Zollstock und gepflegte Kleidung

MarleneGeselle

Beitragvon MarleneGeselle » 29.01.2008, 09:43

Zollstock und gepflegte Kleidung

Die Sache ist jetzt über dreißig Jahre her, wäre sie lustig, könnte ich alles in die Anekdotenkiste stecken. Zum Lachen war mir aber gar nicht.

Die RAF wollte das Land umstürzen, Polizei und Grenzschutz waren in Daueralarm, galt es doch, die innere Ordnung aufrechtzuerhalten. Der eine oder andere unter uns erinnert sich wohl auch noch an die Rasterfahndung. An jeder Straßenecke und in jedem Laden oder öffentlichen Gebäude hingen die Plakate.
Und jetzt komme ich, besser gesagt mein Gesicht. Zum Verwechseln ähnlich mit einem Konterfei der am meisten gesuchten Terror-Ladies der Epoche! Unschön!, das kann sich jeder denken. Aber praktischerweise stand unter jedem Bild auch eine exakte Beschreibung, mit Größenangabe! Und damit konnte ich mich aus dem Schneider bringen, denn - Trommelwirbel - die Gesuchte war stolze zehn Zentimeter größer als ich.

Bei den ersten Polizeikontrollen - eine Polizeipistole vor der Nase macht ungeheuer kooperativ - musste ich noch mit Engelszungen die Ordnungshüter überreden, doch bitte etwas genauer hinzuschauen, ihr wisst schon, und meine Daten mit denen auf der Fahndungsliste abzugleichen. Je nach Einsichtsfähigkeit der Herren ging das entweder an Ort und Stelle oder ich musste mit auf die Wache. Ernsthaft klagen darf ich aber nicht. Jedesmal, egal wie knapp die Leute mit Personal waren, wurde ich anschließend bis vor die Haustüre zurückgebracht oder wo immer ich hin wollte. Servicewüste waren wir damals noch nicht.

Nach zirka vierzehn Tagen war ich das Spielchen gründlich Leid. Mein Stammfrisör verpasste mir eine Rundumerneuerung, ein großer Teil meiner Schlamperklamotten musste in den Müllsack, ich besorgte mir eine von den großen Omahandtaschen und - zweiter Trommelwirbel - einen Zollstock. Das jeweils aktuelle Fahndungsblatt lag immer noch überall aus zum Mitnehmen. Jetzt wurde ich zwar nur noch gelegentlich gefilzt, aber das dauerte jeweils nur noch drei bis vier Minuten, ohne dass ich mit auf die Wache musste.

Ihr hört, mittlerweile kann ich drüber lachen. Aber wenn Identität das ist, was der Zollstock anzeigt - ich weiß nicht so recht. Kann doch nicht jeder und immer und überall mit einer Omatasche rumlaufen.
Zuletzt geändert von MarleneGeselle am 01.02.2008, 10:17, insgesamt 1-mal geändert.

scarlett

Beitragvon scarlett » 29.01.2008, 10:13

Klasse, Marlene ... Köstlich und tiefgründig gleichermaßen!

Sehr gerne gelesen.

LG,
sca

Gast

Beitragvon Gast » 29.01.2008, 14:21

Liebe Marlene,

ich habe das ganz gern gelesen obwohl es letztlich auf eine Anekdote hinausläuft. ;-)

Ich finde allerdings, dass es weniger um Identitässuche geht, als um "Identifiezierung", wenn ich es richtig verstanden habe.
Insofern würde ich meinen, dass das Thema nicht getroffen ist.
Die Identität, deiner Protagonistin ist ja von den Verdachtsmomenten unangetastet geblieben.

Liebe Grüße
Gerda
Zuletzt geändert von Gast am 30.01.2008, 09:32, insgesamt 1-mal geändert.

Jürgen

Beitragvon Jürgen » 29.01.2008, 23:30

Hallo Marlene,

heutzutage ist es sicher eine Anekdote, und eine gut geschriebene dazu. Da geht der Leserdaumen nach oben.

Nur bei einer einzigen Stelle hätte ich einen Vorschlag:

ein großer Teil meiner Schlamperklamotten mussten in den Müllsack


"Mussten" geht durchaus. Für Die Ich-Erzählerin mussten sie wohl tatsächlich in den Müll, ging es doch darum, nicht ständig mit einer Terroristin verwechselt zu werden. "Wanderten in den Müllsack" klingt für mich aber lebendiger. Müssen klingt schnell steif.

Ansonsten schöner Text, der mehr offen lässt als er, glaub ich jedenfalls, eigentlich will. Man erfährt z. B. nicht, ob die Ich-Erzählerin es bedauert oder darunter leidet, ihre Klamotten unter Druck von außen wegzuwerfen. Das würde auch mehr zum Monatsthema passen, man könnte den Punkt ausarbeiten, aber so ist der Text für mich auch schon gut.

Schönen Abend

Jürgen
Zuletzt geändert von Jürgen am 30.01.2008, 00:07, insgesamt 1-mal geändert.

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Beitragvon Zefira » 29.01.2008, 23:52

... ähm ... "ein großer Teil" ist Singular, also muss es entweder "musste" oder "wanderte" heißen. Nur mal so angemerkt ...

Übrigens kann ich mir unter einer "großen Omatasche" nichts Richtiges vorstellen ... gab es in der damaligen Zeit ein charakteristisches Design? Ich persönlich empfinde kleine Handtaschen irgendwie als biederer (am biedersten sehen für mich die aus, in die man gerade mal das tun kann, was genauso gut in die Mantel- oder Hosentasche passen würde), aber ich urteile auch von der Gegenwart aus.

Gern gelesen.
Gruß von Zefira
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

Jürgen

Beitragvon Jürgen » 30.01.2008, 00:09

Stimmt Zefira,

wie peinlich :eusa_whistle:

Jürgen

MarleneGeselle

Beitragvon MarleneGeselle » 01.02.2008, 10:16

Hallo Ihr Lieben,

vielen Dank für eure Kommentare.

Identifizierung oder Identität?? Das ist eine gute Frage. Wenn man von heute auf morgen nicht mehr ohne Weiteres der- oder diejenige sein kann, die man gestern noch mit der größten Selbstverständlichkeit war, ich denke, dann geht es auch ein Stückchen an die Identität.

@Zefira: Die jüngeren Frauen benutzten damals kleinere Taschen, buntere auch, als ihre Mütter und Omas. Die trugen immer die "Praktischen". Mit Zollstock oder Taschenschirm benötigte man da ein größeres Modell. Den Tippfehler ändere ich gleich.

@Jürgen: Mit dem "mussten" wollte ich den Zwang zum Ausdruck bringen, der herrschte.

Nochmals meinen Dank.

Marlene


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