Nachtwunsch

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Rala

Beitragvon Rala » 26.07.2012, 22:11

Danach, dachtest du, sei Stille. Tiefste Dunkelheit, schwärzestes Schwarz. Der Abspann und dann nichts mehr. Du liegst da und meinst, du hast es geschafft, es ist vorbei, endlich. Wie lange du so liegst, weißt du nicht, du hast dein Zeitgefühl irgendwo da draußen gelassen, schon ziemlich bald, nachdem alles begonnen hat. Du willst es jetzt auch nicht mehr, du brauchst keine Zeit mehr. Hattest eine Weile zu viel davon, genug für mehrere Leben, ohne etwas damit anfangen zu können. Willst nur noch sein, hier jetzt allein einfach so. Wenn es schon das Vorher nicht mehr gibt. Vielleicht warten, bis etwas Ähnliches wiederkommt. Sonst nichts.
Da liegst du nun, wunderbar eingebettet in deine Nacht, beginnst wieder zu fühlen, dich zu fühlen, dich gut zu fühlen. Siehst wieder andere Bilder in deinem Kopf, mit weniger Weiß, mehr Bunt, mehr Leben, Dinge von früher. Doch dann kommt von irgendwoher eine Stimme, reißt die Stille um dich herum ein, brennt im Bruchteil einer Sekunde die gesamte Dunkelheit nieder. Schnürt dich in ein Pflichtenkorsett, sperrt dich in einen Terminplan, obwohl du lieber planlos in Stücke zerfielest. Sagt, du musst lernen, wieder am Leben da draußen teilzunehmen. Du hast keine Chance. Sie fragen dich nach deinen Wünschen, doch das ist offenbar nur eine Formalität, niemand nimmt dich wirklich ernst. Deine Wünsche widersprechen ihren eigenen, die sie an dich haben, es ist, als müsstest du dich schuldig fühlen, ihren Erwartungen nicht zu entsprechen. Deine Situation hat bestimmte Anforderungen zu erfüllen, irgendwo muss das mal jemand festgelegt haben. Du musst jetzt auf die Bühne, obwohl du niemals berühmt werden wolltest, musst deine Rolle spielen. Eigentlich hättest du es wissen müssen. Die Erinnerung ist überall, hier in deinem Kopf, in deinen Poren hat sie sich festgesetzt für alle Zeit, und in den Köpfen der Menschen da draußen. Sie ist stärker als du, stärker als deine Nacht.

Und sie.

Die, die aus ein paar aufgeschnappten Stichworten, Fantasiebildern und einer Portion Klischee einen spannenden Erlebnisaufsatz zusammenrühren, wie sie es in der Grundschule gelernt haben. Was von all dem wahr ist, ist nicht so wichtig, Hauptsache, sie können alles, inklusive deiner Aussagen, zu einer Sensation verarbeiten. Und auch die, die es lesen und nur zufrieden sind, wenn ihnen ein Mindestmaß an Sensation geboten wird. Die eine Nahaufnahme von deiner Wunde sehen wollen, all die ekligen Details, sie notfalls auch wieder aufreißen, falls der Heilungsprozess schon begonnen hat. Warum auch immer, vielleicht, damit sie sich wieder ein wenig mehr über ihr eigenes angenehm fades Leben freuen können. Ein geschlossenes System, das wunderbar funktioniert, ganz gleich, ob du mitspielst oder nicht.

Der, der dich anstarrt, pausenlos, als seist du diejenige, die etwas vor ihm zu verbergen hat, etwas anderes außer dir selbst, als versuche er, den nackten Kern aus dieser Schale zu brechen, die du dir so mühsam erarbeitet hast. Als versuche er, deine DNA zu extrahieren, für den Fall, dass der andere Spuren darauf hinterlassen hat. Wie unpraktisch, dass sich von Seelen keine Fingerabdrücke nehmen lassen.

Der, der auf dich einredet, versucht, dir zu helfen auf die einzige Weise, die er kennt, indem er Verstehen demonstriert, von dem du weißt, dass es das nicht geben kann, nicht bei ihm. Wie sollte er. So etwas kann man nicht studieren. Der dir das Gefühl gibt, du seist hier diejenige, die verrückt ist. Ausgerechnet du. Und du musst aufpassen, dass du nichts Falsches sagst, sonst wirst du tatsächlich noch zur Irren erklärt. Was jeder natürlich verstehen würde, aber das würde dir nicht helfen. Dieser Geruch nach Desinfektionsmittel, kann man damit Seelen reinigen? Dein Blick klebt zwanghaft an dieser Wampe, der Hosenbund stramm über das rotkarierte Hemd gezogen, genau wie ...

Warum.
Wir müssen Licht in die ganze Sache bringen, sagen sie alle.

