Jedes Wir bricht sich am Tag

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 04.11.2006, 21:09

Bitte gerne harte, auch detailkritische Kritik(!), da erste Geschichte abgesehen von der Erzählung, die mich seit Jahren quält :-), aber am Leben lassen

Jedes Wir bricht sich am Tag

Ich lernte Martha in einem Supermarkt kennen. Sie wählte unter einer Vielzahl zu harter Avocado eine beliebige. Den Einkaufskorb aus Plastik hatte sie über ihren Unterarm gehängt, es war nicht viel darin. Als sie zur Kasse ging, stellte ich mich hinter sie und rückte dicht an sie heran. Sie bemerkte es nicht. Da ich nichts eingekauft hatte, sah es so aus, als gehörten wir zusammen, als seien wir eines dieser vielen Paare, die sich nichts zu sagen haben. Ich ließ es mir gefallen. Warum auch nicht? Wenn man ehrlich ist: Wirklich anders wird es nie.
Martha bezahlte und ich ging mit den Händen in den Taschen neben ihr her. Draußen dann, sie hatte keine Tüte dabei, nahm ich ihr zwei Flaschen ab. Beides trüber Apfel. Ihre blassblauen, wässrigen, fast durchsichtig scheinenden Augen schauten mich an als schwebte ihnen etwas vor. Mein Atem verfing sich in ihrem Weizenhaar. Es war Winter.

Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, das mit den Frauen sein zu lassen. Mit zweien hatte ich es bisher versucht, beide waren mir zu Grunde gegangen. Ein paar falsche Stunden, eine lange Qual und am Ende steht man da und weiß nichts zu sagen.

Da war Helene, klug und zurückhaltend, oleanderweiße Haut – Medizinertochter! Ich lernte sie noch an der Uni kennen, ein einziges Klischee. Es lief eine ganze Weile gut mit ihr, wir verbrachten viel Zeit zusammen. Auch Helene ging lieber in den Stadtpark als zu Studentenpartys oder in irgendwelche Clubs. Die Bucheckern knackten unter unseren Füßen und goldene Hunde bellten die Eichhörnchen auf die Bäume. Helene ging nicht mehr zu ihren Arbeitsgruppen, zog um meinetwillen sogar von Zuhause aus. Wir schliefen jede Nacht beieinander, so konnten wir uns noch mehr aneinander gewöhnen und schon bald vermisste sie es nicht mehr, an den Sonntagen zu ihren Eltern rauszufahren, um aufgetauten Rhabarberkuchen zu essen.
Es lief alles wirklich gut, wäre da nicht Helenes kleine Schwester gewesen. Helene war ganz vernarrt in diese kleine, blasse Madame und ertrug es nicht, dass ich gegen ihre Besuche war. Mir ging sie einfach auf die Nerven. Ich konnte es nicht ertragen, wenn sie sich mit ihrem Haargummi zwischen den Fingern auf dem Bett ausstreckte, in dem Helene und ich uns noch vor einer halben Stunde geliebt hatten oder – schlimmer noch – es in einer halben Stunde tun wollten. Sie roch nach Kaugummi, sie war trotzig, wenn sie etwas nicht bekam, musste abends nachhause gefahren werden. „Es vertreibt mir die Lust an dir“, sagte ich.
Helene verschränkte die Arme vor ihrer bloßen, etwas zu runden Brust und schaute an mir vorbei.
Ich kaufte Helene einen Hund, sie hasste ihn. Mich konnte sie ja nicht hassen. Sie ging kaum raus mit ihm, er kackte in die Wohnung. Nach ein paar Tagen lief er weg, kam unters Auto. Ich seufzte, sagte, wenn es denn nicht anders ginge, solle sie ihre Schwester eben zu uns holen. Sie fing an zu schluchzen, später rief sie bei ihren Eltern an, nach zwei Stunden hatte sie ihren Vater so weit. Ihre Hand lag noch mehrere Minuten auf dem Telefonhörer, ihr Gesicht war voller roter Flecken.
Gleich am nächsten Wochenende zog ihre Schwester bei uns ein, sie war nicht einmal besonders unordentlich, versuchte nicht allzu anhänglich zu wirken, Helene hatte sicher mit ihr geredet. Einmal, als ich von der Uni kam, Helene war noch nicht zuhause, hatte sie Lasagne für mich gemacht. Der Käse war schon längst wieder hart geworden, pappig, aber sie hielt mir meinen Teller wie ein großes Geschenk vor die Brust. Ich nahm ihn und sie versuchte, sich kokett die Hände an der Küchenschürze abzuwischen und schaute mich einen langen Moment an. Sie hatte schon einmal mit einem Jungen geschlafen, das wusste ich, Helene hatte es mir erzählt. Ihre Wangen hatten geglüht, als erzählte sie von sich. So gab ich nach, ließ den Teller auf den Boden fallen, um uns beide zu erschrecken, drängte sie gegen den Kühlschrank. Sie hatte noch Tomatenmark auf ihrer Nase mit diesem matten Leberfleck, der sich am linken Flügel versteckte, den sie von ihrem Vater hatte und den sie so hasste. Ich strich es weg, fuhr ihr den Hals entlang, legte das schwarz gefärbte Haar zu Seite und küsste die weiße Haut.
Ein paar Tage später schlief ich mit ihr, auch in den nächsten Wochen noch ein paar Mal, es war reizend, aber mehr auch nicht.
Als Helene davon erfuhr, biss sie sich die Lippen weiß. Es hätte seit einer Weile auch andere Frauen gegeben, nicht nur ihre Schwester, sagte ich leise, um es einfacher, weniger inzestuös für sie zu machen. Aber sie hörte es nicht. Es hätte nichts genützt, davon anzufangen, dass ich es ihr ja gesagt hatte. Helene zog zurück zu ihren Eltern, dort wohnt sie heute noch, ihre Schwester nicht.

