Gegen die Fahrtrichtung

Rosebud

Beitragvon Rosebud » 03.01.2010, 13:52

Gegen die Fahrtrichtung

[align=justify]Manchen Menschen wird schlecht, wenn sie nicht sehen, was auf sie zukommt. Mir wird unwohl nur in Fahrtrichtung, schon seit Kindertagen. Im Sommer 1969 erbrach ich in einem VW-Käfer den eben verspeisten Kinderteller auf den jungen Hund, der in meinem Schoß lag und dem die Fahrerei auch nicht bekam, weswegen er im selben Moment sein Essen auf mein bereits besudeltes Kleid würgte, noch bevor der Fahrer des Wagens einen Parkplatz ansteuern konnte. Ich weiß nicht, was meinem Hund durch den Kopf ging, ich dachte nur an das Soft-Eis, das uns die Dame, die auf dem Beifahrersitz saß, heute sicher nicht mehr spendieren würde.

Den Namen des Sees, in den man den Hund und mich tauchte, habe ich vergessen, nicht aber, dass die Tante „einen Bedarf“ an neuen Unterhosen für „das Kind“ feststellte. Unterhosen waren mir damals gleichgültig. Neue zu bekommen, bedeutete, die Initialen unter Aufsicht der Nähschwester hinten mittig einsticken zu müssen. Würde ich endlich adoptiert werden, müsste ich nie wieder sticken; nach dieser Ausfahrt aber war klar, Hund und ich bleiben im Waisenhaus.

„Klärchen“, fragte die Küchenschwester am Abend, „wie war dein Ausflug?“
„Nicht schön – mir wurde schlecht. Und Hund auch. Dann haben wir gekotzt. Die Tante hat zum Onkel gesagt: `Wir fahren sofort zurück!´ Es gab kein Eis.“

Die Küchenschwester mochte mich gern und war stets in Sorge, ich könnte verhungern. Oft klagte sie, dass gleich, was man mir in den Mund steckte, ich weder in die Höhe noch in die Breite wuchs. Sie verdächtigte mich einer Wachstumsverweigerungshaltung und hatte Recht. Ich ahnte früh, Großsein ist schwieriger als Kleinsein.

An dem Tag, als alle Sechsjährigen zur Einschulungsuntersuchung gingen, wurde ich zum Schularzt nicht mitgenommen. Dabei wollte ich unbedingt in die Schule, weil es dort richtigen Kakao gab, nicht die wässrige Brühe, die uns die Nonnen als heiße Schokolade andrehten.
„Will auch zum Schuldoktor“, weinte ich in die Schürze der Pfortenschwester; sie aber meinte, meine Arme seien zu kurz. Zum Gehen bräuchte ich die nicht, entgegnete ich, und sie: „Nein, zum Gehen brauchst sie nicht, aber für die Schule.“ Sie erklärte mir, ich dürfe erst in die Schule, wenn ich mit der rechten Hand über den Kopf zum linken Ohr hinüberlangen könne. Mit deutlicher Schieflage des Kopfes schaffte ich es, aber die Kindergartenschwester meinte, das zähle nicht, ich müsse den Kopf geradehalten.

Ich sitze gern gegen die Fahrtrichtung und schaue mir die Rückseite der vorbeisausenden Landschaft an. Welcher Ort als nächster kommt, erfahre ich über die Lautsprecheransage. Glaubt man dem Zugpersonal, erreicht man einen Bahnhof stets „in Kürze“. Damals sagte keiner: „In Kürze erreichst du mit deiner rechten Hand dein linkes Ohr“; sie meinten, ich müsse ein Jahr warten. Dann vielleicht. Lange Zeit dachte ich, sie erlauben sich einen Spaß mit mir. Jeder, der eingeschult und Besitzer eines Lederranzens geworden war, musste beweisen, dass er mit der Hand ans Ohr kam. Bei ein paar Kindern war es knapp: „aber Fingerspitzen“, meinten sie, „reicht“.

Die Schule liegt hinter mir, Stuttgart hinter meinen Mitreisenden und vor ihnen Frankfurt, wo ich 1986 in einen Banküberfall geriet. Überfälle auf Banken sind selten in Frankfurt, auch, wenn man die Häufigkeit der Ereignisse ins korrekte Verhältnis zu den vielen Filialen setzt. Ich weiß das, weil ich 1983 Stochastik als Prüfungsschwerpunkt für das Mathe-Abi wählte. Mittels Stochastik lässt sich präzise berechnen, wie viele Kinder sich auf die Kommastelle genau ein ganzes Jahr langweilen müssen, weil man sie wegen eines banalen Arm-Ohr-Reichweite-Verhältnisses nicht eingeschult hat.

