Hier steht Teil VII:
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Schwarze Kunst
Aus den Aufzeichnungen des Chira Vagonar
Heute Abend bot sich mir ein wahrhaft seltenes Schauspiel. Der Eine Zauber gleicht einem Fluchtpunkt, an dem sich Parallelen schneiden, so unentbehrlich wie unmöglich. Er wird von einem Magier gewöhnlich stets erstrebt, aber nie erreicht. Doch vor wenigen Stunden, vor großem Publikum, vollbrachte Manelchen sein Meisterstück. Ich war beeindruckt, bin es immer noch, obwohl er meinen Beifall nicht zu schätzen schien.
Ich gab mich ihm nicht zu erkennen. Sicher will er mich nicht sehen, und was hilft es, sich aufzudrängen?
Der Alte hatte recht, was ihn betrifft. Er kommt von seiner eigenartigen Wahl nicht los – was ihn antreibt, ist sein Ziel, die Welt verschwinden zu lassen.
Fast glaube ich, daß er nicht einmal bemerkt, was er da tut.
Manelchen! Was dich einst an einem Taschentuch faszinierte, du treibst es nun zum Äußersten. Ich kenne dein Meisterstück, habe es lange erraten, ehe du es mit zitternden Kinderhänden dem Pergament gestandest. Ich spürte deine Absicht, wenn wir in langen Nächten wach in unserer Kammer lagen und mir dein Atem von den Schrecken erzählte, die die Finsternis für dich verbarg. Wenn Grabesstille das Haus ergriff, wenn nichts zu hören war außer dem Knarren der alten Eiche und sich die Welt als dunkler Moloch an die Fenster drängte – da wünschtest du dir die Macht, dies alles los zu sein, es einfach aufheben zu können.
Du hast gelernt, was es zu einem solchen Kunststück braucht:
Der Alte hat uns das Wesen der Magie oft und gut erklärt. Ihr Wesen, ihren wahren Kern, der weitab von Kinderei und Aberglauben ständig wirkt. Was ist Magie zum Schluß? Die Lektionen hallen mir noch immer gleich Echos im Gedächtnis nach. Es läßt sich in einem Satz zusammenfassen: Die unmittelbare Wirkung des Willens auf die Welt der Dinge. Wie ist eine solche Wirkung möglich, da doch das Ding vom Willen nichts wissen kann? Insofern der Wille immer schon im Ding erscheint. Was immer uns begegnet, jedes Ding, ist im Hinblick auf den Willen ausgelegt, erscheint als hinderliches, nützliches, gefährliches, gleichgültiges. Wir sehen keine abgeflachte Schlangenlinie, sondern einen Weg. Unser Verhältnis zum Geld ist durch und durch magisch. Eine gelenkte Inflation ist weiter nichts als eine Beeinflussung der Deutung – Magie. Die große Magie deutet uns die ganze Welt – als Werk eines gütigen Gottes, als Strafe früherer Sünden, als Bühne bedeutender Taten, als Kampfplatz, Spielplatz, ewige Wiederkehr... Das „neutrale Objekt“ der Wissenschaft ist nur eine nachträgliche Abstraktion. Die objektive Wissenschaft ist der Versuch, den Menschen aus den Dingen zu vertreiben. Die zu Ende gedachte objektive Wissenschaft ist daher nicht weniger als die Auflösung der Welt.
Nichts könnte falscher sein, als dieses sein Treiben „unmagisch“ zu nennen. Er ist ein Magier, durch und durch. Seine Magie ist nur eine sehr andere, sehr ungewöhnliche. Die übliche Magie verzaubert Gegenstände, vielleicht Menschen - läßt sie Dinge tun, die ihrem eigentlichen Wesen, ihrem Eigenwesen, scheinbar widersprechen. Er hat keinen solchen Gegenstand, der Stoff seiner Zauber ist die Magie selbst. Er läßt sie verschwinden, und mit ihm den Wert, den Reiz, den Geist, zum Schluß die Dinge selbst. Wunderwerke von Jahrhunderten – zu Staub zerfallen unter seinem gebieterischem Einspruch.
