, welche die Gepäckausgabe von der Einganghalle trennte, am Gepäckband hantieren sah, wusste ich wieder, dass Anders bei solchen Bemerkungen nie scherzte.


Bei solchen Bemerkungen? Oder generell nicht?

Ich ahnte nicht, was genau er alles eingepackt hatte, aber selbst auf die Distanz war die Mühe erkennbar, mit der er die beiden Überseekoffer vom Band zog.


Nicht ahnen, sondern wissen (ahnen ist doch wissen, nur im nachhinein wissentlich) – also: Ich wusste nicht, was genau etc.

Ich erinnerte mich: Schon als Kind hatte Anders das Schweizermesser mit den meisten Funktionen. Später trug er auch im Hochsommer bei 30 Grad im Schatten immer einen Regenschirm bei sich, nur „für den Fall der Fälle“, wie er skeptischen Minen darzulegen pflegte
.

Minen oder Mienen?

Und so folgten auch diesmal den beiden Überseekoffern noch zwei weitere unförmige Pakete, von denen eines erkennbar die Form eines Bügelbretts hatte.


Auch diesmal? Wie oft ist er denn schon so angekommen? Streichen

„Das – ist kein Surfbrett. Das ist ein Bügelbrett!“ erklärte Anders ohne eine Spur von Ironie.


Der Spiegelstrich erschließt sich mir nicht.

„Oh“, entgegnete ich, „so etwas hätten wir sicher hier in Europa nicht aufzutreiben gewusst. Ich hoffe, du hast auch an ein Bügeleisen gedacht.“
„Natürlich“, antwortete er prompt. „Das Bügeleisen befindet sich in einem der Koffer. Ich möchte Mama auf ihrer Beerdigung unter keinen Umständen in einem zerknitterten Frack entgegentreten.


Witzig.

Ich schwieg. Erst als wir schon im Auto saßen, wagte ich mich nach dem Inhalt des zweiten Pakets zu erkundigen. „Darin befindet sich nur mein Klapprad“, erklärte Anders mit unbewegter Mine.


Absatz nach Ich schwieg?

Jede weitere Nachfrage erübrigte sich. Zweifellos hätte er mir die Vorteile, genau dieses Klapprad beim Haus unserer Eltern zur Verfügung zu haben, in den schillerndsten Farben ausmalen können. Ich verzichtete darauf.


In den schillerndsten ist abgegriffen (und für Korinthenkacker falsch). In schillernden Farben würde reichen.

Die Vergangenheit traf mich in Form eines Bügelbretts und eines Klapprades und mit unerwarteter Heftigkeit.


Entscheide dich für Klapprad oder Bügelbrett. Ich wäre für Bügelbrett. Dann müsstest du das Klapprad nach oben schieben und das Bügelbrett nach unten.

Als wir später mit unseren anderen Geschwistern beim Abendessen saßen,


anderen ist überflüssig und genau genommen falsch?

Besonders wenn Anders im Wunsch ein ganzes Orchester erklingen zu lassen, sich mit Trompete, Cello und Pauke gleichzeitig abmühte, von einem Instrument zum anderen wieselte, schließlich über die Hast jegliche Steifheit verlor und in ein Lachen ausbrach, das erst durch Atemnot und Lachtränen gestoppt wurde. An diesem Abend genügte schon das Erinnern, um Tränen in Anders Augen treten zu lassen, und ich fragte mich, ob es Tränen der Freude oder Trauer waren.


Einstieg ungeschickt. Klarer wäre: Besonders wenn Anders ein ganzes Orchester erklingen lassen wollte…

Über die Hast ist regional umgangssprachlich oder jedenfalls kenne ich es nicht? Ich kenne: In der Hast, in all der Hast, oder lass die Hast die Hast weg und sag „bei all dem“, in seinem Eifer

Die Tränen der Freude verstehe ich nicht.

All dies unterschied sich fast nicht von hundertfach Erlebten und doch war vieles anders.


Fast nicht? Kaum wäre schöner.

Vater war vor zehn Jahren gestorben, nun Mutter.


Ungeschickt elliptisch, vermengt die Zeiten. Besser nach dem Komma: nun folgte Mutter ihm nach. (?)

Nur Anders war von jeher Anders.


Zweites anders klein oder ist das mit Absicht groß? Fände ich übertrieben. (Der Klang ist stärker als man denkt)

Seine Haltung beinahe schmerzhaft aufrecht, als wolle er ein Rufzeichen setzen – für sich wie für andere.


Unvollständiger Satz – mit Absicht? Den Spiegelstrich samt Folgendem würde ich streichen und mir lieber selbst denken dürfen.

Seine Sprache klar, seine Kleidung akkurat, seine Sätze druckreif.

Die unvollständigen (Stakkato) Sätze stören mich in diesem Zusammenhang, weil ich ihren Sinn nicht sehe. Ist aber wahrscheinlich Geschmackssache.