Bei Kate dann baute ich vor. Erzählte mir Geschichten, um mich emotional an sie zu binden. Am Morgen bevor ich sie traf, ich stand gerade unter der Dusche, hatte sich plötzlich die Frequenz des Radios verschoben und eine andere Stimme übertönte den eigentlichen Empfang. Es rauschte stark und ich verstand nur „Kiss [...] Kate, heute am [...] Hafen [...]“. Ich stellte das Wasser ab, griff nach dem Handtuch – die Frequenz verlagerte sich wieder zurück. Das mit Helene war schon ein halbes Jahr her, ich war der leeren Zimmer müde. So kam mir die Idee, mit dieser Geschichte im Rucksack in die nächstbeste Stadt mit Hafen zu fahren, um mir dort eine Frau zu suchen, die ich Kate nennen würde. Ich zog mich an und fuhr nach Duisburg. Mit dem Hafen nahm ich es freilich nicht so genau, mir reichte es, dass Duisburg einen hatte, das war mir Romantik genug, und so ging ich in den Zoo. Ich mag Tiere nicht besonders, aber ich war mir sicher: Eine Frau, die man dort alleine antrifft, hat sicher keine Kinder.
Kate stand vor dem Gepardengehege. Wie alle Tiere im Zoo machten die Geparden gar nichts, lagen nur da, ab und an ging ein Zucken durch ihre gefleckten Schwänze. Kate, die eigentlich Ina hieß und es später hassen sollte, wenn ich sie Kate nannte, jetzt aber noch nicht, schaute durch das Gitter auf ihre prallen Bäuche. An der einen Hand baumelten ihre weißen Absatzschuhe, in der anderen Hand hielt sie ihre Handtasche, aus der eine Mappe herausschaute.
Sie sah auf ihre nackten Füße, als ich ihr und mir die Geschichte mit dem Radio erzählte, behauptete, dass ich sie heute küssen müsse. Wir schlenderten umher, ich nannte sie Kate, sie lachte und die Paviane schrieen. Abends schlenderten wir an Containerschiffen entlang, ihre weißen Schuhe leuchteten vom Licht rosé. Ich küsste sie und sie ließ sich küssen. Ich übertrieb es, ließ mich hinreißen, schenkte ihr eine Kette mit einem kleinen, silbernen Steuerrad als Anhänger, doch sie merkte nichts und – ich gebe es zu – auch mir gefiel es.
Bei aller Vorsicht hatte ich aber vergessen, dass eine kinderlose Frau unter einem gewissen Alter, einzig noch keine Kinder hat.
Ich sagte ihr, dass ich keine Kinder wolle, dass ich es nicht ertragen könnte, sie nicht ganz für mich zu haben, weil sie dann nicht rein sei, weil dann alles voller fremder Düfte und geteilter Zeit wäre, weil dann alles stänke, weil dann alles davon ränne. Dass es für mich zwingend notwendig sei, zu wissen, dass sie wirklich da sei, wenn sie bei mir wäre. Und dass dies nur ginge, wenn sie außer mir niemanden und nichts hätte. Dass ich ihre Malereisache nur aus gutem Willen ertrüge. „Ich möchte so tief in dich hineinblicken, dass ich durch dich hindurchschaue“, flüsterte ich, als ich in sie eindrang, und erschrak sie mit diesem Satz auf eine Weise, auf die sich nur Frauen erschrecken lassen und worauf ihre Liebe nicht etwa weniger, sondern, wenn auch auf eine spröde Art, stärker wird als zuvor.