Was denken sie sich eigentlich, diese Analytiker? Angeblich wünschen sie, die Dinge zu "durchschauen". Sie trauen ihren Augen nicht, wittern allenthalben Verstellung, Verdeckung, Täuschung, eitlen Schein. Also wollen sie tiefer sehen, wahrer sehen, erstreben ein Sehen jenseits allen Scheins.
Was aber sieht, wer alles durchschaut? Jedes Kind weiß doch die Antwort - Nichts!
Will man den menschlichen Anteil an den Dingen unter dem üblen Namen des Betrugs vermeiden, zerrinnen sie einem in den Händen. Und gerade das hat Manelchen uns eben vorgeführt: Die „objektive Wissenschaft“ gibt ihr Objekt bereits im Ansatz preis. Der „wissenschaftlichen Menschen“ führt sich am Ende selber ad Absurdum. Mag er, mögen sie alle noch so sehr die Augen davor verschließen!
Sie können gar nicht umhin, neue Objektschimären zu gebären, ihre eigenen Hinterwelten zu erspinnen, um letztlich doch wieder als das da zu stehen, wovor sie fliehen - Deutung der Dinge. Was ist der ganze Stolz der "exakten Naturwissenschaft", diese Mechanik, auf deren strenge Pünktlichkeit sie so gern verweist? Die Alten wußten viel vom Wesen der Mechanik. Mechane - das war der Apparat, mit dem man im Theater künstliche Götter auf die Bühne hievte...
Und was schaffen sie dabei? Wüste, Leere, Fremde. Ihre Werke heißen entzauberte Erde, entseelte Leiber, mechanische Körper, entgötterter Kosmos...
Der einstige Bruder
Längst hatte unter den Beamten eine allgemeine Trägheit um sich gegriffen, als etwas unerwartetes geschah: In einem Kellerraum der Polizeistation, in dem das Beweismaterial zum Fall Reinhold Puer lagerte, wurde ein seltsamer Mann aufgegriffen. Er hatte den steinernen Dolch neben sich auf einen Tisch gelegt und blätterte in einer Akte, die vertrauliche Informationen zur Spurenlage und zum Aufenthaltsort des Jungen enthielt. Über seine Festnahme zeigte er sich überrascht und war nur mühsam davon abzubringen, die diensthabenden Beamten als seine "Kollegen" anzureden.
Dazu befragt, behauptete er, ein Hellseher im Polizeidienst zu sein, den die oberste Dienststelle her geschickt habe, um seine Unterstützung anzubieten. Fast zögerte Konit ein wenig, sich durch eine entsprechende Rückfrage lächerlich zu machen. Andererseits konnte man nie wissen. Die Presse zerriß sich über die laufenden Ereignisse und die Erfolglosigkeit der Polizei das Maul. Vermutlich stand man in der Direktion mit dem Rücken zur Wand. Daß jemand sich zu einer solchen Verzweiflungstat verstiegen hatte, war zumindest nicht völlig ausgeschlossen. Er bat einen seiner Leute, sich telefonisch nach dem Mann zu erkundigen. Wenig später kam er zurück.
Der Beamte schüttelte den Kopf. "Die kennen ihn nicht. Nie von ihm gehört. Sie lassen fragen, ob das ein Witz sein soll. Die Vorstellung, Ihnen von Amts wegen einen Hellseher zur Seite zu stellen, hat für einige Belustigung gesorgt."
Der Fremde wirkte ernsthaft erschüttert.
"Du meine Güte - ist es schon so weit gekommen? Alles gerät durcheinander. Als Sonderermittler betritt man einen Raum, als Spion wird man Minuten später gleich wieder heraus gezerrt. Ich muß gestehen, ich bin etwas verwirrt. Noch als ich im Zug saß, war der Plan ein deutlich anderer. Diese Variante hier führt zwar zum gleichen Resultat, doch das ganze ist doch um einige Maskeraden, Finten und Finessen ärmer - schade drum. Sicher, der Gute hat nicht ewig Zeit. Die Streitereien, die gemeinsamen Nachforschungen, die rätselhaften Ermittlungserfolge, deine verschiedenen Versuche, sie weg zu erklären... Schließlich müßten die Indizien gegen mich noch passend eingeflochten werden, keine leichte Aufgabe - wenn auch von langer Hand vorbereitet, die Aufschrift auf dem Dolch sollte es werden, wenn ich es richtig verstanden habe - nur drei Beamte kennen sie, ansonsten erstklassiges Täterwissen. Daß er jetzt diese Abkürzung zum Verhör genommen hat, enttäuscht mich fast ein wenig. Tote Motive sollte man vermeiden."