Wie aus der Zeit gefallen mochte er wirken, nur der Ansatz seiner Schläfen war leicht ergraut.


Mochte er? Wollte er? Oder wirkte er?
„Mir geht es ähnlich“, stimmte Martha zu. „Die ganzen Konzertreisen, die Aufnahmen. Ich bin fast nie in der Gegend.“


Die ganzen – so redet eine gebildete Musikerin? Würde sie nicht eher sagen „all die Konzertreisen“?

Hier wohnen unsere Erinnerungen, als das, worüber wir eben gesprochen haben, ist hier passiert.“


All das?

Ja, genau so empfand ich es auch und dankbar legte ich Max die Hand auf den Arm.


Komma nach auch

Mit jemandem geboren zu sein, der mein Fühlen und Erinnern teilte,


mein Fühlen und meine Erinnerung

Es wurde still, ich schaute auf meine Kaffeetasse.


Auf oder in? Klischee? Schaute ich wirklich in die Kaffeetaste?

Mit einem Male fiel mir wieder ein, das Mutter tot war und zum ersten Mal begriff ich es. Eine Welt ohne sie erschien mir seltsam unwirklich.

Lange nach der Beerdigung kehrten meine Gedanken immer wieder zu diesem Abend zurück. Es fiel mir leichter, Mutters Tod zu akzeptieren als die Umstände für Anders Rückkehr.


Das Ende ist ein - ich nehme an: gewollter - Erzählbruch. Ich finde die Überleitung vom Haupterzählzeitraum zum späterem (rückblickenden) Erzählzeitraum zu viel später schwach. Würde den ersten Satz letzter Absatz streichen, weiter mit: Ich ahnte, dass es mir leichter fiele, Mutters Tod zu akzeptieren als die Umstände Anders’ Rückkehr. Und weiter wie gehabt.

Viele Grüße
Klara

Max

Beitragvon Max » 21.01.2007, 14:50

Liebe Klara,

herzlichen Dank für Deine ausführliche Besprechung. Ich versuche mal auf alle Punkte einzugehen:

Vielleicht sollte „ich“ sich auch noch namentlich vorstellen, wenn schon so konventionell vorgestellt wird?


Hm, ich weiß noch nicht, ob ich mit der Vorstellung glücklich sein soll. Anders braucht einen Beruf, Martha auch – die anderen wegzulassen fände ich komisch. Was “ich“ macht, entzieht sich leider meiner Kenntnis .

Die Szene mit dem Klavier finde ich gelungen.


Merci.

Das mit den Kriegswirren wäre doch eher ein Argument für ein leicht errungenes gutes Abi? Ich weiß es nicht, frage mich nur. Notabitur hieß das, oder? Da wurden die Jungen nachsichtiger durchgepeitscht, damit sie noch an die Front konnten, wars nicht so?...


Ja, ich kann mich zwar nicht mehr erinnern ;-) .. aber so war’s .. Es soll ja auch heißen: Anders hätte das beste Abitur gemacht, wenn nicht der andere die einfacheren Bedingungen gehabt hätte.

Vielleicht noch deutlicher: Anders studierte Philosophie, natürlich!, die „Königsdisziplin“,


Ja, bonne idee.

Das Einzig stimmt nicht. Allerdings wäre stimmiger, denn auch seine Karriere zog sich danach ja über Gebühr hin.



Da hast Du recht …

Anders’ Leistung mit Apostroph, hier klarer machen, um welche Leistung es geht: Philosophie, bestes Abi oder alles zusammen? Eine geknickte Karriere wäre ja so eine Monstranz denn nicht mehr?


Würde der Plural „Leistungen“ mehr Sinn ergeben?

Einstieg ungeschickt. Klarer wäre: Besonders wenn Anders ein ganzes Orchester erklingen lassen wollte…

Über die Hast ist regional umgangssprachlich oder jedenfalls kenne ich es nicht? Ich kenne: In der Hast, in all der Hast, oder lass die Hast die Hast weg und sag „bei all dem“, in seinem Eifer

Die Tränen der Freude verstehe ich nicht.


Dein Einstige gefällt mir und auch wenn die Hast nicht regional ist (die Westfalen hier sind eher langsam ;-) ), so ist Dein Eifer besser. Die Tränen der Freude sind vielleicht wirklich nicht gut – sie kommen daher, dass ich die Szene zunächst live habe spielen lassen und da wären es eben jene Lachtränen gewesen.

Fast nicht? Kaum wäre schöner.


Echt? .. Hm, wenn das allgemeine Meinung ist … ich seh den Unterschied ..“fast nicht“. ;-)

Ungeschickt elliptisch, vermengt die Zeiten. Besser nach dem Komma: nun folgte Mutter ihm nach. (?)



Irgendwie finde ich da meine Formulierung besser.

Zitat:
Nur Anders war von jeher Anders.


Zweites anders klein oder ist das mit Absicht groß? Fände ich übertrieben. (Der Klang ist stärker als man denkt)



Beide groß war Absicht. Soll heißen: er war schon seit jeher so, wie er eben war.


