WORT DER WOCHE
- jede Woche ein neues Wort als Musenkuss -
Lyrik, Prosa, Polyphones, Spontanes, Fragmente, Schnipsel, Lockeres, Assoziatives, Experimentelles
- alles zu diesem Wort - keine Kommentare - alles in einem Faden - 7 Tage Zeit -
~ D I A G N O S E ~
Wort der Woche ~ DIAGNOSE ~
Wenn wir nach einer Diagnose suchen, dann suchen wir nach Worten. Aber wenn wir alle gefundenen Worte übereinanderschichten, dann können wir sie nicht mehr lesen. Dann müssen wir uns erinnern, was zuerst aufgeschrieben wurde. Ich glaube, ganz am Anfang wollte ich nicht allein sein.
Heute trinke ich gierig die einsamen Stunden. Manchmal zähle ich sie, zum Beispiel morgens, wenn ich nachmittags zur Arbeit muss. Wenn es neun Uhr ist, dann wird mir bange, dass es bald zehn ist. Wenn es zehn ist, wird mir bange, dass es bald elf ist. Und so geht es immer weiter, bis es halb eins ist. Die Diagnose heißt Ausweglosigkeit. Zum Glück funktioniert sie auch rückwärts. Wenn es sechs ist, freue ich mich, dass es bald sieben ist, wenn es sieben ist, dass es bald acht ist.
Am allerletzten Zipfel meines Lebens werde ich allein sein. Wahrscheinlich werde ich es nicht gewollt haben. Bis dahin zähle ich jeden Tag, bis du kommst.
Heute trinke ich gierig die einsamen Stunden. Manchmal zähle ich sie, zum Beispiel morgens, wenn ich nachmittags zur Arbeit muss. Wenn es neun Uhr ist, dann wird mir bange, dass es bald zehn ist. Wenn es zehn ist, wird mir bange, dass es bald elf ist. Und so geht es immer weiter, bis es halb eins ist. Die Diagnose heißt Ausweglosigkeit. Zum Glück funktioniert sie auch rückwärts. Wenn es sechs ist, freue ich mich, dass es bald sieben ist, wenn es sieben ist, dass es bald acht ist.
Am allerletzten Zipfel meines Lebens werde ich allein sein. Wahrscheinlich werde ich es nicht gewollt haben. Bis dahin zähle ich jeden Tag, bis du kommst.
Beim Wort Diagnose fällt mir immer auch das Wort Dialog ein.
2010 war es soweit, ich forderte die Ärzte heraus: Redet mit mir, erklärt mir, was ich tun muss, tun kann. Ich will kein Verordnungs-Empfänger oder Rezept-Erfüllungsgehilfe sein, sondern mitarbeiten. Schließlich geht es um mich, meinen Körper.
Ich quetschte sie aus, fragte nach Bedeutung der Vokabeln, nach Auswirkungen und nach Möglichkeiten der Behandlung, sowie nach Nebenwirkungen der Medikamente, nicht nach einem Leben mit der "Diagnose", sondern mit der Erkrankung.
Dem, was sie nach sich zog, waren selbst die Ärzte ausgeliefert, trotz ihres Reichtums an Wissen. Aber man kann eben nicht alles auszuschließen, genauso wenig auf alle Eventualitäten vorbereitet sein
Der Dialog half immer besser und effektiver die Diagnose anzunehmen.
Es geht mir gut.
2010 war es soweit, ich forderte die Ärzte heraus: Redet mit mir, erklärt mir, was ich tun muss, tun kann. Ich will kein Verordnungs-Empfänger oder Rezept-Erfüllungsgehilfe sein, sondern mitarbeiten. Schließlich geht es um mich, meinen Körper.
Ich quetschte sie aus, fragte nach Bedeutung der Vokabeln, nach Auswirkungen und nach Möglichkeiten der Behandlung, sowie nach Nebenwirkungen der Medikamente, nicht nach einem Leben mit der "Diagnose", sondern mit der Erkrankung.