Ich stand gerade am Schreibtisch des Filialleiters, als plötzlich mehrere Kunden laut schrien. Drei maskierte Männer waren die Treppe nach oben gestürmt, brüllten in der Marmorhalle Unverständliches und gestikulierten ausufernd mit ihren mitgebrachten Maschinengewehren. Leider war die Akustik des Schalterraumes wegen des Marmors derart schlecht, dass man keine dreistellige Kontonummer verstand, selbst wenn sie einem der Kollege deutlich ansagte. Das konnten die Räuber nicht wissen. Da nichts Planvolles geschah und keine Ruhe eintrat, brüllten sie weiter, bis einer von ihnen endlich einen Schuss abfeuerte. Ich war nicht die Einzige, die die Stille nach dem Schuss genoss.

Ein Maskierter kam auf mich zu und meinte, er wolle sich den Kassenraum ansehen. Wie im Film, dachte ich, bekam eine große Nylontasche in die Hand gedrückt und einen Stups mit dem Gewehr. Dass mich der Räuber trotz meiner kleinen Statur und meines kindlichen Aussehens für eine Angestellte mit Zugang zum Kassenraum hielt, machte ihn mir sympathisch. Gemessenen Schrittes und mit majestätisch geradem Rücken schritt ich vor den Augen der Kollegen und Kunden durch die Halle bis zur Tür, die zum Kassenraum führte.

Während ich die Tasche mit markierten Scheinen voll machte, meinte der Maskierte: „Draußen warten sicher schon die Bullen. Ohne Geisel haben wir keine Chance. Wir nehmen dich, Kleine.“
Sofort kippte ich die markierten Scheine aus der Tasche und füllte sie stattdessen mit den unmarkierten.

Im Fluchtauto musste ich hinten einsteigen. Kaum waren die Türen zugeschlagen, startete der Fahrer mit quietschenden Reifen. Schon nach der ersten Kurve war mir speiübel. Ich löste den Sicherheitsgurt und kniete mich gegen die Fahrtrichtung auf den Sitz der Rückbank. Einer der Gangster zerrte an mir.
„Ich muss kotzen, wenn ich in Fahrtrichtung sitze!“.
„Lass sie“, meinte der Adoptionsräuber. Ich begann, den Abstand der Polizeiwagen durchzugeben.
„Gas, gib Gas!“, brüllte ich, weil uns das erste Bullenauto fast erreicht hatte. Für den Polizisten, der den Wagen steuerte, muss ich wie Jackie Kennedy ausgesehen haben, die versucht, nach hinten aus einem Wagen mit geschlossenem Verdeck zu flüchten.

Bis Wiesbaden lief es gut, wenn man davon absieht, dass über uns Hubschrauber kreisten und wir von etwa der gleichen Anzahl Polizeiwagen verfolgt wurden wie die Blues Brothers. Allerdings waren wir nicht im Auftrag des Herrn unterwegs, wenngleich mir die Betschwestern im Heim versprochen hatten, Waisenkinder stünden lebenslang unter Seiner besonderen Obhut. Dann war der Tank leer.

Sie erschossen alle drei Bankräuber, angeblich, um die Geisel zu retten. Man habe den Wagen stürmen müssen, weil ich mit einer Schusswaffe bedroht worden sei.
„Alles nicht wahr“, habe ich vor Gericht ausgesagt, aber man glaubte mir nicht mehr, nachdem man die Aufzeichnungen aus dem Kassenraum gesichtet hatte.

„Sehr verehrte Fahrgäste, in Kürze erreichen wir Frankfurt Hauptbahnhof. Dort hatten Sie Anschluss...“

© Rosebud (Januar 2007)[/align]
Zuletzt geändert von Rosebud am 04.01.2010, 20:37, insgesamt 2-mal geändert.

Benutzeravatar
Zakkinen
Administrator
Beiträge: 1768
Registriert: 17.07.2008
Geschlecht:

Beitragvon Zakkinen » 03.01.2010, 17:37

Liebe Rosebud,

konnte ich gut lesen, stilistisch und sprachlich sicher bis auf einen kleinen Fehler gegen Ende, der mich stört. Es muss Geisel heißen, eine Geißel ist etwas anderes.

