Hast du jemals den Zement berührt? (Gedicht zu Gesicht Nr.1)

Louisa

Beitragvon Louisa » 16.07.2010, 20:52

Hast du jemals den Zement berührt als man ihn noch anrührte?
Ich kann dir sagen; blind bin ich auf Mauern losgerannt
und trag die Narben an der Stirn davon
weiß ich, dass es Sanftes gibt, das sich verhärten kann.

Hast du jemals dieses Kind gesehen als es noch angesehen war?
Es hat jeden Mann gefragt, ob er sein Vater sei –
Immer trug es weiße Kleider, im Bade sang es Lieder,
die es neu erfand, danach flocht seine Mutter lange Zöpfe
in sein Haar und die Damen sagten „Reizend!“ wenn es lachte.

Ich kann dir sagen, blind hat es gefragt ob wer sein Vater sei –
Bananen gab ihm einer, der nächste einen Zungenkuss,
am Ende war´s ein Kriegsgefangener, die Nr. 3

Ja, hast du dann das Kind gesehen, als es kein Kind mehr war?
Ich sah es noch und hörte es noch fragen –
Es hat die grauen Zöpfe noch getragen und auch das Lachen
war noch mit schiefen gelben Zähnen da

Es hat den Vater an den Lippen aller Männer noch gesucht
und die Mutter und die Welt hat es halb tot geschlagen –
hinter der Stirn trägt es die Narben noch davon
weiß ich, dass es Sanftes gibt, das sich verhärten kann.





Änderungen:

Ich habe die "ihr/e/s" und "sie" für das Kind in "es" und "ihm" umgewandelt.

Niko

Beitragvon Niko » 17.07.2010, 11:53

hallo louisa!
insgesamt gesehen spricht mich dieser text nicht sonderlich an. er wirkt auf mich etwas bräsig, zähfließend. und der text hat für mich keine seele. was mir aber immens gefällt ist "es hat den vater an den lippen aller männer gesucht" - das ist wirklich ein geniales gemälde.

liebe grüße: Niko

Quoth
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Beitragvon Quoth » 17.07.2010, 12:54

Liebe Louisa,
bis auf den sehr eklektischen Umgang mit Satzzeichen für mich ein guter Text. Vor dem "davon" hätte ich in beiden Fällen gern ein Komma!
Sehr gefällt mir der Beginn in der ersten Person ("ich"), dann das Umspringen in die dritte ("Das Kind"), dann spricht das "ich" über das Kind wie etwas Fremdes und ist doch mit ihm (wahrscheinlich) identisch. Zum Schluss rundet sich alles zu einer ein Leben umfassenden Biografie - toll!
In der dritten Strophe 4. Zeile müsste es eigentlich "seine" Mutter heißen, denn das Possessivpronomen kann sich ja wiederum nur auf "das" Kind beziehen. Aber zusätzlich zu den Zöpfen mag hier ein Hinweis auf die Weiblichkeit des Kindes gestattet sein.
Eine schöne Biografie/Lebensbeichte"!

Gruß
Quoth
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 17.07.2010, 19:44

Hallo Louisa,

dieses Gedicht, diese Geschichte finde ich sehr berührend und voller Seele.
Vor allem dieser Satz
Louisa hat geschrieben:weiß ich, dass es Sanftes gibt, das sich verhärten kann.

hat es in sich.
Bin sehr angetan von deinen Zeilen.

Saludos
Mucki

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 18.07.2010, 13:12

Liebe Louisa,

gefällt mir sehr. Du sprichst hier mM von einer rigiden Persönlichkeit, das sind die Menschen, die noch im hohen
Alter etwas Kindliches-Kindhaftes haben, weil ihnen damals das Herz gebrochen wurde. Meist vom Vater.

Und die Idee Weiche/Härte am Zement festzumachen finde ich schön.

Hier habe ich jedoch den Eindruck, dass ein Wort fehlt:
hinter der Stirn trägt es die Narben noch davon
weiß ich, dass es Sanftes gibt, das sich verhärten kann.

Gehört nicht: seitdem/seither weiß ich, dass ... ?

Liebe Grüße
ELsa
Schreiben ist atmen

Louisa

Beitragvon Louisa » 18.07.2010, 16:59

Hallo!

Lustig, dass Niko keine Seele findet und es für Gabriella voller Seele ist :smile: ! Das verwirrt mich ein bisschen!

Danke aber sehr für eure Interpretationen und Anmerkungen.