Kate versuchte zäh zu sein, doch sie stand unter enormem Druck, malte ihre Bilder nicht fertig, saß verheult auf dem Sofa. Bei einem gemeinsamen Essen mit Freunden von Kate, zu dem sie mich überredet hatte, verlor sie dann vollends die Fassung, als ich der Gastgeberin die Hand auf die Schulter legte und sagte, wie umwerfend sie an diesem Abend aussehe. Es war in erster Linie charmant gemeint und auch nicht das erste Mal, dass ich so etwas zu anderen Frauen sagte, obwohl jene an diesem Abend wirklich ungewöhnlich schön aussah, aber Kate ließ das Besteck klirrend auf ihren Teller fallen, nahm ihre Serviette von ihrem weißen Rock auf, putzte sich damit den Mund ab, schluckte und sagte gepresst: „Sie ist schwanger, Jan. Es wird daran liegen, dass sie schwanger ist – Jan“.
Bedrücktes Schweigen. Kate stand auf, riss ihre Tasche vom Boden, deren Riemen aber hatte sich um das Stuhlbein gewickelt. Kate kam nicht los, zerrte weiter an der Tasche, Lippenstift, Kugelschreiber und allerlei Kram fielen heraus. Zuletzt rollte ein Tampon auf den Tisch und blieb im Kerzenschein liegen. Kate hörte auf zu zerren, ließ die Tasche los, rannte aus dem Haus in den Schnee. Ich entschuldigte uns, holte sie mit dem Auto ein, fuhr mit vom Frost blinder Windschutzscheibe neben ihr her, kurbelte das Fenster runter, sie schaute steif auf die Straße. „Wir sind hier doch nicht in einem scheiß Film“, brüllte ich.
Kate blieb stehen, sah mich an, ihr Gesicht schien in alle Richtungen verweht. Doch dann ging ein Ruck durch ihren Körper. „Stimmt, dann würde es ja regnen“ , sagte sie, lächelte mich an und stieg ein.
Sie hatte sich zurückgeholt, war wieder im Spiel, beteuerte, wie sehr sie mich liebe und wie leid ihr alles tue. Ich drückte ihren Kopf an meine Brust, meine Hand zitterte von ihren heißen Tränen. Als ich losfuhr, machte sie es mir. Ich wehrte mich nicht, schaute auf die gefrorene Windschutzscheibe. Nach und nach, Stück für Stück verschwand die dünne Eisschicht. Dabei bildeten sich jeweils für einen kurzen Augenblick sternförmige, verästelte Ränder, wodurch es so aussah, als zöge sich die Eisschicht nur zurück. Doch als ich kam, war nichts mehr von ihr übrig. Ich gab Gas, mit Kate und meiner Scham über sie an meiner Seite und doch ganz fern von beiden. Ich war es, der in Wahrheit draußen stand, ich war es, der auf ihren Satz nicht eingestiegen war, denn er galt nicht mir, sondern sich und den anderen. Ich nahm sie in den Arm. Es war vorbei.
Und so nahm es ein ähnliches Ende wie mit Helene, nur, dass ich Kate noch schneller aufgab. Hatten meine Geschichten mich auch zunächst sogar selbst an etwas glauben gemacht, so waren sie am Ende doch gerade das, was es erschreckend leicht machte – die ferne Stadt, der falsche Name, der erfundene Kuss. Ich gab sie einem Bekannten, recht primitiv, mit einer merkwürdigen Vorliebe für Shrimps, aber liebesbereit. Kate lag eigentlich außerhalb seiner Reichweite, aber Kate war müde, alles Übrige bekam ich hin. Wenn ich die beiden heute treffe, isst er seine Krabben, sie hat sich angepasst, schlürft Austern und quietscht vor Vergnügen. Bis heute behauptet sie vor allen, ich hätte sie an meinen besten Freund verloren. Bis heute hat sie keine Kinder. Aber da er nichts dafür kann, seine Hoden sind Schuld, muss sie bei ihm bleiben.