Licht, ja.
Er hat es brennen lassen, die ganze Zeit. Immer Licht. Immer. Licht hat er gemacht, nachdem es stundenlang nur engste Dämmerung gegeben hat, in die er dich eingewickelt hatte wie eine Mumie, sodass du nicht einmal genau mitbekommen hast, womit er dich transportiert hat, es wird wohl eine Art Lieferwagen gewesen sein; das seltsam wabernde Wellenmuster des Kopfsteinpflasters das letzte Bild, das sich in deinen Augen festgesetzt hatte, dir wurde schlecht davon und von dem Gerüttel … Dann plötzlich das Licht, das dich beinahe erschlagen hat. Das das Bild wieder aus deinen Augen gewaschen, sie gereinigt hat, gründlich. Ganz in seinem Sinne. Ein Raum, weiß, alles hell, grell. Nicht angefasst, das nicht. Nur Blicke. Wasserblaue nackte Augen, keine Wimpern. Angestarrt pausenlos. Zieh dich aus. Du Schlampe. Schau dich an, wie dreckig du bist. Drecksau. Schlampe. Los, wasch dich! Hier! Ich will sehen, wie du dich wäschst. Gründlich! Weiter, weiter! Überall! Noch mal, das reicht noch nicht. Ich kann immer noch riechen, wie du stinkst. Setz dich jetzt hin, aufs Bett. Nein, du ziehst dich nicht wieder an. Ich muss dich sehen können. Muss doch sehen können, ob du sauber bleibst. Wenn er gelegentlich den Raum verlassen hat, hast du seinen ekligen fetten Nacken sehen können. Rotgebrannt, verschwitzt, faltig, ein frisch ausrasierter weißer Rand. Auch wenn er nicht da war, war er immer präsent. Die Kameras waren in dem nackten Raum nicht zu übersehen. Weiße Wände, weißes Bett, der Bettkasten fest verschlossen, nichts zum Zudecken, kein Winkel, in dem du dich hättest verbergen können. Und immer das Licht in deinen Augen, auf deinem Körper. Der ständige Aufprall des Lichts hat deine Haut erst verbrannt, dann geschmiedet, bis du es nicht mehr gespürt hast, irgendwann. Jede einzelne Pore hat sich verschlossen, nichts mehr herein- oder hinausgelassen, bis deine Haut hart war wie Stahl. Und deine Seele. Und dein Kopf wurde leerer, als brenne dieses Licht alles heraus, an was du gerne gedacht hättest, gerade in dieser Situation, du kamst nicht mehr an die Bilder, die Stimmen, die Gefühle heran, die doch über Jahre sicher darin verwahrt waren. Durchdringender Geruch nach Desinfektionsmittel, das er ständig versprühte, reichlich. Diese Temperatur, so, als gebe es keine. Das Bett nichts als eine harte Matratze, überzogen mit weißem Leinen, das daran festgenäht war. Obwohl es ganz glatt war, hast du dich bald wundgescheuert gefühlt davon, aber nur so lange, bis du dich selbst dann nicht mehr gespürt hast. Die eigene Stimme bei jedem Laut sofort vom Raum verschluckt, deine Ohren fühlten sich verschlossen an wie bei einer Landung mit dem Flugzeug. Ungetoastetes Weißbrot, gekochter Reis ohne irgendetwas dazu und Wasser, schon nach kurzer Zeit würgte es dich nur noch. Toilettengänge unter Aufsicht. Immer wieder waschen, Zähne putzen, waschen, Zähne putzen. Keine Tage, keine Nächte, keine Zeit. Nichts. Ein weißes leeres Nichts ohne Nacht.
Irgendwann in diesem Nichts kam plötzlich jemand. Zog dir Kleider an und löschte das Licht. Es war dein schönstes Erlebnis seit einem längst vergessenen Zeitpunkt. Ein Nachhausekommen nach einer langen Reise. Du hast geheult, gekotzt vor Erleichterung, dich danach schmutzig gefühlt und es genossen, hast alles an Essen in dich reingestopft, was man dir hingestellt hat, hast dich ins Bett bringen lassen wie ein kleines Kind, Tür zu, Licht aus. Nach einer Weile ließ auch das Licht in deinen Augen nach, die grellen Bilder, konntest du die Dunkelheit wieder sehen. Konntest wieder nächtliche Bilder träumen. Du hast wieder angefangen zu leben, das, was du selbst unter Leben verstehst. Und dachtest, du könntest am nächsten Morgen aufwachen und alles wäre wie immer, du könntest ganz normal aus dem Haus gehen und zur Arbeit, die üblichen Leute treffen, über banale Dinge reden, wieder in Ruhe deinen gewohnten Alltag weiterführen. Vergessen.