Wegen des "ihr" bzw. "sein" - was Quoth angesprochen hat: Ja, Quoth, das stimmt - ich dachte auch, dass es durch die Zöpfe klar ist - aber ich kann es auch gerne ändern.

Nun zum "davon" und den Kommata:

Ich habe es mir als doppelt verbindbares Enjambement gedacht. Ich dachte man könnte sagen:

"Ich trage Narben davon."

Und gleichzeitig könnte man sagen:

"Davon weiß ich, dass dies und jenes, etc...."

- Sodass das "davon" sich auf beide Zeilen bezieht. Sowas habe ich schon einmal bei irgendeinem anderen Dichter gesehen. Geht das hier nicht?

-Ähm- man kann es sicher so lesen, aber das "ich" ist nicht das Kind :smile: - Nur so nebenbei.

Schönen Tag euch allen!
l

Niko

Beitragvon Niko » 18.07.2010, 17:16

Lustig, dass Niko keine Seele findet und es für Gabriella voller Seele ist :smile: ! Das verwirrt mich ein bisschen!

das muss es nicht, louisa! jeder mensch hat eine andere wahrnehmung, unterschiedliche sensibilität. und dazu ist es immer auch eine momentsache...man empfindet nicht immer zu allen zeiten irgendetwas spezielles gleich....

liebe grüße: Niko

Mucki
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Beitragvon Mucki » 18.07.2010, 17:53

Louisa hat geschrieben:- Sodass das "davon" sich auf beide Zeilen bezieht. Sowas habe ich schon einmal bei irgendeinem anderen Dichter gesehen. Geht das hier nicht?

genau so habe ich es gelesen und bin deshalb auch nicht darüber gestolpert

Quoth
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Beitragvon Quoth » 19.07.2010, 19:52

Louisa, Du schreibst - und fragst:
- Sodass das "davon" sich auf beide Zeilen bezieht. Sowas habe ich schon einmal bei irgendeinem anderen Dichter gesehen. Geht das hier nicht?

Natürlich geht das, aber es stört den Lesefluss. Auch Elsa ist an dieser Stelle gestolpert und vermisst ein Wort. Für mich sind das kunsthandwerkliche Mätzchen, die Du nicht nötig hast, gerade Deine Texte fließen außerordentlich gut, das würde ich nicht beeinträchtigen.

Was ist daran toll:

Er brachte ihn um
die Ecke kam der Zeuge.

Das ist Ökonomie auf Kosten der Klarheit und nicht mehr als ein (ziemlich abgenutzter) Gag.

Im Folgenden habe ich mal die Zeichensetzung meinen Wünschen angepasst:

Hast du jemals den Zement berührt, als man ihn noch anrührte?
Ich kann dir sagen: Blind bin ich auf Mauern losgerannt
und trag die Narben an der Stirn, davon (besser Elsas Vorschlag: seither)
weiß ich, dass es Sanftes gibt, das sich verhärten kann.

Hast du jemals dieses Kind gesehen, als es noch angesehen war?
Es hat jeden Mann gefragt, ob er sein Vater sei –
Immer trug es weiße Kleider, im Bade sang es Lieder,
die es neu erfand, danach flocht die Mutter lange Zöpfe
in sein Haar und die Damen sagten „Reizend!“, wenn es lachte.

Ich kann dir sagen, blind hat es gefragt, ob wer sein Vater sei –
Bananen gab ihr einer, der nächste einen Zungenkuss,
am Ende war´s ein Kriegsgefangener, die Nr. 3.

Ja, hast du dann das Kind gesehen, als es kein Kind mehr war?
Ich sah es noch und hörte es noch fragen –
Es hat die grauen Zöpfe noch getragen, und auch das Lachen
war noch mit schiefen gelben Zähnen da.

Es hat den Vater an den Lippen aller Männer noch gesucht,
und die Mutter und die Welt hat es halb tot geschlagen –
hinter der Stirn trägt es die Narben noch, davon (besser Elsas Vorschlag: seither)
weiß ich, dass es Sanftes gibt, das sich verhärten kann.


Eine kaum behebbare Zweideutigkeit ergibt sich in der zweiten Zeile der letzten Strophe aus der Unerkennbarkeit, ob "die Mutter und die Welt" oder "es" das Subjekt bzw. das Objekt ist. Die Wahrscheinlichkeit spricht für "die Mutter und die Welt" als Subjekt, weil sie im Satz vorne stehen.