Als ich jedoch Martha sah, da fiel es mir schwer, sie mir zu verbieten. Sie war schön, sehr schön, und ich war unvorbereitet, hatte lange keine Frau mehr gehabt. Ich bekam sie nicht gleich, das gefiel mir, aber alles in allem doch recht schnell. Sie roch nach Zimt, ihr Haar war golden und Kinder waren ihr gleichgültig. Sie hatte auch keine Freunde in der Stadt. Weder, weil sie besonders wählerisch war, noch weil sie seltsam wirkte oder dergleichen, sondern weil ihre Familie, als sie noch sehr klein war, nach Griechenland ausgewandert und sie erst vor Kurzem zurück nach Deutschland gekommen war, um eine Arbeit in einem Übersetzungsbüro anzunehmen.
Alle Freunde fanden sie umwerfend, sie bezauberte einen nach dem anderen, ohne dabei frivol oder anbiedernd zu wirken, immer wirkte sie schlicht und, ja – schön. Ich hatte nichts an ihr auszusetzen, gewöhnte mich an sie, liebte sie. Sie war gleich einverstanden, als ich vorschlug, uns eine gemeinsame Wohnung zu suchen. Die Möbel waren noch nicht da, als wir einzogen und uns in jedem Zimmer liebten, um die Wohnung einzuweihen. Meine Knie waren ganz wund, Martha cremte sie ein und erzählte mir in den Nächten von ihrer Heimat, von kargem Stein und Olivenhainen. Sie erzählte ohne Heimweh, bis ich sie wieder liebte, über ihre Schulter in die Dunkelheit lächelte und ihr am nächsten Tag ein kleines Olivenbäumchen kaufte, worüber sie sich auch sehr freute und es achtsam pflegte.