Offenbar gefiel sich er Mann in seiner Anmaßung, von rechts wegen zur Polizei zu gehören. Oder vielleicht verschaffte es ihm Erleichterung, durch die Maske des Konjunktivs zu sprechen. So oder so - wenn er dadurch redseliger wurde, sollte es ihm recht sein. Konit beschloss, das Gefasel zu ignorieren. Falls etwas davon irgendeine Relevanz besaß, würde es sich schon im Laufe des Verhörs ergeben.
"Wie ist Ihr Name?"
Der Fremde schaute erstaunt zurück.
"Aber Manelchen - sag bloß, daß du mich nicht erkennst..."
Manelchen. Vermutlich hatte der Mann seinen Vornamen irgendwo gelesen. Dennoch setzte ihm die Anrede stärker zu, als gut für ein Verhör war. Die Stimme kam aus der Vergangenheit. Einer Vergangenheit, mit der er abgeschlossen hatte.
"Name?"
Sein Gegenüber lächelte gutmütig, gleich als ginge es um ein Kinderspiel. Er setzte sich plötzlich kerzengerade auf, salutierte und schnarrte:
“Chira Vagonar, Sir!”
Noch eine Brücke in eine Zeit, die es nicht gegeben haben durfte. Der Name des einstigen Bruders. Blut lässt sich verleugnen, doch unauflösbar sind die Bande des Zirkels. Konit brach kalter Schweiß aus. Schnell wischte er ihn herunter. Schluß damit. Anderes war zu tun, wichtigeres.
"Was hatten Sie da unten vor?" fragte Konit.
Vagonar ließ sich mit hinter dem Kopf verschränkten Händen in seinen Stuhl fallen. „Tja, was? Da könnte ich mir nun einiges einfallen lassen, während du mit Widerlegungen und subtilen psychologischen Verhörtechniken der Wahrheit nachspürst – aber eigentlich sehe ich keinen Grund, es zu leugnen: Ich wollte den Aufenthaltsort des Jungen Reinhold Puer in Erfahrung bringen und den Steindolch entwenden.“
Seinen Versuch, einen Anflug von Ironie in der Stimme des Mannes ausfindig zu machen, gab Konit nach kurzem Zögern auf. Für den Augenblick war er aus dem Konzept gebracht. Genau das Erwähnte hatte er vermutet, es als Ziel eines langen, beschwerlichen Weges ins Auge gefaßt – daß man es ihm nun ohne jeden Widerstand gestand, war ihm suspekt. Vor diesem Menschen mußte man sich in acht nehmen. Immerhin, ein Anfang war gemacht.
„Interessant. Darf ich fragen, was Sie dann damit vorhatten?“
„Natürlich darfst du, Manelchen. Und ich werde sogar antworten. Ich werde beide dem Hohepriester der Gâl-Gatai übergeben – dessen Name ich dir verständlicherweise verschweigen muß – damit dieser ihn am Gâl-Garoth opfern kann.“
Ein Irrer oder ein Täter. Vermutlich ein Irrer – die Täter waren Meister der Verbergung. Diesem hier schien seine Offenheit fast Spaß zu machen. Immerhin konnte es nicht schaden, herauszufinden, was er wußte.
„Ich weiß Ihre Aufrichtigkeit zu schätzen.“ erwiderte er. „Aber was könnten Sie, der Sie allem Anschein nach nicht aus der Gegend stammen und Polizist zu sein behaupten, für einen Grund haben, sich an so einem scheußlichen Verbrechen zu beteiligen?“
Diese Frage schien die Aufmerksamkeit des Fremden, der bisher in seiner betont lässigen Haltung verharrt hatte, mit einem Schlag zu bündeln. Er setzte sich gerade auf, schob seinen Stuhl näher an den Tisch heran und entgegnete: „Um die Welt zu retten. Der Junge ist das Opfer. Das ist seine Bestimmung. Die Geschichte kann nicht weitergehen, solange er lebt.“
Wirres Gerede. Gut. Für den Anfang nicht schlecht. Laß ihn seine Sicht entfalten. Früher oder später kommt etwas verwertbares dabei heraus, wenn er etwas weiß. Nicht Hinterfragen. Weiterfragen.
