wohin aber gehen wir

Der Publicus ist die Präsentationsplattform des Salons. Hier können Texte eingestellt werden, bei denen es den Autoren nicht um Textarbeit geht. Entsprechend sind hier besonders Kommentare und Diskussionen erwünscht, die über bloßes Lob oder reine Ablehnungsbekundung hinausgehen. Das Schildern von Leseeindrücken, Aufzeigen von Interpretationsansätzen, kurz Kommentare mit Rezensionscharakter verleihen dem Publicus erst seinen Gehalt
scarlett

Beitragvon scarlett » 15.01.2008, 14:52

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 15.01.2008, 16:36

Ich komme hier gerade vorbei und habe nicht genug Zeit für diese Rubrik (speichere es mir aber), aber der Titel springt mich sofort an: absichtlicher oder unabsichtlicher Verweis auf Bachmanns "REklame" ( http://home.bn-ulm.de/~ulschrey/literat ... klame.html ) ?, die erste Zeile lautet wie der Titel hier und geht es dort um die Kritik von konsumgesellschaftlicher Einsamkeit innerhalb eines infaltrierten Traumes, so geht es hier zwar eher um die Frage zwischen zweien, aber der Ton scheint doch ein analoger. Es ist allerdings die Frage, ob ein Text sich gegenüber der Bekanntheit und Schmetterkraft der Bachmannschen Zeile behaupten kann - denn Bachmanns Verweis geht einen doch schon ziemlich an; schwierig hier für die Texte "sich einander zuzuwenden", wie ich finde.
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Sam

Beitragvon Sam » 21.01.2008, 21:33

Jetzt, wo die Bachmann von Lisa erwähnt wurde, liegt es nahe, einen Vergleich anzustellen. Allerdings macht eine gleichlautende Eingangszeile noch kein Zitat.
Ich jedenfalls habe immer das Bedürfnis, die "Reklame" ohne die kursiven Einwürfe zu lesen. Und so gerne ich die Lyrik von Ingeborg Bachmann mag, so sind die Eingangsworte von Scarletts Gedicht von wesentlich größerer Sogkraft. Danach trennen sich, meiner Meinung nach, beide Gedichte, ohne sich einander nochmals zuzuwenden. Einmal ins Gesellschaftliche (Bachmann) und ins Private (Scarlett). Bachmanns Gedicht hat es von da an leichter, weil man es müheloser
einordnen und auch interpretieren kann. Das mag auch daran liegen, dass Bachmanns Gedicht offen endet, mit einer Frage:

was aber geschieht
wenn Totenstille
eintritt


In Scarletts Gedicht dagegen gibt es eine klare Aussage:

blind tasten wir uns durch
die splitterschrift will
enträtselt sein


Splitterschrift - das könnte durchaus auch ein bachmannsches Wort sein. Allerdings eher eines, welches sie in einem Prosatext verwendet hätte. In ihren Gedichten hielt sie sich, soweit ich mich erinnere, mit solchen Wortschöpfungen eher zurück.

Gerne bleibe ich noch bei diesen letzten Worten, denn sie gefallen mir besonders gut. In der Wortfolge: "splitterschrift will enträtselt sein" wird nämlich sehr sparsam mit Vokalen umgegangen, was das Zersplitterte wie das Rätselhafte besonders unterstreicht.

Ich picke mir ja gerne Rosinen heraus. Deswegen verkürzt sich meine Verzückung auf die Zeilen:

wohin aber gehen wir
mit dem gepäck lauwarmer nächte
wo legen wir sie ab
die steine langer jahre


Das sind zugegeben alltägliche Fragen. Aber wunderbar lyrisch formuliert.

Sam

Mucki
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Beitragvon Mucki » 21.01.2008, 22:58

Mich nehmen die Melodie dieses Gedichtes und die wunderbar gesetzten Umbrüche voll in den Bann. Als Leser "irre" ich mit, höre "der eule ruf", sehe die "dunkelheit".
Ein großartiges Gedicht, das sehr in mir nachhallt. Ich kann gar keine Rosinen herauspicken, weil es für mich alles Rosinen sind.
Saludos
Mucki

Gast

Beitragvon Gast » 22.01.2008, 19:31

... mit dem Gepäck lauwarmer Nächte

Mich überzeugt dieses Gedicht nicht vollends, und das hat nichts mit einer gewissen Anlehnung an den Bachmanntext oder damit zu tun, dass hier eine allgemeine gesellschaftskritische Ebene fehlt, die dem Bachmanntext eigen ist.

Ich habe Fragen, deren Antworten für mich jedoch zum grundsätzlich Verstehen dieses Textes nicht unwesentlich sind.

(Manchmal hift das Aufschreiben, um Dingen auf den Grund zu kommen, deshalb versuche ich es).

Beim Lesen des 2. Satzes der ersten Strophe (mit dem gepäck lauwarmer nächte) frage ich mich, was ich mir darunter vorzustellen habe. Lauwarm ist weder kalt noch heiß, nicht einmal warm.
Was also könnte an einer solchen lauwarmen Nacht so beschwerlich sein, woher das Gepäck? Oder warum "lauwarm"?

Bei mir stellt sich hier kein Bild ein. Meine Vorstellung bleibt verschwommen. Ich stelle mir vor, dass in lauwarmen Nächten Langweile herrscht, die trübsinnig macht, die nervt. Das reicht mir nicht, um mir vorzustellen, was so belastend sein kann, dass es Vielleicht sogar "Ballast" darstellt.