Ich muss es sagen: Ich war glücklich mit Martha. Was auch der Grund dafür ist, dass ich nicht genau weiß, wann es anfing. Ich weiß nur noch, irgendwann meldete ich mich aus dem Nichts heraus eine Woche lang krank, studierte den Lichteinfall in der Wohnung zu den verschiedenen Tageszeiten, zog die Rollläden herunter, stellte sie auf halb durchlässig, zog die Vorhänge davor und wieder zurück, die Rollläden wieder hoch und so fort. Wenn Martha kam, sagte ich „Setz dich da oder dorthin, jetzt hier, nein, ein bisschen nach links“ und sie machte es genau wie ich es sagte. Hatte ich eine richtige Stellung gefunden, durfte sie sich nicht bewegen und ich schaute sie an. Ihr machte all das nichts aus und wenn sie aufstehen durfte, goss sie das Olivenbäumchen, gab mir einen Kuss oder machte irgendetwas anderes Kleines; sie war ruhig mit mir. Nach ein paar Tagen nahm ich die Kamera und photographierte sie. Durchgeschwitzt brach ich nach einiger Zeit ab, brannte die Bilder auf CD und hastete aus der Wohnung.
Ich wählte ein einziges Bild aus und ließ es großformatig auf Pappe ziehen. Das Ganze dauerte zwei Tage, ich ließ mich in dieser Zeit nicht zuhause blicken. Mit dem Bild unter dem Arm klingelte ich an unserer Wohnungstür. Martha machte nicht auf, ganz so wie ich es ihr eingeprägt hatte. Sie ging niemanden etwas an. Ich nahm die Schlüssel und stieg die Treppe zur Wohnung hinauf, überlegte, ob sie vielleicht einfach nur nicht da war. Doch Martha kam mir gleich entgegen. Sie wirkte beunruhigt, aber ihr Gesicht verstand mich, verstand mich wirklich, war ganz bei mir. Sie hatte nicht herumtelefoniert, ob jemand mich gesehen hätte, hatte ihren Kummer nicht unter Freunden verteilt wie bittersüße Pralinen, hatte nicht ihre Empörung verkündet, als erlebe sie nun genau die Geschichte ihres Lebens, welche die Anschaffung eines Tagebuchs wert war, hatte dies alles nicht getan, obwohl ich ohne ein Wort zwei Tage fort gewesen war. Gott, wie ich sie liebte.
Ich hängte das Bild an die große Wand gegenüber dem Esstisch. Martha setzte sich auf einen der Stühle und schaute es an.
Es sah aus wie ein Schwarz-weiß-Bild, war aber keines. Es zeigte Martha vor den Fenstern im Wohnzimmer. An dieser Stelle hatte schon vor unserem Einzug ein Mobile aus Glassteinen von der Decke gehangen, wir hatten es nie abgenommen. Die Rollläden waren im Moment der Aufnahme bis auf eine Stelle ganz geschlossen gewesen. Auf mittlerer Höhe hakten sie etwas und hingen dadurch schief, wodurch einzelne Lichtstrahlen durch die verbliebenen Ritzen fallen konnten. Martha hielt ein paar von den Glassteinen ins Licht und es brach sich auf die eine Hälfte ihres Gesichts, das ansonsten völlig im Dunkeln lag. Auch einzelne Strähnen ihres dicken Haars waren in Licht getaucht und schimmerten dem Betrachter entgegen.
Das Bild war sehr schön, aber es hatte nicht viel mit Martha zu tun, die auch sehr schön war. Es zeigte eine Welt, die es nicht gab. Martha dagegen war ganz wirklich. Ich spürte ihre warmen Hände, sah ihr zu, wie sie vorm Fernseher Schwarzbrot mit Radieschen aß oder in halb hochgezogenen Nylonstrumpfhosen umherhüpfte. Ach, Martha war auch ganz anders als Helene, auch ganz anders als Kate. Morgens schaffte sie es, sich auf eine Art zur Arbeit zu verabschieden, als ginge sie gar nicht und wenn ich aufstand, so war es mir, zwar nur fast, aber eben immerhin, als sei sie noch da. Ich musste sie nicht zurückhalten. Und wenn ich ihr sagte: „Bitte, lass uns heute einmal nicht ans Telefon gehen“, dachte sie nicht wie Helene an ihre Schwester und auch nicht wie Kate, dass schon lange keiner mehr anrief.
Nein, Martha schaute mich an, mit ihren blassblauen, wässrigen, fast durchsichtig scheinenden Augen und sagte: „Ja, Jan, so wollen wir es heute machen“ und meinte dies genau so wie sie es sagte. Es war kein Kompromiss, es war kein Opfer, es war auch keine Furcht. Martha war nicht eine dieser Frauen, die unter Blutarmut zu leiden scheinen, bei aller Zartheit war sie sehr warm, sehr voll und sehr kräftig. Martha litt keinen Mangel mit mir.