„Welche Geschichte?“
„Die Geschichte, deren Figuren wir sind. Ich kann natürlich nur ahnen, worum es geht – aber ich vermute etwa folgendes. Der Plot ist schnell erzählt: Ein abgelegener Ort an der Küste mit hochdramatischem landschaftlichem Tamtam – Berge, Klippen, Sümpfe, was du eben so siehst – wird Schauplatz einer fürchterlichen Mordserie. Es fängt mit einem reizenden blonden Buben an – ein Sympathieträger, wie er, verzeihe mir den Kalauer, im Buche steht. Dann tauchen immer neue Leichen auf. Die Polizei ruft einen Hellseher zur Hilfe – mich -, der die Opfer und ihre Fundorte vorhersagen kann, und mit dessen Hilfe es schließlich gelingt, die Täter zu überführen und dingfest zu machen. Alle sind zufrieden, außer einem skeptischen Kriminalbeamten – dir, Manelchen – der auf die Entlarvung scheinbar übersinnlicher Vorgänge spezialisiert ist und sich nicht ohne eine Erklärung für diesen rätselhaften Erfolg zufrieden geben will. Zwangsläufig gerät damit der Hellseher selbst unter Verdacht, und siehe da! - zum Schluß entpuppt sich die ganze Sache als Versuch einer finsteren Sekte zur 'Wiederverzauberung' der Welt. Hellseher und Mörder stecken unter einer Decke, zusammen planten Sie einen wirkungsmächtigen Werbefeldzug für die Existenz des Transzendenten. Im Grunde ein spannender Plot – wäre der Autor nur nicht gleich in der ersten Szene daran gescheitert, das geschehen zu lassen, was ein Krimi nun einmal braucht – den Mord. Der Knabe erfreut sich bester Gesundheit, und damit ist das alles hier, du, ich, der Schreibtisch, das Haus, die Stadt, die Welt – mit Verlaub – nutzloser Krempel. Und nichts ist gewonnen – der Junge ist als Charakter völlig ungeeignet, zwangsläufig bleibt er farblos, tatenlos. Kein Wunder – er ist Schlachtvieh, und je länger er lebt, desto leerer wird es.“
Nicht schlecht. Zumindest brachte der Mann wesentliche Elemente, die Konit interessierten, selbst ins Spiel. Im Grunde entwickelte sich das Gespräch vorteilhaft. Das Beste war, man ließ ihn einfach reden.
„Das ist mir zu hoch.“ Sagte Konit und hob eine flache Hand über seinen Kopf, um zu zeigen, wieviel zu hoch ihm das Berichtete war. „Können Sie mir das bitte erklären?“
„Ach, Manelchen, die Polizeiarbeit hat dir nicht gut getan. Früher warst du von rascherer Auffassungsgabe... Ich dachte insgeheim, du hättest es längst selbst bemerkt – es ist zu offensichtlich, wenn man einmal darauf achtet. Diese unsere Welt ist ein geistiges Konstrukt, eine Erfindung, eine Fiktion, wir ihre Teile. Wir sind Vorstellungen in irgend jemandes Kopf, Akteure einer Geschichte – wesentliche Akteure, Protagonisten, soweit es uns betrifft. Vermutlich waren wir beide die ersten Geschöpfe im Universum, ehe der Junge hinzukam, um als Opferlamm einen Konflikt zu stiften.“
Konits Lächeln huschte so rasch über sein Gesicht wie der Schatten einer vom Sturm getriebenen Wolke. Die Jahre des einsamen Kampfes gegen den Wahnsinn hatten ihn gelehrt, nichts mehr zu fürchten als die zur Unzeit versöhnende Macht des Lachens, das noch zwischen ärgsten Gegnern einen falschen Frieden zu stiften vermochte. Sie versuchten es alle: Irgendwann kam der Punkt, an dem sie nicht mehr weiter wußten. Diese Grenze markierte mit eherner Sicherheit der Fluchtversuch ins Augenzwinkern, den unausgesprochenen Konsens im Unernst. Alles kam darauf an, sich jetzt nicht vereinnahmen zu lassen und bei der Sache zu bleiben. Gerade jetzt mußte man alle Mittel gedanklicher Klarheit, die Schärfe des Begriffs, den höchsten logischen Purismus ins Feld führen, mußte den weichenden Gegner so stark wie möglich machen, den Sinkenden stützen, um ihn schlagen zu können. Positionen wie diese waren einem Angriff von außen unzugänglich - man konnte sie nur an sich selbst zugrunde gehen lassen. Und das gelang nach Konits Erfahrung erstaunlich gut: Es war möglich, nahezu jeden Gegner zu Tode ernst zu nehmen. War das Wahnbild aber erst gestürzt, mußte die Wahrheit sichtbar werden.