Ich kann der Geschichte folgen. Aber wo der Zusammenhang zwischen den zwei Teilen ist, kann ich nicht deutlich erkennen. OK, das Übelwerden beim In-Die-Fahrtrichtung-Blicken ist bei beiden drin. Vielleicht ist in der jungen Frau auch noch ein Kindheitstrauma wirksam, dass sie sich so bereitwillig den Gangstern anschließt. Es hört mir auch zu rasch auf, ich sitze da und frage mich: "Und die Moral von der Geschicht?"

Gruß,
Henkki

Mucki
Beiträge: 26644
Registriert: 07.09.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mucki » 04.01.2010, 13:17

Hallo Henkki,
Zakkinen hat geschrieben:Ich kann der Geschichte folgen. Aber wo der Zusammenhang zwischen den zwei Teilen ist, kann ich nicht deutlich erkennen. OK, das Übelwerden beim In-Die-Fahrtrichtung-Blicken ist bei beiden drin. Vielleicht ist in der jungen Frau auch noch ein Kindheitstrauma wirksam, dass sie sich so bereitwillig den Gangstern anschließt. Es hört mir auch zu rasch auf, ich sitze da und frage mich: "Und die Moral von der Geschicht?"

"auch noch ein Kindheitstraum wirksam"?
Dieses Trauma bzw. diese Sehnsucht nach Anschluss ist ungemein präsent in Klara. Sie durchzieht die ganze Geschichte von Anfang bis Ende wie ein roter Faden. In Frankfurt hatte sie "Anschluss", den einzigen, den sie jemals hatte, nämlich durch das Wahr- und Ernstgenommenwerden durch die Bankräuber. Dort, bei dem Überfall, stand sie endlich mal im Mittelpunkt, die kleine Klara wurde gesehen, wurde zur zentralen Figur beim Überfall. Sie "durfte" den Tresor öffnen. Die Bankräuber ließen es zu, dass sie sich umsetzte im Wagen, weil ihr übel würde. Die Bankräuber wurden zu den ersehnten Adoptiveltern.

Hallo Rosebud,

deine Geschichte hat mich sehr angesprochen. Sie ist tragisch aber nicht tragisch geschrieben. Der Hund hatte keinen Namen, er wird einfach nur "Hund" genannt, so wie Klara sich namenlos und klein fühlt und klein gesehen/gemacht wird. Ihr ganzes Leben ist wie eine Fahrt gegen die Fahrtrichtung. Sie will nicht sehen, was auf sie zukommt, deshalb wird ihr schlecht, wenn sie in Fahrtrichtung sitzt. Sie möchte erleben, dass sie mitgenommen wird, erfährt aber immer wieder das Gegenteil, ist stigmatisiert durch ihren Kleinwuchs. Durch andere stigmatisiert und durch sich selbst. Diese "Kategorisierung" durch die Maßeinheit "Arm über Kopf zum Ohr" begleitet sie ihr Leben lang, so dass sie sich intensiv mit Stochastik beschäftigt. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie klein bleibt, wie groß, dass sie endlich einmal jemand mitnimmt? Und dann geschieht das so Unwahrscheinliche, der Banküberfall. Und ausgerechnet bei diesem wird die kleine Klara zur großen Klara, durch die Bankräuber. Sie sind die einzigen, die ihr dieses Stigma entziehen bzw. viel mehr, sie eben groß und wichtig machen. Aus diesem Grund hilft sie ihnen, wechselt die markierten Scheine in unmarkierte, gibt die Abstände zu den Polizeiwagen durch, spricht vor Gericht für sie aus, etc.
Eine sehr gelungene, psychoanalytische Geschichte, wie ein solches Trauma zur Verbrüderung mit Verbrechern führen kann.
Hier:
Rosebud hat geschrieben:„Gut, dann nehmen wir dich mit“.
Auf diesen Satz hatte ich seit Kindertagen gewartet. Sofort kippte ich die markierten Scheine aus der Tasche und füllte sie stattdessen mit den unmarkierten.

würde ich "Auf diesen Satz hatte ich seit Kindertagen gewartet." rausnehmen und gleich schreiben: "Sofort kippte ich ...", denn es ist klar, auch ohne diesen erklärenden Satz, warum sie das tut.
Und hier:
Rosebud hat geschrieben:„Lass sie“, meinte der Adoptionsräuber. Ich begann, den Abstand der Polizeiwagen durchzugeben.
würde ich nur Räuber schreiben, nicht Adoptionsräuber. Es ist auch hier klar, dass sie ihnen hilft, weil sie "Lass sie" sagen.
Sehr gerne gelesen!