Manchmal wachte ich nachts auf und sah sie daliegen. Ich drängte mich nicht an sie, weckte sie nicht, um sie zu lieben, wie ich es mit Kate und Helene getan hätte, sondern schaute sie nur an und horchte auf ihren Atem. Manchmal weinte ich in ihr Haar.
Sie war bei mir, ganz bei mir. Aber Martha war eben trotzdem jemand anderer, war nicht ich. Ich wollte natürlich auch gar nicht, dass sie ich war. Das hieß aber auch, dass ich niemals ganz in sie hineinblicken konnte. Und wenn es, so lächerlich es auch klingen mag, aber so war es eben, nur ihre Organe waren, die mich daran hinderten.
Ich hielt es nicht aus. Ein paar Tage später fragte ich sie, ob ihr das Bild gefiele. Sie sagte, dass sie es etwas groß fände, so wie es da gegenüber dem Tisch hinge und jeder, der hier säße, es sehen könne, das beschäme sie, aber es sei ein sehr schönes Photo, ihr gefiele das Licht. Ich drückte meinen Daumen in die fettige Gabel und sagte: „Ich habe es so groß gemacht, weil du auf dem Bild genau so aussiehst, wie du mir gefällst“. Martha holte mir ein Pflaster.
Dann ging es wieder, doch nur für ein paar Wochen. Eines Abends lagen wir im Schlafzimmer, das Licht war schon ausgeschaltet und der Mond schien aufs Bett. Da fiel mir das verdammte Mobile ein und ich sagte, ich wolle es morgen hier im Schlafzimmer über dem Bett befestigen und das Licht von den Steinen auf ihr Gesicht fallen lassen, damit sie endlich einmal wieder so schön aussehe wie auf dem Photo. Martha sagte nichts, aber ich hörte an ihrem Atem, dass es lange dauerte, bis sie einschlief. Ich spürte in meiner Brust unsagbaren Gram.
Am Morgen machte ich Frühstück für sie und weckte sie sacht mit der Vorstellung in meinem Kopf, dass alles gut werde, risse ich mich nur zusammen. „Reiß dich zusammen, Jan“, sagte ich mir. „Hm?“, fragte Martha und setze sich müde an den Esstisch.
Ich liebte es, wie sie morgens gleich nach dem Aufstehen aussah. Nicht wegen ihrer zurück erschlummerten Kindlichkeit, nicht für ihren Winterduft, ihr samtenes Haar oder ihren blauen Blick, so wie das alle Männern an ihren Frauen lieben. Sicher auch dafür, aber worum es mir eigentlich ging, war etwas anderes: Nur ich wusste, wie sie überhaupt in diesem Moment aussah, nur ich konnte es sehen und wenn sie aus dem Haus ging, darauf achtete ich genau, war sie eine ganz andere, eine, die mich nichts anging und der fremd war, die ich vermisste. Ich rang damit, wie ich ihr davon erzählen könnte, um gestern wieder gut zu machen, doch sie wusste all dies ja schon in ihrer Liebe und überhaupt gab es kein Wort, das die Zeiger des tickenden Weckers im Schlafzimmer nebenan hätte aufhalten können - jedes Wir brach sich am Tag.
Der Gram kam wieder hoch, stieß in mir wie ein Kolben unaufhörlich auf und ab. Ich starrte auf das Bild. „Es würde sich gut im Schlafzimmer machen“, sagte ich ruckartig. Martha verschluckte sich am Brot, ihre Hand lag weißgepresst auf der Tischdecke. „Es ist genug, Jan“, hustete sie und lief ins Bad.
Ich hörte sie weinen und mein Herz pochte mir bis in den Hals, doch es war gut. Gleich würde sie gehen, gleich müsste ich den Augenblick nicht länger fürchten, gleich war er da.
Als sie fort war, weinte auch ich etwas. Das weiche Sofapolster knisterte und ich erwog ein Bad zu nehmen und mich zu ertränken, dachte daran, dass meine Leiche dann wahrscheinlich ins Badewasser pissen würde und überlegte, ob man es sehen würde, ob es zum Standard gehöre, in solchen Fällen eine Wasserprobe zu nehmen. Dann saß ich wieder am Tisch und starrte das Bild an. Irgendwann riss ich es von der Wand und brachte es in den Keller.