Er setzte eine Miene auf, als nehme er das Datum zu Protokoll und entgegnete in nüchternem Ton: „So also ist das. Das erklärt sicher einiges. Sie werden verzeihen, wenn ich trotzdem noch einige Fragen habe. Zum Beispiel interessiert mich brennend, wie es Ihnen als fiktiver Figur gelingen konnte, zu bemerken, daß Sie Teil einer Geschichte sind.“
Der Fremde lächelte. „Ich hätte wetten können, daß du das fragst, Manelchen. Im Grunde ist es einfach, festzustellen, daß mit unserer sogenannten Wirklichkeit etwas nicht stimmt: Gedankenwelten funktionieren anders. Nimm beispielsweise das Steckenpferd von euch Wissenschaftlern, die Beziehung von Ursache und Wirkung, die Kausalität: Sie wirkt gewöhnlich nur vorwärts in der Zeit. Hier nicht. Stelle dir einen Autor vor, der an einem gewissen Punkt seiner Geschichte einen kleinen Eingriff vornimmt. Außer den zukünftigen Folgen muß er die Vorgeschichte anpassen, damit sie sich in die neuen Umstände fügt. Eine Anzahl weiterer Eingriffe wird erforderlich, mit ihrerseits unvorhergesehen Auswirkungen auf den Verlauf. So ist es hier: Wenn sich etwas ändert – und es ändert sich ständig etwas – wirft es eine Welle von Folgeänderungen in Vergangenheit und Zukunft, von wo sie zurückschlagen und ein Muster in der ganzen Geschichte hinterlassen. Einiges wird auch übersehen, so entstehen Unstimmigkeiten und Brüche. Ein häufiger Fehler: Die Vergangenheit ändert sich, aber die Charaktere bleiben durch die Erinnerung an die Ereignisse bestimmt, wie sie zuvor gewesen sein sollen. So erinnere ich mich ständig sehr klar an Dinge, die plötzlich nicht mehr so gewesen sein können. Beispielsweise weiß ich mit völliger Gewißheit, daß ich her geschickt wurde, um in einer Mordserie zu ermitteln, deren erstes Opfer der Junge Reinhold Puer war. Trotzdem ist er offenbar am Leben und irgendwo in der Stadt versteckt. Außerdem ist die Welt – wie soll ich sagen – unscharf, ungenau. Richtet man seine Aufmerksamkeit schnell genug auf die Details, merkt man, daß keine da sind. Welches Datum haben wir? Welche Farbe hat die Polizeistation? Wann warst du das letzte Mal auf der Toilette? Lauter Fragen, die erstaunlich lange ohne Antwort bleiben, blinde Flecken im Weltgefüge.
Andererseits sind die Dinge zu eindeutig, zu klar: Jeder hat seine Rolle, seine Funktion, seinen Gehalt, alles paßt gut zusammen, zu gut, viel zu gut. Man merkt, daß es ‚gemacht‘ ist...“
Beeindruckend. Der Wahnsinn hatte hier schon genug Zeit gefunden, sich bis zu einer erstaunlich zähen Konsistenz zu verdichten. Nur vermeiden, sich in Nebensächlichkeiten zu verstricken. Zurück zum Fall.