Der Eulenruf bringt mich nicht weiter, Eulen rufen schon auch in lauwarmen Nächten, aber was bedeutet ihr Ruf?
Verführung würde ich ganz gleich in welche Richtung nicht assoziieren, eher die Ansage, dass Unheilvolles im Gange ist.

In der 2. ist die Rede von den Steinen langer Jahre, die abgelegt werden, wenn der eine letzte die Annahme verwehrt. Da haben wir das „Gepäck“ - was mich seltsam anmutet – aber ich habe auch die nächste Frage:
Wer ist mit „der eine letzte“ gemeint? Beziehe ich dieses auf Stein – wie es die Fortführung des Satzbaus impliziert, komme ich nicht weiter, auch beim intensiven Nachdenken an dieser Stelle stocke ich.

Die dritte Strophe nun, ist sehr offen gehalten und ich kann mich bescheiden, daraus zu lesen, dass möglicherweise gemeint ist, dass niemand weiß was ihn in Zukunft erwartet (die Splitterschrift, die es zu lesen gilt kann dafür stehen).

Mir fehlt ein innerer - und ein Bildzusammenhang.

Anscheinend haben die anderen Kommentatoren keine Schwierigkeiten, die schön gesetzten Worte für sich zu interpretieren.

Ich komme leider nicht dahinter und das bei einem Text, der zunächst für mich gar nicht so schwer zu durchschauen schien.

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 25.01.2008, 16:02

Die Zweistimmigkeit der Einstimmigkeit oder von der Werbung in der Liebe

Jetzt ich nochmal, nach kurzem Vorbeiflug. Ich nehme jetzt auch einmal an, dass der Bachmannbezug absichtlich hergestellt ist. Wenn ich das annehme, dann mache ich folgende Beobachtung: Der Hauptunterschied scheint zu sein, dass Bachmanns Gedicht zweistimmig aufgebaut ist (wobei eine Stimme zum Ende erstirbt) und scarletts Gedicht schon immer einstimmig ist. Es scheint quasi - ich lehne mich an Sams Teilung von Gesellschaftlich und Privat an - Bachmanns Ausgangsposition im Sinne einer Summe in dem Satz "sei ohne sorge" aufzugreifen (sei ohne sorge als Gesamtprinzip welches gesellschaftlich vom Einzelnen gefordert wird) und diesen Synthetischen Satz sich voranzustellen, um dann im Privaten noch einmal zu vollziehen, was auch bei Bachmann passiert.

In diesem Sinne kann scarletts Text intertextuell auch wiederum als zweistimmig gelesen werden, denn es referiert aus dem Privaten an die nächst größere Ebene (Ich - Du --> Menge aller Ichs und Dus' (gesellschaft), indem es die Parallelität zwischen den Anwesiungen einer anonymen Stimme gibt, die längst nicht mehr als wirkliches (sprachlich zu erreichendes) Du vorhanden ist:

wohin aber gehen wir
mit dem gepäck lauwarmer nächte
wenn allein der eule ruf
uns in der dunkelheit
verführt wo

Hier nämlich folgt das Ich keiner großen anonymen gesellschaftlichen (kapitalistisch etc.) Stimme, sondern einer, dessen Inhaber schon längst nicht mehr ein wirkliches Gegenüber für das ich bildet, das ich scheint sich aber dennoch nicht von der Stimme befreien zu können, es scheint nur bis zu der Frage zu kommen, ob dies getan wird:

legen wir sie ab
die steine langer jahre
wenn uns der eine letzte
die annahme verwehrt?

Die Formulierung als Frage zeigt, dass das Ich die Unsinnigkeit (weil kein Ziel /kein Du) mehr erreicht werden kann zwar erkennt, aber nicht weiter als zu dieser Reflexion kommt bzw. die Reflexion nichts zu nutzen scheint - denn man folgt weiter der Stimme, obwohl die Orientierung verloren zu sein scheint:


blind tasten wir uns durch
die splitterschrift will
enträtselt sein


In diesem Sinne finde ich das Verhältnis von Bachmanntext und scarletts Text spannend und interessant ausgearbeitet (dass der Text sich so interpretieren lässt, nicht dass es nur so beabsichtigt sein müsste, meine ich).

Ästhetisch kann ich allerdings in Teilen auch Gerdas Kritik folgen, die Bilder erscheinen mir auch zu verschieden aneinander gefügt und sie scheinen sich mir auch zu überlagern bzw, ihre Bedeutung einander zu berauben : gepäck und dunkelheit, steine (die mich in Bezug auf die Orientierungslosigkeit auch an die Ausgesetzen Hänsel und Gretel erinnern, der Weg "heim" ist nicht mehr auffindbar), dann Blindheit und Splitterschrift (zerrissene /halb geschriebene / nie abgeschickte Briefe?) - das finde ich bildlogisch nicht gut durchkombiniert. Mir würde das Gepäck und die Dunkelheit, vielleicht noch die Steine reichen, mit denen könnte man alle drei Strophen durcharbeiten.

Insgesamt aber trotzdem spannend: Das Du hat sich auf die gemeinsame Werbung in Nächten eingelassen und Wünsche in sich erschaffen, mit dem es nun allein zurück ist und die Anweisungen einer Stimme befolgt, dessen Sprecher es nicht mehr gibt. Auch zu Bachmanns Reklame-Stimme gibt es keinen wirklichen Sprecher (was ja auch die Grausamkeit bedeutet). In diesem Sinne finde ich den Texte für eine Bearbeitung des Stoffes gelungen auf eine andere Ebene heruntergeholt.
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.


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