Als Martha nachhause kam und sich das Make-up aus dem Gesicht entfernt hatte, setzte sie sich zu mir aufs Sofa. „Das Bild ist fort“, sagte ich erschöpft.
Hätte ich es bis zu einem „weil“ geschafft, hätte ich es geschafft, irgendein Etwas anzudeuten, hätte ich es nicht so weit treiben können, dass sie mir meine Grausamkeit glauben musste.
Martha strich mir übers Haar, mir wurde schlecht davon, so wund war ich von ihrer Liebe. Ich liebte sie zweimal. Später, im Bad, übergab ich mich. Meine Beine zitterten, als ich mit der Zahnbürste im Mund in dem kleinen, staubigen Spiegel über dem Waschbecken die leere Badewanne sah. Ich ließ Wasser hinein, stieg ein und rief Martha, sie solle auch kommen. Sie lachte durch den Türspalt, es dauerte nur einen Moment, schon war sie im Wasser. Ich blies ihr Schaum auf die Brüste, nannte sie mein warmes Himalaja-Gebirge, wusch ihr das Haar und trug sie nass ins Bett, legte mich dazu und noch bevor die ersten Tropfen verdunsteten, waren wir eingeschlafen.

Doch in der Nacht wachte ich auf, fror jetzt so ohne Decke. Ich schaute auf den Wecker. Zehn vor drei. In drei Stunden musste Martha aufstehen. „Martha. Martha, wach auf“, flüsterte ich und sie drehte sich zu mir herum. „Du musst deinen Job kündigen. Ich ertrage es nicht länger, dass du zur Arbeit gehst, ich -, ich schaff das nicht“.
Martha nahm mein Gesicht in ihre warmen Hände. „Wenn es das ist“, sagte sie und weinte kurz, „wenn es nur das ist. Gleich morgen gebe ich im Büro Bescheid“.
„Versprichst du es?“, fragte ich in die Dunkelheit.
„Ja, ich verspreche es“.
Ich nahm ihre Hand und legte sie auf meine bloße Brust. Es tat so gut, sie war so nah. Doch kaum war Martha wieder eingeschlafen, begann die Berührung zu schmerzen, brannte meine Haut als lägen Nesseln darauf.
„Martha, wirst du dir morgen die Haare von mir abschneiden und rot färben lassen und nicht mehr aus der Wohnung gehen, damit dich keiner mehr erkennt, wenn du auf die Straße gehst?“.
„Meine Haare sind mir gleich, mach mit ihnen, was du magst. Wenn du sie anders haben möchtest, trage ich sie gern so“, nuschelte Martha schläfrig und schlief weiter.
Ich hielt es nicht mehr aus, meine Haut unter Marthas Hand – der Schmerz brannte sich tiefer und tiefer ein, ich atmete flach um das Stechen zu vermeiden, wand mich hin und her, dann ging es nicht mehr. Ich warf ihren Arm zur Seite und schrie: „Martha, ich gehe jetzt in den Keller und hole mir vor dem Bild einen runter“.
„Was?“ Martha schreckte hoch.
„Wenn du in einem scheiß Rollstuhl sitzen würdest, müsste ich mich zwar auch fragen, ob du dich zu einem anderen denkst, wenn ich dich liebe, aber ich wüsste wenigstens, dass dieser Gedanke niemals wahr werden könnte. Oder zumindest nicht so leicht“.
„Dann brich mir doch die Beine“, sagte Martha und es war das erste Mal, dass ich Spott in ihrer Stimme hörte.
Ich schaltete das Nachtlicht ein. „Dazu bin ich nicht in der Lage“, gab ich zurück, setzte mich auf und vergrub den Kopf in meinen Händen.
Martha schwieg. Es verging eine Weile. Ich stand auf, zog mir Hose und Pullover über. „Vergiss das mit dem Bild. Das Bild bist ja doch du und du würdest dich immer noch zu jemand anderem denken können. Ich fahr jetzt nach Hillegossen, in den Puff, besorg mir irgendeine dickhaarige Blonde, wisch ihr die Schminke aus dem Gesicht. Irgendeine, die dir ähnlich sieht, nur ähnlich hörst du, nicht zum Verwechseln ähnlich. Die fick ich richtig durch, von oben bis unten, und einmal kann ich dann denken, dass sie vielleicht an wen anders denkt, wahrscheinlich an ihren scheiß Zuhälter, an den denken die doch alle, dass das aber verdammt noch mal egal ist, dass es nicht derselbe ist, an den du denken würdest und dass du vielleicht auch an wen denkst, aber dass es eine andere ist, in der ich dabei meinen Schwanz stecken habe. Und sag nicht, dass du an niemand anderen denkst. Denn selbst wenn das stimmen würde, wenn es wahr wäre, würde ich immer noch diesen Gedanken denken können und deshalb denken müssen. Martha – du wirst so fern sein, dass ich dich endlich lieben kann“. Ich zog mir noch meine Jacke über und verließ die Wohnung.

Martha glaubte mir. Und sie hatte recht damit. Ich ging wirklich zu einer Prostituierten, schlief mit ihr, nannte sie Martina und bezahlte. Martha hat sich vorher noch die Haare abgeschnitten, ich fand sie im Waschbecken, wahrscheinlich hat sie sogar noch im Büro auf den AB gesprochen. Ich weiß genau, wann sie gesprungen ist. Es muss gegen Mittag des folgenden Tages gewesen sein, denn zu diesem Zeitpunkt riss der Himmel auf und der Frühling begann. Ich schaute sie mir nicht noch einmal an, ging auch nicht zur Beerdigung, stellte aber das Olivenbäumchen an ihr Grab, das im Winter wohl erfrieren wird. Es ist nur rechtens, dass Martha mich verlassen hat. Ich habe von ihr mehr verlangt als nötig war. Ich habe verlangt, was ich schon längst besaß.
Das Bild habe ich verbrannt, wie ich auch die ganze Wohnung verbrannt habe. Ich rieche noch das Feuer, während ich hier im Auto auf der Fahrt nach Duisburg sitze. Meine Hände umklammern das Lenkrad. Ich werde mir Kate zurückholen, sie ausführen, ihr Goldschmuck schenken und ihr ein Kind machen.
Zuletzt geändert von Lisa am 14.12.2006, 12:24, insgesamt 7-mal geändert.
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Rala

Beitragvon Rala » 20.11.2006, 18:45

Hallo Lisa!