Dem, was sie nach sich zog, waren selbst die Ärzte ausgeliefert, trotz ihres Reichtums an Wissen. Aber man kann eben nicht alles auszuschließen, genauso wenig auf alle Eventualitäten vorbereitet sein
Der Dialog half immer besser und effektiver die Diagnose anzunehmen.
Es geht mir gut.
Offene Wunden
Es riecht nach frischer Wäsche und alten Gerüchten. Eine Diagnose ist ja auch nichts anderes als ein Gerücht. Alles fühlt sich vorläufig an, seit der Arzt dieses Gerücht in die Welt gesetzt hat. Seit dieses Urteil sich ausbreitet und mein Leben unaufhörlich verändert.
Verkürzt.
Seit ich es weiß, gibt es nichts Tröstendes mehr, was sich nicht sofort in sein Gegenteil verwandelt.
Am Himmel klafft eine offene Wunde, aus der fliesst unaufhörlich die Zeit.
Es riecht nach frischer Wäsche und alten Gerüchten. Eine Diagnose ist ja auch nichts anderes als ein Gerücht. Alles fühlt sich vorläufig an, seit der Arzt dieses Gerücht in die Welt gesetzt hat. Seit dieses Urteil sich ausbreitet und mein Leben unaufhörlich verändert.
Verkürzt.
Seit ich es weiß, gibt es nichts Tröstendes mehr, was sich nicht sofort in sein Gegenteil verwandelt.
Am Himmel klafft eine offene Wunde, aus der fliesst unaufhörlich die Zeit.
Die Zeit arbeitete für ihn. Das wusste er, seit dem Tag, an dem er die Diagnose erhalten hatte. Solange es die Ärzte schafften, den Schaden mit den herkömmlichen Medikamenten zu begrenzen und die Forschung in dem enormen Tempo voranschritt, hatte er eine große Chance. An jenen Tagen, an dem es ihm besonders schlecht ging, klammerte er sich an diesen Zeitfaktor und an den Zeitpunkt, an dem er das neue Mittel erhalten würde.
Seine Diagnose hatte Kräfte geweckt, von denen er bisher nichts gewusst hatte. Andere Betroffene kamen zu ihm, nur um zu reden und obwohl er eher der introvertierte Typ war, konnte er Gespräche führen und trösten.
Seine Diagnose hatte Kräfte geweckt, von denen er bisher nichts gewusst hatte. Andere Betroffene kamen zu ihm, nur um zu reden und obwohl er eher der introvertierte Typ war, konnte er Gespräche führen und trösten.
Sie beschreibt dem Arzt ihre Beschwerden. Er checkt sie von oben bis unten durch.
Seine Diagnose: kein Befund, es ist psychosomatisch.
Sie kann ihren Kopf kaum bewegen, der Drehschwindel ist unerträglich. Sie findet sich mit seiner Diagnose nicht ab, liest den Beipackzettel des Medikamentes, das sie seit Jahren nimmt (der Arzt weiß davon), noch einmal durch. Recherchiert im Pschyrembel nach jedem einzelnen Wirkstoff. Sie lässt nicht locker. Durch Links und Sublinks gelangt sie auf die Schlüsselzeile. Eines der Wirkstoffe kann einen Drehschwindel erzeugen. Dieser Drehschwindel bedeutet eine allergische Reaktion. Sie ersetzt das Medikament durch ein anderes, bei dem dieser zusätzliche Wirkstoff nicht enthalten ist. Der Drehschwindel hört augenblicklich auf. Sie ist erleichtert, informiert den Arzt darüber. Er meint, es sei Unsinn. Sie würde sich das einbilden. So eine Allergie existiere nicht.
Ihre Diagnose: beratungsresistent.
(für Marlene)
Der letzte Brief seines Schwagers hatte brennende Wut in ihm ausgelöst, einen unbändigen Hass. Nach dem Tod seiner Frau war sein eigenes Leben sinnlos, aber er würde nicht abtreten, ohne dafür zu sorgen, dass dieser Dreckskerl am Ende büßen musste. Er suchte in den buckligen Bodendielen nach einer größeren Ritze, klemmte das Schwert „Anduril“, das er gleich nach dem Kauf messerscharf hatte schleifen lassen, schräg mit der Spitze nach oben hinein und beschwerte den Knopf mit einem marmornen Pflanzenständer.
