Jule
Jule
Sommer 1970
Jule hat es eilig. Ihre Mutter geht auf die Toilette und muss pressen. Jule fällt ins Klo, stürzt sich ins Leben. Sie entwickelt eine Aversion gegen Wasser und Allergien gegen verschiedene Reinigungsmittel.
Frühjahr 1975
Jules Mutter muss ins Krankenhaus. Jule verbringt ein halbes Jahr bei ihren Großeltern. Die Oma kümmert sich um das dünne Kind. Jeden Tag gibt es Kuchen, selbstgemachten Erdbeer-Sahnejoghurt oder Eis, weil Jule alles brav auffrisst.
Herbst 1975
Fett kehrt Jule heim. Die Mutter ist wieder gesund und nimmt Jule den Teller weg, wenn sie eine zweite Portion haben will.
Winter 1980
Jule lässt die Grundschule hinter sich und beginnt ihr erstes Jahr auf dem Gymnasium. Vor jedem Schwimmunterricht reibt sie sich Essigreiniger auf die Oberarme und zeigt dem Lehrer den Hautausschlag. Sie wird vom Schwimmen befreit.
In den Pausen wirft Jule die von ihrer Mutter geschmierten Diät-Knäckebrote weg und kauft sich im Kiosk auf dem Schulgelände Chips und Erdnüsse. Zuhause verweigert sie das Essen. Die Mutter ist zufrieden. Jule ist vernünftig geworden.
Sommer 1983
Jules Eltern verbringen die Wochenenden auf dem Golfplatz, bitten Jule, sich zuhause um den Hund zu kümmern.
Am Weg zum Wald befindet sich ein Fast-Food-Laden. Der Hund gehorcht ihr aufs Wort. Er mag Hamburger.
Jules Freundeskreis hat kein Gewicht. Ihre Mitschüler geben ihr viele runde Namen.
Sommer 1985
Jule lässt sich Zeit. Sie ist fünfzehn Jahre alt, hat noch keinen Jungen geküsst. Die Menstruation kennt sie nicht.
Winter 1986
Jules Mutter will mit ihr zum Arzt gehen. Der Grund für die ausbleibende Menstruation soll gefunden werden. Jule greift vorher zum WC-Reiniger und reibt ihren runden Körper damit ein. Die Reaktionszeit kennt sie und packt sich in dicke Klamotten ein.
Als sie nackt vor dem Arzt steht, sagt er, dass ihre Allergie vermutlich der Grund sei. Ihr Übergewicht könnte auch eine Rolle spielen. Er entnimmt ihr eine Blutprobe. Beim Piecken der Nadel entdeckt Jule ein neues Gefühl.
Frühjahr 1987
Jule hat einige Untersuchungen hinter sich gebracht. Da die Allergien ohne ersichtlichen Grund kommen und gehen, findet der Arzt keinen Zusammenhang. Die Ursache sei ihr starkes Übergewicht, lautet seine Diagnose.
Sommer 1988
Jules Mutter setzt sie auf Diät. Je stärker sie Jules Mahlzeiten reduziert, umso mehr steigt Jules Gewicht. Jule besorgt sich rote Tuschfarbe, kippt sie ins Klo und ruft ihre Mutter. Sie verzerrt ihr Gesicht und krümmt sich leicht. Zufrieden geht die Mutter Binden einkaufen.
Herbst 1990
Jule hat die Schule geschafft. Sie hat Probleme, geradeaus zu gehen. Sie fällt zur Seite, mal nach rechts, mal nach links. Sie kann sich nicht halten und verbringt ganze Tage im Bett. Mit einer Gehhilfe möchte sie nicht studieren. Es ist das Übergewicht. Da ist sich ihre Mutter sicher.
Jule hat es eilig. Jule fällt aus dem Leben, wie sie ins Leben hineingefallen ist.
© Gabriella Marten Cortes 2010
Hallo Xanthi,
ich glaube, es ist ganz normal, dass man in Texten immer irgendwo etwas sucht, zu dem man nicken kann oder - im Umkehrschluss - dann genau das vermisst. Dass da eine bestimmte Erwartungshaltung besteht, dass man berührt/mitgezogen werden möchte. Und das sieht bei jedem - ganz klar - völlig anders aus. Mal geschieht es, mal überhaupt nicht.
Das finde ich sehr fein und treffend ausgedrückt.
Danke dir für dein Einlassen.
Saludos
Gabriella
ich glaube, es ist ganz normal, dass man in Texten immer irgendwo etwas sucht, zu dem man nicken kann oder - im Umkehrschluss - dann genau das vermisst. Dass da eine bestimmte Erwartungshaltung besteht, dass man berührt/mitgezogen werden möchte. Und das sieht bei jedem - ganz klar - völlig anders aus. Mal geschieht es, mal überhaupt nicht.
Xanthippe hat geschrieben:ich mag den mut dieses textes, das experimentelle, die riesigen leerstellen. die schlagzeilen, die er auf ein leben wirft. für mich ist der text ein blick darauf wie wir heute auf das leben gucken. in schlagzeilen, mit vielen aussparungen, und wenig zeit.
Das finde ich sehr fein und treffend ausgedrückt.
Danke dir für dein Einlassen.
Saludos
Gabriella
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