Saludos
Mucki

Benutzeravatar
ferdi
Beiträge: 3260
Registriert: 01.04.2007
Geschlecht:

Beitragvon ferdi » 04.01.2010, 13:59

Hallo Rosebud!

Dass Klara sich den Räubern anschließt, macht ihre Vorgeschichte plausibel; warum der Bankräuber sie aber mitnehmen will, leuchtet mir gar nicht ein. Und warum fragt er sie nach dem Alter?! Seltsames Benehmen für einen gestressten Räuber :-)

Ich glaube eigentlich auch nicht, dass sie "Maschinengewehre" mitgebracht hatten; die gehören eher zum Terminator oder so ;-)

Klara scheint Angestellte in dieser Bank zu sein? Das erführe ich gerne etwas direkter, statt es mir über Nebenbemerkungen erschließen zu müssen.

Dass die Polizei alle drei (ich würde die Zahl ruhig noch mal nennen) Bankräuber erschießt, ach, ich weiß nicht... läuft bei mir eher auch unter "herbeigeschrieben".

Insgesamt, ich weiß nicht, betrachte ich die Geschichte ziemlich "von außen", und von da aus kann ich auch erkennen, worum es dir geht; aber den Weg hinein versperrt mir die so überdeutlich angelegte Struktur des ganzen.

Ferdigruß!
Schäumend enthüpfte die Woge den schöngeglätteten Tannen. (Homer/Voß)

Benutzeravatar
Zakkinen
Administrator
Beiträge: 1768
Registriert: 17.07.2008
Geschlecht:

Beitragvon Zakkinen » 04.01.2010, 15:41

Gabriella hat geschrieben:Dieses Trauma bzw. diese Sehnsucht nach Anschluss ist ungemein präsent in Klara. Sie durchzieht die ganze Geschichte von Anfang bis Ende wie ein roter Faden. In Frankfurt hatte sie "Anschluss", den einzigen, den sie jemals hatte, nämlich durch das Wahr- und Ernstgenommenwerden durch die Bankräuber. Dort, bei dem Überfall, stand sie endlich mal im Mittelpunkt, die kleine Klara wurde gesehen, wurde zur zentralen Figur beim Überfall. Sie "durfte" den Tresor öffnen. Die Bankräuber ließen es zu, dass sie sich umsetzte im Wagen, weil ihr übel würde. Die Bankräuber wurden zu den ersehnten Adoptiveltern.

Hola Gabriella,

das habe ich schon verstanden, die Brücke kann ich mir auch sozusagen außen um die Geschichte bauen. Allein, ich finde sie nicht so ganz IN der Geschichte. Vielleicht ist sie mir mal wieder zu kurz, oder enthält für die Kürze zu viele Details und Andeutungen, über die ich eigentlich mehr wissen wollte. Da scheine Jahre zwischen den beiden Teilen zu liegen. Was ist da mit Klara passiert? Hat sie Probleme mit ihrem Trauma gehabt? Wo steht sie kurz vor dem Banküberfall? Ist das "Nicht-In-Fahrtrichtung-Blicken" ein Symbol? Kann der Zukunft nicht in die Augen sehen, muss immer nach hinten blicken?

Vielleicht erscheinen mir auch einfach nur ein paar Wendungen nicht plausibel. So wie der nette Bankräuber, der nach Alter und Namen fragt. Mir ist klar, dass irgendwie das, "Wir nehmen Dich mit", vorbereitet werden muss. Scheint mir aber etwas zu offensichtlich konstruiert. Der gesamte kleine Dialog unrealistisch.

Nachdem ich das alles geschrieben habe, möchte ich noch sagen, dass mir die Geschichte gefällt. Sehr schöne Idee, ich würd sie halt noch mal überarbeiten.

Liebe Grüße,
Henkki

Sam

Beitragvon Sam » 04.01.2010, 16:45

Hallo Rosebud,

deine Geschichte ist toll geschrieben. Wie bei deinen anderen Texten merkt man auch hier, dass du das Handwerk wirklich beherschst.