Zitat:
Seine Haltung beinahe schmerzhaft aufrecht, als wolle er ein Rufzeichen setzen – für sich wie für andere.


Unvollständiger Satz – mit Absicht? Den Spiegelstrich samt Folgendem würde ich streichen und mir lieber selbst denken dürfen.



Ja, das ist sicher eine Option. Danke.

Zitat:
Seine Sprache klar, seine Kleidung akkurat, seine Sätze druckreif.

Die unvollständigen (Stakkato) Sätze stören mich in diesem Zusammenhang, weil ich ihren Sinn nicht sehe. Ist aber wahrscheinlich Geschmackssache.



Darüber denke ich nochmal nach.

Zitat:
Wie aus der Zeit gefallen mochte er wirken, nur der Ansatz seiner Schläfen war leicht ergraut.


Mochte er? Wollte er? Oder wirkte er?


Mochte, soll beschreiben, wie er vermutlich auf andere wirkte.



Die ganzen – so redet eine gebildete Musikerin? Würde sie nicht eher sagen „all die Konzertreisen“?


Stimmt, so hat sie in der ersten version auch geredet.

Zitat:
Mit jemandem geboren zu sein, der mein Fühlen und Erinnern teilte,


mein Fühlen und meine Erinnerung



Da weiß ich noch nicht, was mir besser gefällt. Aber eigentlich hast Du recht, das Erinnern ist ja der Vorgang.


Auf oder in? Klischee? Schaute ich wirklich in die Kaffeetaste?



„Ich“ schaut wie alle anderen auf den Platz vor sich, dort steht der Kaffee .. mal schauen ;-)

Das Ende ist ein - ich nehme an: gewollter - Erzählbruch. Ich finde die Überleitung vom Haupterzählzeitraum zum späterem (rückblickenden) Erzählzeitraum zu viel später schwach. Würde den ersten Satz letzter Absatz streichen, weiter mit: Ich ahnte, dass es mir leichter fiele, Mutters Tod zu akzeptieren als die Umstände Anders’ Rückkehr. Und weiter wie gehabt.



Der Bruch ist gewollt, klar. Über die Überleitung wird ich mal nachdenken, das ist mir nicht aufgefallen.

Herzlichen Dank und liebe Grüße
Max

Max

Beitragvon Max » 21.01.2007, 15:21

Liebe Klara,

mir beim Bearbeiten aufgefallen, dass ich immer noch nicht alle Deiner Änderungen kommentiert habe. Ich habe fast alles von den unkommentierten sachen übernommen, mit Ausnahem mit der Vergangenheit in Form von Bügelbrett und Klapprad, bei dem es mir schwer fällt eine Auswahl zu treffen.

Merci
Max

Klara
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Registriert: 23.10.2006

Beitragvon Klara » 21.01.2007, 15:24

Hallo Max,

ich erwarte nicht, dass du meine Kommentare kommentierst, jedenfalls nicht im einzelnen - sonst muss ich ja wieder deine Kommentare zu meinen Kommentaren kommentieren - ad infinitum - HELP! ,-.)

Beim Lesen deiner Antwort ist mir aufgefallen, dass ich hier ungenau gelesen habe:
Mit jemandem geboren zu sein, der mein Fühlen und Erinnern teilte,

- ich las "Erinnerung" und dachte, das grammatische Geschlecht sei falsch (was für ein Wort "grammatisches Geschlecht", da muss ich doch glatt ein gEdicht drüber schreiben ,-) Mein diesbezüglicher Kommentar erübrigt sich somit -

lg
Klara

Max

Beitragvon Max » 21.01.2007, 15:39

Liebe Klara,

ich erwarte nicht, dass du meine Kommentare kommentierst, jedenfalls nicht im einzelnen - sonst muss ich ja wieder deine Kommentare zu meinen Kommentaren kommentieren - ad infinitum - HELP! ,-.)


Nur so bekomme ich es hin, dass es ein Forum gibt, dass sich ausschließlich mit einem einzigen Text von mir beschäftigt ;-)

ich las "Erinnerung" und dachte, das grammatische Geschlecht sei falsch (was für ein Wort "grammatisches Geschlecht", da muss ich doch glatt ein gEdicht drüber schreiben ,-) Mein diesbezüglicher Kommentar erübrigt sich somit -


Lustigerweise ist "Erinnerung" trotzdem genauer.

Liebe Grüße
max

pandora

Beitragvon pandora » 21.01.2007, 18:37

Max hat geschrieben:@Pandora: Meine Interpretation wäre die, dass Anders heimkehrt als ein (partielles) Eingeständnis seines eigenen Scheiterns, als eine Einsicht - also eher b als a. Nur schade, wenn der Leser diese Einsicht in die Einsicht nicht gewinnt ;-)


lieber max,

ich finde, dass die geschichte beide einsichten "hergibt". :blink2:

lg
peh


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