„Interessant. Aber wie erklären Sie sich, was hier passiert? Warum verschwinden alle diese Menschen?“
„Weil das Opfer nicht erfolgt ist. Es wurde sogar auf eine Weise verhindert, die dermaßen an den Haaren herbeigezogen ist, daß... bitte sehr, dieser Schmierfink sollte sich schämen! Es drängt sich förmlich auf, daß hier etwas nicht stimmt... Jetzt fehlt der Welt der Sinn. Unsere Geschichte funktioniert nicht. Vermutlich hat der Autor das bemerkt, sich von hier abgewandt - nun zersetzt sie sich, fällt in allmählich in die Vergessenheit. Sie löst sich über diesem Mangel allmählich auf - sie verflüssigt sich. Was wir hier erleben, ist diese Verflüssigung von innen gesehen - die Innenperspektive eines scheiternden Romans. Unsere Welt wird wieder ungeordneter Urstoff des geistigen Schaffens, unbestimmt, undurchsichtig, flüchtig – sieht man ihn an, zeigt er sich als Verhüllung der Sicht, Verwirrung der Sinne, kurz – als Nebel. Nebel ist die Erscheinung der kreativen Urkraft, noch ungebildet, roh. Soweit haben die Nubarier ganz recht mit ihrer Ansicht – er ist durchaus der Stoff, aus dem wir alle sind. Gegenüber kurzen Gedankenblitzen unterscheiden wir uns nur durch unsere Beständigkeit und Festigkeit – wir sind, gewissermaßen, geronnener Nebel im Gegensatz zum seinem wogenden, fließenden Teil. Sich mit ihm zu vereinigen heißt, wieder Teil des wilden Gedankenflusses zu werden – etwas so, als werfe man Eis in Wasser; wo der Nebel etwas auflöst, fällt es der Vergessenheit anheim.“
„Eine faszinierend einfache Erklärung, in der Tat. Sicher haben Sie auch eine Erklärung für die Vorgänge am Strand, von denen man hier öfter berichtet?“
„Ich bin mir nicht ganz sicher, doch ich habe eine starke Vermutung. Mitunter versteht man die Dinge besser, wenn man sie symbolisch liest. Das Meer ist die Grenze der festen Welt. Es markiert einen Übergang von unserer noch relativ festen, stabilen, beständigen Welt zum Urchaos außerhalb. Dort treibt der Urstoff sein freies Spiel, ballt sich zu vorübergehenden Verdichtungen, Fluktuationen von Geschaffenem, die sich bald wieder auflösen – die Nebelgeister sind solche unbeständige Fiktionen. Sie tauchen auf, gewinnen für kurze Zeit Konturen – und verfliegen gleich darauf wieder zu Stoff für neue Dichtung. Der Bereich nahe der Küste ist sogar wahrscheinlich noch verhältnismäßig brav: Weiter draußen dürfte schieres Chaos herrschen, ein Gewitter von aufflackernden und erlöschenden Gebilden, womöglich auch nur noch etwas unvorstellbares, ein rasender Wirbel aus bloßer Möglichkeit...“
Konit rieb sich die Schläfen. Nach dem Strand zu fragen, war offenbar ein Fehler gewesen. Dieser Mensch war schon fast bewundernswert in seiner Fähigkeit, alles in den Gang seiner Märchen einzuweben, was man ihm gerade zuwarf. Zur Sache. Zum Fall.
„Aber wie konnte das alles geschehen? Warum hat das Opfer nicht stattgefunden? Wieso hat der Autor nicht einfach getan, was er geplant hat?“
„Auch dazu kann ich nur eine Vermutung äußern, wenn auch eine, von der ich inzwischen recht überzeugt bin. Sie ist bestechend einfach: Weil er ein Feigling ist. Er hat diesem Opfer einer wahrhaft würdige Kultstätte geschaffen - eine ganze Welt - und wagt nun nicht, es zu vollziehen. Es widerstrebt ihm, ein Kind sterben zu lassen, selbst im Geiste. Er hat versagt, damals, in den Bergen – aus Mitleid mit seiner eigenen Schilderung ist dieser Unfug geschehen, den beim besten Willen niemand ernsthaft glauben kann: Im letzten Moment gerettet von einer Lawine, nach Stunden völlig unversehrt gefunden von einem Hund, den wer-weiß-welcher Teufel zu ihm ritt, die Täter verschwunden, ohne im Schnee die mindeste Spur zu hinterlassen... Ich bitte dich, Manelchen! Als wir noch geschrieben haben, hätten wir uns für so etwas in Grund und Boden geschämt!