Totzdem entäuscht mich deine Geschichte ein wenig. Das liegt an dem wirklich erstklassigen Anfang. Da bin ich Wort für Wort mitgegangen und war begeistert. Dieser selbstbewusste, schnoddrige Ton hat mir gefallen und ich war sofort ganz dicht bei deiner Figur, bereit seitenlang mit ihr zu gehen und ihr zuzuhören.

Aber dann der Bruch mit dem Bankraub. Sicher, es ist auch gut und originell beschrieben, aber es wirkt doch wie ein Paukenschlag, wie ein Schlagzeugsolo, das inmitten eines fein abgestimmten Orchesterstücks anfängt zu trommeln. Zwar ebenso virtuos, aber doch unpassend.
Sicher, man kann Muckis Erklärungen gut folgen, aber es ist eine reine "Kopferklärung", kein inneres Bild, das sich beim Lesen automatisch formt.

Nun ist Lesen ja kein Wunschkonzert, man muss das nehmen, was der Autor einem bietet. Ich hätte mir aber gewünscht, Klara weiter dabei zu beobachten, wie sie das Leben meistert, die kleinen und großen alltäglichen Hürden auf ihre ganz eigene Art nimmt. Der Bankraub ist dann doch ein solch "übertriebenes" Vorkommnis, dass mir die Klara aus den Absätzen zuvor völlig abhanden kommt und ihre Besonderheit verloren geht.

Liebe Grüße

Sam

PS: Da fällt mir ein, dass ich auch noch eine Bankraubgeschichte in der Schublade habe. Würde sogar zum Monatsthema passen. Muss mal danach suchen...

Rosebud

Beitragvon Rosebud » 04.01.2010, 20:36

Hallo,

erstmal vielen Dank Euch allen für das ausführliche Feedback und die Beschäftigung mit meinem Text. Das freut mich sehr.

@Zakkinen

Du hast Recht: Die Fage nach Namen und Alter habe ich rausgenommen und diese Passage deutlich gekürzt (die war auch für mein Gefühl nicht dolle). Eine Begründung, warum er sie mitnimmt, habe ich eingefügt, damit die Kausalität wieder hergestellt ist und der Dialog, der jetzt keiner mehr ist, realistisch wird. Aus der Geißel habe ich eine Geisel gemacht (mein Gott, wie blind man gegenüber eigenen Texten ist).

Zur Moral: Nun, eigentlich hat meine Geschichte keine großartige Moral, Botschaft oder sowas. Es ist nur ein kurzer Text über eine, die weder Vater noch Mutter noch sonst Familie hat und, wie Gabriella schon schrieb, tief drin ahnt, dass vor ihr eher kein schönes Leben liegt, weil man als Waise mit ner ganz dünnen Grundausstattung ins Leben losgeht. Gabriella hat meine (Hinter)Gedanken schon sehr gut auf den Punkt gebracht vor allem in Bezug auf das Ende, das Dir zu rasch kommt. Ja, ich hätte eine längere Geschichte schreiben können, vielleicht gehe ich eines Tages nochmal an diesen Text und "wälze" ihn, aber im Moment genügt mir die Konzentration auf den Angelpunkt "Anschluss", denn dies ist die eigentliche Klammer des Textes. Zu Beginn bekommt sie ihn nicht, am Ende verliert sie den einzigen, den sie hatte. Freut mich umso mehr, dass Dir die Geschichte trotzdem gefallen hat.

@Gabriella,

vielen Dank für Dein tolles Feedback, da muss ich ja total nix mehr schreiben, genau so habe ich es gemeint, gerade auch bzgl. der Stochastik und Klaras Glauben, das Schicksal sei berechenbare Wahrscheinlichkeit. Deine Änderungsvorschläge habe ich umgesetzt bis auf den "Adoptionsräuber", von dem mag ich mich noch nicht sofort trennen, weil Klara im Waisenhaus die ihr wichtigen Schwestern eben auch immer nur mit einer Funktion belegt ("Küchenschwester", "Pfortenschwester", "Kindergartenschwester"), anstelle sie beim Namen zu nennen, der aber eine gewisse Nähe bedeuten würde, die sie eben nicht empfindet. Aber ich denke nochmal übers Weglassen nach.