Die Gleichsetzung von Kind und Ich wird durch "Ich sah es noch" in der Tat ausgeschlossen, da hab ich nicht genau genug gelesen. Aber "ich" identfiziert sich stark mit diesem suchenden, später alten Kind, das die Narben hinter der Stirn trägt, die "ich" an der Stirn trägt.

Das Gedicht erinnert mich an das Schicksal der Deutschenkinder in Norwegen. Nur waren da die Väter nicht Kriegsgefangene, sondern (deutsche) Soldaten.

Gruß
Quoth
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

immekeppel

Beitragvon immekeppel » 20.07.2010, 09:52

liebe louisa,

ich finde dein gedicht interessant, auch wenn ich mich nicht tief berührt davon fühle, das liegt aber wohl eher an der situation, mit der ich an die texte hier heran gehe, die ist nämlich eine ganz andere als beim "erbauungslesen". wobei ich nicht sagen will, dass sich in diesem forum nichts erbauliches findet. aber zunächst sehe ich nur einzelnen bäume und wenn ich mich einlassen kann, wird ein text für mich so nach und nach zum wald... (dieser hier ist mittlerweile auch einer geworden)

mir ist zu dem "davon" ein ersatz eingefallen, der auch den (sprech)rhythmus mmn nicht stört

ich zitier mal die beiden letzten zeilen

"hinter der stirn trägt es die narben noch davon
so weiß ich... (oder auch "jetzt weiß ich" - das klänge beim sprechen so ähnlich wie ein auftakt in der musik)

und noch eins, aber das ist wohl schon gesagt worden "es" und "ihre" wäre grammatikalisch falsch, aber da gibt es ja schon den vorschlag "flocht ihm die mutter"

eins habe ich allerdings nicht verstanden - den zusammenhang zwischen dem zement, der noch angerührt wurde. wird er das denn heutzutage nicht mehr (ich glaube zu ahnen, dass du dies bild vor allem wegen des wortspiels berühren, anrühren und der doppeldeutigkeit in letzerem gewählt hast - aber für mich als hobbyhandwerkerin im baugewerbe klingt es etwas schief *g*)

lg

marion

wüstenfuchs

Beitragvon wüstenfuchs » 20.07.2010, 13:18

Zwischenmeldung, ich lese diesen Text immer wieder während der letzten Tage und blieb er beim ersten Mal verschlossen, so gleite ich langsam tiefer hinein und finde zunehmend Gefallen an der erzählten Geschichte...

Gruß
Fux

Louisa

Beitragvon Louisa » 20.07.2010, 19:31

Nur kurz: Danke - ich wurde schon von Aram darauf hingewiesen das "Zement" eigentlich ein irreführendes Bild ist, da man diesen nicht im Flüssigen Zustand berühren kann ohne sich einen ekligen Ausschlag wegzuholen ("Maurerkrätze", aram?) - zudem ist er sicherlich sehr heiß oder?

Mir gefiel eher der Klang.

Meine Frage: Was kann man denn anrühren und anfassen, was ist weich - bevor es hart wird? Es wäre schön, wenn man daraus Mauern bauen könnte und wenn es angenehm klingt.

Beton? Gips? Mörtel? - Das gefällt mir z.B. nicht wirklich.

Ich melde mich wieder!

Danke euch
l

Mucki
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Beitragvon Mucki » 20.07.2010, 20:03

Louisa hat geschrieben:Meine Frage: Was kann man denn anrühren und anfassen, was ist weich - bevor es hart wird? Es wäre schön, wenn man daraus Mauern bauen könnte und wenn es angenehm klingt.

Beton? Gips? Mörtel? - Das gefällt mir z.B. nicht wirklich.


wie wäre Gesso?
schau mal hier:
http://de.wikipedia.org/wiki/Gesso

Quoth
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Beitragvon Quoth » 21.07.2010, 08:01

Hallo, Louisa, das doppelte -rühren in der ersten Zeile hat mich eh gestört. Wie wäre es mit
"Hast du jemals den Zement berührt, bevor er abband?"
"Abbinden" heißt dies hart Werden, dem ein weicherer Zustand vorausgeht.
Und da Zement nie rein, sondern immer mit Sand oder Kies zu Beton vermischt wird, ließe sich auch denken an
"Hast du jemals den Beton berührt, bevor er abband?"
Heiß wird da übrigens nichts.
Gruß
Quoth
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.


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