Ein paar Probeläufe waren unumgänglich. Er nahm dazu Ingelieses alten Schießbudenteddybär. Es fiel ihm nicht leicht, aber er baute darauf, dass Ingeliese auf seiner Seite war. Obwohl sie seit acht Jahren nicht mehr war, redete er noch immer mit ihr. „Nimm keine Rücksicht“, hörte er sie sagen. „Wir sind uns doch einig. Mein Bruder war schon immer ein Arschloch.“
Nachdem seine Versuche den Plüschrücken des Teddybären nahezu zerfetzt hatten, zog er ihm ein altes Fan-T-Shirt von St. Pauli über, setzte ihn in die Sofaecke zurück, stellte sich vor dem eingeklemmten Schwert in Positur und ließ sich rückwärts hineinfallen. Im Geist hörte er den Rechtsmediziner sagen: „Klare Diagnose. Bei einem Langschwert im Rücken können wir Selbstmord ausschließen.“ Den Brief des Schwagers hatte er gut sichtbar ausgelegt. Es konnte keinen Zweifel geben.
Das Schwert schnippte von seinem Rücken ab und zerriß mit scharfem Laut seine Lederjacke und das Baumwollhemd darunter. Das Letzte, was er sah, war der vorwärts kippende Pflanzenständer mit der Hängepetunie obendrauf. Das Letzte, was er hörte, war die Stimme des Rechtsmediziners in seinem Kopf: „Klare Diagnose: Drittklassiges Dekorationsschwert, aber solider Blumentopf.“
Der letzte Brief seines Schwagers hatte brennende Wut in ihm ausgelöst, einen unbändigen Hass. Nach dem Tod seiner Frau war sein eigenes Leben sinnlos, aber er würde nicht abtreten, ohne dafür zu sorgen, dass dieser Dreckskerl am Ende büßen musste. Er suchte in den buckligen Bodendielen nach einer größeren Ritze, klemmte das Schwert „Anduril“, das er gleich nach dem Kauf messerscharf hatte schleifen lassen, schräg mit der Spitze nach oben hinein und beschwerte den Knopf mit einem marmornen Pflanzenständer.
Ein paar Probeläufe waren unumgänglich. Er nahm dazu Ingelieses alten Schießbudenteddybär. Es fiel ihm nicht leicht, aber er baute darauf, dass Ingeliese auf seiner Seite war. Obwohl sie seit acht Jahren nicht mehr war, redete er noch immer mit ihr. „Nimm keine Rücksicht“, hörte er sie sagen. „Wir sind uns doch einig. Mein Bruder war schon immer ein Arschloch.“
Nachdem seine Versuche den Plüschrücken des Teddybären nahezu zerfetzt hatten, zog er ihm ein altes Fan-T-Shirt von St. Pauli über, setzte ihn in die Sofaecke zurück, stellte sich vor dem eingeklemmten Schwert in Positur und ließ sich rückwärts hineinfallen. Im Geist hörte er den Rechtsmediziner sagen: „Klare Diagnose. Bei einem Langschwert im Rücken können wir Selbstmord ausschließen.“ Den Brief des Schwagers hatte er gut sichtbar ausgelegt. Es konnte keinen Zweifel geben.
Das Schwert schnippte von seinem Rücken ab und zerriß mit scharfem Laut seine Lederjacke und das Baumwollhemd darunter. Das Letzte, was er sah, war der vorwärts kippende Pflanzenständer mit der Hängepetunie obendrauf. Das Letzte, was er hörte, war die Stimme des Rechtsmediziners in seinem Kopf: „Klare Diagnose: Drittklassiges Dekorationsschwert, aber solider Blumentopf.“
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
(Ikkyu Sojun)
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
(Ikkyu Sojun)
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