Liebe Xanthippe,
erstmal vorweg: ich erhebe keine Vorwürfe und stelle keine Forderungen.
Allerdings trage ich zu diesem Missverständnis meinen Teil bei:
Zum Beispiel ist das Bild von der Rezension schlecht gewählt. Du würdest natürlich andere Stücke auswählen und dass mir sofort die 5 zitierten Gedichte im Ohr waren, als ich „Bezugnehmend...“ las, hat mindestens so viel mit mir zu tun wie mit dir.
Mir ging es mehr um den Zusammenhang, wie die Bilder, die mir schon von den andern Gedichten bekannt waren, das vorliegende eher prosaische Gedicht mit Bedeutung aufgeladen haben.
Und was für ein Thema ich darin wahrnehme.
Mir liegt nichts daran, deine Gedichte zu verstandenen Objekten zu machen und ihnen „das geheimnisvolle Licht“ auszutreiben, dass „da ... nur noch ein durchschaubarer Rest/ ein Schulterzucken“ bleibt.
Genau so wenig möchte ich dich als Person auf irgendwas festlegen.
Für mich hat „erkennen“ die Bedeutung von „wahrnehmen“ in der Hoffnung, dass es zuerst Gemeinsamkeiten sind, die ich wahrnehme, und dann erst Differenzen.
Um mit den Gemeinsamkeiten anzufangen:
„ich glaube an die sprache, ich glaube, dass die sprache immer mehr sagt, als der sprecher zu sagen glaubt.“
Diesen Satz von dir unterschreibe ich sofort!
Und weiter:
„weil man vielleicht spürt, dass sie (die Autorin) nicht an das verstehen glaubt, an dem manchem leser so viel liegt.
tatsächlich glaube ich nicht, dass der wahre kern eines gedichtes das verstehen ist.
es geht um begreifen und das ist immer sprachlos.“
Genau das ist mir durch diese 6 Gedichte klar geworden und mehr wollte ich nicht sagen.
Ich glaube, viel mehr habe ich auch nicht gesagt, ich hab es nur ausführlich an den Textstellen dokumentiert. Und vielleicht hast du das ja auch in irgendeinem Kommentar alles schon ausgesprochen oder vielleicht hätte ich dich einfach nur per PN fragen brauchen und mir den ganzen Aufwand sparen können...
Aber:
„es geht um begreifen und das ist immer sprachlos.“
Den Satz muss man mal auf sich wirken lassen!
Eben dieses Thema finde ich bewegend und von allgemeinem Interesse!!!
Du meinst „be-greifen“ wörtlich, und „verstehen“ ist dagegen abstrakt, losgelöst von der Realität.
Damit bringst du für mein Empfinden das Wirklichkeits-Verständnis einer bildenden Künstlerin zur Sprache.
Der bildende Künstler gestaltet ja nonverbal, aber in der Hoffnung, dass sich der Prozess auch nonverbal mit-teilt, und grinst angesichts der vielfältigen Reaktionen des Publikums nur in sich hinein. Dabei sind ihm die Interpretationen völlig wurscht, weil sie nicht das Wesentliche beinhalten. Der gestalterische Prozess ist wesentlich und dass er zu weiteren Prozessen anregt.
Wenn ich das so formuliere, ist das als Pointierung gedacht, nicht als Zuschreibung. Und vor allem soll es nicht heißen, dass du nicht Schreiben kannst, sondern lieber Töpfern solltest!
Paradoxer Weise bringst du das sprachlose Begreifen sprachlich so gut rüber, dass manche es schon als indiskret empfinden
Du schreibst Bekenntnisse. Und die sind nicht verstehbar, sondern wirksam.
Eben wie die bildende Kunst.
Um das noch weiter auszuführen, und ein Problem für uns heute dabei aufzuzeigen:
Wir heute vertrauen der Sprache nicht mehr. Sie gilt als restlos korrumpiert. Inzwischen auch das Bild.
Authentisch ist nur das Spüren im Sinne von Tasten.
Ein bekannter Hirnforscher hat auf einem Transatlantikflug einen Hummer durch die Sitzreihen kriechen sehen. Er konnte es erst glauben, als er das Tier berührt hatte (das war aus der Kombüse ausgebüchst. Wozu auch Hirnforschung, wenn nicht wenigstens 1. Klasse dabei rausspringt?)
Es ist dieser elementarste Sinn, der uns als Säugling schon Geborgenheit und Nähe vermittelt hat bevor wir verstehen konnten, der uns zur Vergewisserung noch geblieben ist.
Du hast dieses Dilemma in einer tollen Sex-Szene beschrieben (und jetzt erzähl mir nicht, dass es keine ist, sondern allgemein eine Beziehung von Sprache & Welt, grins):
Du warst so dunkel wie die samtene Nacht
Deine Berührungen so unbegreiflich
Dass ich mich auflöste
Bis ich keinen Namen mehr hatte
Und kein Gesicht
Und deine Hände spielten auf dem Hohlraum meines Körpers
(du hast nie behauptet dass es Liebe ist)
Bis die Saiten rissen
Und ich die Augen aufschlugUnd jetzt sind wir bei den Unterschieden.
Ich würde nämlich auch unterschreiben, was Max bei seiner Vorstellung als Moderator sagt:
Schreiben ist Selbstvergewisserung.
Ich bin mein 1. Leser und als solcher versuche ich mich selbst wahrzunehmen (um nicht deine Bedeutung von „verstehen“ zu übernehmen).
Und weil das für Anna und mich nicht reicht (
man braucht einen anderen um sich selbst zu erkennen) versuche ich auch ein Du wahrzunehmen. D.h., ich suche weitere Leser und bin selbst Leser von andern.
Und es geht sehr wohl um Verstehen aber in einem andern Sinne.
Um deine Metapher vom Spiegel aufzugreifen:
Im Spiegel sehe ich mich selber.
Wenn der Andere mir Spiegel wird (und ich ihn nicht nur als Projektionsfläche missbrauche) dann heißt das:
Ich sehe das Gemeinsame in uns!
In den Worte eines antiken Poeten:
Heute erkennen wir in einem dunklen Spiegel, dann aber von Angesicht zu Angesicht.
Wenn ich das „dann“ nicht nur transzendent verstehe sondern als Annäherung hier und jetzt, kann ich auch mit seinen Worten schließen:
Nicht, dass ich's schon ergriffen hätte. Ich jage ihm aber nach, weil ich ergriffen bin!“
Im Prozess des Verstehens sind auch wahr genommene Differenzen eine Annäherung.
Denn auch an der Differenz erscheint das Eigene.
Deshalb lese ich Gedichte und versuche zu verstehen.
LG, Carl