Richtig gut! Psychopathen, die sich eiskalt selbst analysieren, sind besonders gruselig, und ich finde, Du hast das sehr überzeugend gemacht. Auch zahlreiche Details, die er wahrnimmt und beschreibt, machen sein Wesen deutlich. Ich konnte die Kommentare der anderen leider nur überfliegen, aber es scheint auch bemängelt worden zu sein, dass dein Prot. nicht lebendig genug sei. Ich finde, er ist auf seine Weise äußerst lebendig, obwohl das in seinem Fall vielleicht das falsche Wort ist, jedenfalls ist er sehr ... hm ... präsent. Auch die Steigerung, die sich durch die drei verschiedenen Frauen ergibt, finde ich gelungen. Und so wunderbare Details, dass er z.B. versucht, Helene ihre Schwester durch einen Hund zu ersetzen u. Ä.
Auf Kleinigkeiten habe ich Deinen Text jetzt nicht abgetastet, aber das haben andere vor mir ja schon sehr gründlich getan.
Ein paar kleine Fragen stellen sich mir allerdings noch:
"ihre ... Augen schauten mich an, als schwebte ihnen etwas vor" - darunter kann ich mir leider gar nichts vorstellen. Wenn mir etwas vorschwebt, dann habe ich eine Idee oder eine Vorstellung von etwas, das ich dann auch benennen kann, aber meinen Augen ist noch nie irgendetwas vorgeschwebt ...
Und warum will er die Sache mit Helenes Schwester für Helene weniger inzestuös machen , indem er andere Frauen erwähnt? Für mich würden die da nichts ändern. Ich erwarte von einem Psychopathen zwar nicht unbedingt eine allgemein verständliche Logik, aber trotzdem ist es für mich nicht schlüssig.

So viel für den Moment, wenn mir noch was einfällt, melde ich mich wieder.

Liebe Grüße,
Rala

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 12.12.2006, 12:53

Liebe Rala,
danke schön - das habe ich natürlich gern gelesen, besonders das präsent :-) und auch, dass die Steigerung für dich da ist, da war ich nämlich langsam nicht mehr sicher.

zu den Augen vorschweben: Nun ja, das ist sprachlich etwas (zu?) eigenwillig, es soll shcon etwas fiktiven Charakter haben - man sagt ja: mir schwebt etwas vor und ich habe diese "Wendung" wörtlich genommen, als schwebte den Augen marthas tatsächlich etwas sinnliches vor...(im übertragenen Sinne dann wieder)...

und das inzestuös: weil es die Schwester von Helene ist...es ist natürlich nicht inzestuös im Wortlaut, aber in einem anderen Sinne - aus Helenes Perspektive, die ihre Schwester ja durchaus auch ein wengi wie ihr eigenes Kind behandelt...wenn der prot Helene mit jemand anderem fremd gegangen wäre, wäre das auch schlimm gewesen, aber eben nicht auf diese Weise inzestuös. Ich gebrauche das Wort hier vielleicht falsch, aber für mich passend...(ich dachte eigentlich auch, dass es auf mehr Widerstand stoßen würde hier...ich hätte es aber trotzdem immer stehen gelassen).

Warum ich mich aber eigentlich hier nochmal drunter setze:

Jemand (geheim... :banana_1: ) machte mich darauf aufmerksam, dass die Unfruchtbarkeit, so wie ich sie jetzt von Kates Freund beschreiben, medizinisch nicht korrekt ist - und das stimmt auch. Nun schlage ich mich schon einige Zeit damit herum, wie man das denn medizinisch korrekt UND bisig verletzend gleich beschreiben kann?

Bisher lautet die Passage:

Wenn ich die beiden heute treffe, isst er seine Krabben, sie hat sich angepasst, schlürft Austern und quietscht vor Vergnügen. Bis heute behauptet sie vor allen, ich hätte sie an meinen besten Freund verloren. Bis heute hat sie keine Kinder. Aber da er nichts dafür kann, seine Prostata Schuld ist, muss sie bei ihm bleiben.



Meine Idee:

Bis heute hat sie keine Kinder. Aber da er nichts dafür kann, seine kleinen Freunde in Lendenregion einfach nicht schnell genug sind, muss sie bei ihm bleiben.


Ja, ich weiß (buhhh :razz: ), da sist noch nicht so gelungen - gibt es Ideen, wie man das besser machen kann?? Es muss richtig schön verletzend sein....ich brauche Hilfe!

Liebe Grüße,
Lisa
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Klara
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Beitragvon Klara » 12.12.2006, 13:21

Hallo,

vielleicht eher in diese Richtung, ganz sachlich:

Bis heute hat sie keine Kinder. Aber da er nichts dafür kann, seine Hoden sind Schuld, muss sie bei ihm bleiben.

(Freunde in der Lendenregion--- das ähnelt dann doch eher den Freunden in der Fremdenlegion, meinst du nicht.. ,-9)

lg
k

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 14.12.2006, 12:23

Liebe Klara,
ne Freunde in der Fremdenlegion wollen wir lieber raushalten, da hast du recht. Ich habe jetzt mal deine Variante übernommen! Dank dir! :hut0039:

Liebe Grüße,
Lisa
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