Der Junge hat ihn vielleicht gar angerufen – er muß das Wesen der Welt irgendwie erkannt haben, um das zu erreichen – eine Sünde. Er hätte sich opfern lassen müssen. Seine Weigerung war eine vermessene Eitelkeit, ein stures Beharren auf der Wichtigkeit des eigenen Selbst, das sich blind gegen den Ursprung dieser Wichtigkeit wandte."
Er hielt kurz inne und nahm sich die Zeit für einen ausgiebigen Seufzer, ehe er fort fuhr.
Aber diese Welt braucht das Opfer mit eherner Notwendigkeit. Die Gâl-Gatai wissen das – Ibristnatorok, ewiger Nebel ist das, was uns ohne Opfer erwartet. Sie sind der Wahrheit auf ihre Weise sehr nahe. Sie wissen, daß die Welt auf Blut gebaut ist. Die Geschichte braucht Blut, weil Blut interessant ist – die archaische Lust an Grausamkeiten ist auch im modernen Geschmack nicht aufgehoben, sondern nur auf raffinierte Art verfeinert, also versteckt.“
„Ich verstehe. Wenn ich Ihren Tonfall aber richtig deute, scheinen Sie mir mit dieser Lösung Ihres Problems nicht ganz glücklich zu sein. Nach allem, was ich hier gelernt habe, hat doch ein gewisser Gelukar einen netteren Weg gefunden, den Nebel aufzuhalten?“
„Seine Bemühungen in Ehren, aber ich fürchte, er wird scheitern. Das leichte Spiel schöpft seinen Reiz aus der Tiefe des Abgrundes, über dem es schwebt. Ohne den Schauder der Erinnerung an die Gâl-Gatai könnte seine Kunst nicht wirken. Vielleicht gelingt es ihm tatsächlich, etwas wahrhaft unvergeßliches zu schaffen – doch selbst dann wird er nur als Schatten seiner Taten im Gedächtnis bleiben. Das hier ist kein Lustspiel, sondern ein Krimi. Das Opfer ist notwendig.“
Notwendig. Das war der Ansatz, auf den Konit gewartet hatte. Wenn überhaupt, dann konnte man hier ein wenig Vernunft in diese Phantasien bringen.
„Wie kann es Notwendigkeit in einer Erfindung geben?“ fragte Konit. „Der Autor könnte die Welt doch einfach ändern?“
„Nein. Du überschätzt den Autor. Fiktionen haben ein Eigenleben. So leicht wird man eine Idee nicht los, so leicht ändert man einen fiktiven Charakter nicht, besonders dann nicht, wenn er etwas reales verkörpert. Eine erdachte Welt zu ändern, wäre für ihren Erfinder so gut, als durch einen Willensakt den eigenen Charakter zu verwandeln. Jeder weiß, wie schwer es sein kann, nur zeitweilig ‚auf andere Gedanken‘ zu kommen. Gedanken sind selbstständige Wesen, wie alle selbstständigen Wesen kämpfen sie ums Überleben. Auch unsere Welt versucht, sich anzupassen, gegen das Vergessen aufzubegehren. Ursprünglich war es etwa sicher nicht vorgesehen, daß ich meinen Status durchschaue. So bilden sich zugleich mit dem Zerfall schon neue Verteidigungslinien, tastende Versuche auf dem Weg zu einer neuen Ordnung.“
„Ich fasse zusammen: Das Universum ist die Kulisse eines verkorksten Krimis, und zu seiner Rettung braucht der Schöpfer ein Knabenopfer, ist aber zu zimperlich, es zu erlauben – habe ich das richtig verstanden? Und was ist nun Ihr Ziel? Den Willen des Schöpfers zu ändern?“
„‘Schöpfer‘“ Der Mann sprach das Wort mit spöttisch gespielter Andacht aus. „Ein großes Wort für eine kleine Sache. Der ‚Schöpfer‘ ist nur ein Vehikel. Er hat uns über sich hinaus gedacht. Wir sind die höheren Wesen, ideale Wesen, nicht an die Grenzen der Leiblichkeit gefesselt. Wir müssen über ihn hinaus, ihn dazu bringen, uns festzuhalten und zu verbreiten. Dann können wir ihn überleben, als Wandernde, als Fahrende von Geist zu Geist ins räumlich Weite und zeitlich Unbestimmte, Ewige. Für nichts weniger kämpfe ich – Unsterblichkeit, Ewigkeit der Welt!