@ferdi

Eine Begründung für die Mitnahme habe ich jetzt eingefügt. Ich hoffe, das macht es plausibel. Und die Maschinengewehre, mhmpf, ich wollte Klara so gerne mal was Ordentliches gönnen, großes Theater mit allem Rapp und Zapp. Eine kleinere Bewaffnung macht in einer Marmorhalle doch nur puhuff :-) Die Zahl der Räuber habe ich auch nochmal genannt. Guter Tipp! Mit Klaras Beruf habe ich nochmal an der Textstelle geguckt. Meinst Du nicht, es reicht, wenn im selben Satz, in dem sie sagt, dass sie mit dem Filialleiter redet, von den anderen Menschen als "Kunden" spricht? Im Absatz dadrüber lässt sich ihr Beruf schlecht vorbereiten. Ich schau aber nochmal, ob sich was findet an geeigneter Stelle.

Mhm...der Weg hinein und die Struktur darin...: ja, vielleicht ist zu klar, wo es herkommt, wo es hinführt, ich kriege das Leichte oder Zarte auch nicht immer so gut hin. Hier wollte ich auf alle Fälle der Gefahr entgehen, dass das Ding ins Rührselige kippt, anstelle auf der tragikkomischen Ebene zu verbleiben. Vielleicht fehlt dem Text deshalb das Ungefähre, Leichte, das die Struktur verschleiert oder beim Lesen vergessen macht. Vielleicht beim nächsten Mal wieder. Danke für Deine hilfreichen Anmerkungen.

@Sam

Ich verstehe Dich und Deine Lesart sehr gut. Und wenn es nicht mein Text wäre, würde es mir wahrscheinlich genauso gehen wie Dir. Ich hatte nach dem Anfang der Geschichte Sorgen, dass ich den Melodrama-Sack nicht wieder zukriege. Klar, der rotzige Ton hilft, wäre aber auf Dauer auch langweilig geworden, deshalb habe ich die Geschichte als Rückerinnerung bzw. "Rückfahrt" (sie sitzt, während sie "erzählt", ja im Zug Richtung Frankfurt und blickt de facto und erzähltechnisch zurück) angelegt mit einem definierten Ende und einem klaren Bezug zum Beginn. Ich befürchte, ich bin vielleicht gar nicht die Richtige für eine Geschichte, die mehr von Klara erzählt, als das hier gezeigte. Ich empfinde zu viel Mitleid mit meiner Figur, als dass ich in der Lage wäre, unmelodramatisch mehr von ihrem Leben zu berichten.

P.S. Ich freue mich schon sehr auf Deine Bankraubgeschichte!!

Gruß
Rosebud

Benutzeravatar
Lisa
Beiträge: 13944
Registriert: 29.06.2005
Geschlecht:

Beitragvon Lisa » 13.01.2010, 22:28

Liebe Rosebud,

mir erging es haargenau wie Sam (das heißt auch im Guten :-) ) - ich habe überlegt, ob es nicht einen Mittelweg gäbe, um vielleicht sowohl Sams (und mein .-) ) Anliegen aufzugreifen und auch deine Befürchtungen zu bedenken (denn die kann auch auch verstehen) - wie wäre es denn, wenn die Geschichte nach der Schilderung einfach noch weitergeht - wieder zu Klara zurückblendet? Ich weiß nicht, ob dabei "mehr" herauskäme, aber ich könnte mir vorstellen, dass da vielleicht nochmal was "aufknackt" - aber so oder so: mit Genuss habe ich das natürlich schon jetzt gelesen und das angeführte ist nur eine laut gedachte geschriebene Idee!

liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Rosebud

Beitragvon Rosebud » 15.01.2010, 15:29

Hallo Lisa,

ja, diese Option, also die Verlängerung der Kurzgeschichte zur fortgesetzten längeren Kurzgeschichte oder gar der Ausbau zum Roman schwebt mir bei etwa der Hälfte meiner Kurzgeschichten vor, und einmal habe ich das auch schon umgesetzt. Ob bei meinem Klärchen der Zug ein für allemal abgefahren oder ob das DB-Kursbuch noch weitere Strecken ausweist, mhm, ich weiß es nicht. Waisenkind-Geschichten sind speziell, dieses Pandora-Döschen lasse ich wahrscheinlich noch eine ganze Weile ungeöffnet. Schön, dass Dir diese Geschichte trotzdem "Genuss" bereitet hat.

Gruß
Rosebud


Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 9 Gäste