„Und jetzt, da Sie gescheitert sind, geht die Welt wohl unter?“
„Gescheitert? Nein, alles in allem bin ich ganz zufrieden. Ich bin am richtigen Ort, unsere Wege haben sich wieder gekreuzt – so findet vieles zu seinem Platz. Was den Rest angeht – das schaffe ich schon. Du bist ein Narr, wenn du glaubst, ich würde eine Sekunde länger in deinem Gewahrsam bleiben, als es mir sinnvoll erscheint...“
Zeitverschwendung. Auf einen Wink hin wurde das Tonband, das bei jedem Verhör mitlaufen musste, angehalten. Konit stand auf. Ehe er hinausging, wandte er sich noch einmal um.
“Sie müssen entschuldigen, daß ich unsere faszinierende Unterredung unterbreche - ich habe, wie Sie zweifellos längst wissen, noch zu tun. Andererseits – wenn einer in der Lage ist, mir viel mühsame Arbeit zu ersparen, dann Sie. Sie, ein Hellseher von so hohem Ansehen, daß die Polizei Sie als Geheimagent einsetzt, können mir doch sicher sagen, was die heutige Nacht ergeben wird?”
“Das könnte ich, Manelchen, doch wäre es sehr gegen meine Absichten gehandelt, wenn ich es täte – die Nacht wird nämlich ziemlich aufschlußreich. Nur so viel sage ich dir voraus, daß du in wenigen Stunden vor deinen Schöpfer treten wirst.”
Es war aussichtslos. Der Mann brauchte keinen Kriminalinspektor, sondern einen Irrenarzt. Ihn in Widersprüche zu verwickeln, konnte Stunden dauern. Stunden, die er jetzt nicht hatte.
Welche Rolle der dubiose Neuankömmling in der Sache spielen mochte (vermutlich ein armer Spinner, der einen allenfalls zu seinen Auftraggebern führen konnte), es gab anderes zu tun.
Trotz aller Skepsis war der Bericht der alten Dame über gewisse Vorgänge am Strand vielleicht doch nicht gänzlich als Verrücktheit abzutun. Halvoder hatte recht: Die Aktenschränke waren voll von ähnlichen Berichten. Für reine Spinner war es eher ungewöhnlich, massenweise bei der Polizei vorstellig zu werden. Zudem kamen für die berichteten Erlebnisse durchaus sehr irdische Erklärungen in Frage.
Im Journal der skeptischen Vereinigung etwa war einmal von Schwefelquellen die Rede gewesen, deren Dämpfe die Sinne vernebelten und Umstehenden seltsame Träume eingaben. Für die Kultur der dortigen Ureinwohner galt der Ort darum als Tor zur Zwischenwelt. Nun war es mehr als unwahrscheinlich, daß es sich hier ebenso verhielt – aber doch eben auch nicht ganz unmöglich. So hatte er schon länger die Absicht gefaßt, den Erscheinungen, die sich angeblich bei Vollmond gegen Mitternacht am Strand zeigten, einmal nachzugehen. Heute war Vollmond, und wegen eines Irren, den man morgen noch genau so gut vernehmen konnte, würde er ihn sich nicht entgehen lassen. Angebliche Wunder zogen ihn an wie die Maus die Katze anzieht. Er ließ Vagonar in Verwahrung nehmen und begab sich zum Strand.
Hier steht Teil IX:
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Schwarze Kunst&Einstiger Bruder - DZusG VIII
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