Und jetzt kommen sie, jetzt, da du endlich deine Nacht wiedergefunden hast, kommen und zerren dich wieder ans Licht, sagen, zieh dich aus, wir wollen dich sehen, müssen doch sehen, was er dir angetan hat, wie er dich beschmutzt hat. Müssen dir doch helfen, wieder sauber zu werden. Dich von dem Schmutz zu reinigen, den er auf dir hinterlassen hat. Zieh dich aus, stell dich ins Licht, da bist du sicher, da können wir auf dich aufpassen, die ganze Zeit. Licht, weiße Wände, weißes Bett, Kameras. Die Vorstellung geht los, die Kulissen sind aufgebaut, die anderen Spieler stehen bereit. Nur noch die eine Puppe fehlt, die die Hauptrolle spielt. Die Nacht ist vorbei. Danach gibt es nicht.
[align=right]©2008 ACAM[/align]

Mucki
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Beitragvon Mucki » 26.07.2012, 23:34

Hallo Rala,

puh, das geht mir sehr unter die Haut. Schaurig gut schilderst du hier auf sehr authentische Weise, was das LI fühlte und fühlt, wie seine Sinne sich - aufgrund der schlimmen Erfahrung - verändert haben und eben doch nicht, weil es für das LI kein Danach gibt, es ständig mit und in dieser schlimmen Erinnerung lebt.
Ein unglaublich ausdrucksstarker und beklemmender Einblick in das Ausgeliefertsein, der mich so schnell nicht loslassen wird.

Liebe Grüße
Gabi

pjesma

Beitragvon pjesma » 27.07.2012, 01:46

hallo rala
ja, sehr beeindruckend!
mehr noch als schrekliche erfahrung selbst, des LI, beeindruckt mich (und erschreckt!) die präzise studie der "helfer"...fein gearbeitet...ich lese aus dem text auch eine überlegung und sich fragen ob die fremde hilfe überhaupt möglich ist, bzw. wo die empatie an ihre grenzen stößt (ist nichtgeteilte erfahrung schon die grenze?bei extremen erlebnissen sicherlich...)...ich weiß nicht warum, mir fällt bei der geschichte eine alte diskussion mit jocubs in lit cafe...einer sagte: man solle den anderen nur das antun, was man sich wünsche dass der andere einem auch tut...und der j.fragte: aber weiß man, von sich aus ausgehend, dass der anderer das selbe wünscht? so kommen mir diese helfer hier rüber, so sehr in eigenem empfindung gefangen...sie gehen gar nicht aus sich hinaus auf kritischen abstand und ins unbekannte, um zu helfen, sondern schlupfen in das lebendiges nächstes, irgendwie, wie blutsauger...womöglich wohlwollend,aber sicherlich nicht vordergründig wohlwollend, denkend aber, sie wären wohlwollend....
eine gruselige geschichte!

(und jetzt soll ich gute nacht haben :eek:

lg ;-)

Rala

Beitragvon Rala » 27.07.2012, 20:55

Hallo, ihr zwei,

tut mir leid, dass ich euch so gequält habe. Aber andererseits ist das wohl auch irgendwie posiziv ... Jedenfalls danke fürs Lesen!

Liebe Grüße,
Rala

Mucki
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Beitragvon Mucki » 27.07.2012, 21:46

Hallo Rala,

nein, nicht gequält, sondern aufgerüttelt! Du hast so eindringlich geschrieben, dass es mich fast sprachlos macht.
Wirklich beeindruckend!

Lieben Gruß
Gabi

Gerda

Beitragvon Gerda » 29.07.2012, 11:30

Liebe Rala,

sehr gut eingefühlt hast du dich in die beklemmende Situation einer Entführung durch einen Psychopaten und der Befreiung des Opfers. Dass das Opfer die Befreiung nicht (sofort) als echte Befreiung empfindet, weil es Aussagen machen muss, Fragen beantworten, hast du gut heraus gearbeitet.
Die Perspektive ist eine reflektive Monologsituation, nicht einfach aber sie eignet sich m. E. bestens, um den Leser bis zum Schluss zu interessieren und mitzunehmen ... auch in die Beklemmung.
Man weiß es ja ganz allgemein, dass es schwer ist Traumamta aufzuarbeiten, wenn man diesen beim Bericht darüber immer wieder begegnet. Das hast du hier zum eigenständigen, alleinigen Thema gewählt und bewältigt, was nicht einfach ist.
Du bleibst an keiner Stelle hinter den sich bietenden, auch stilistischen Möglichkeiten, die dir der Stoff bietet. Du langweilst mich nicht eine Sekunde.

:daumen:

Liebe Grüße
Gerda

Rala

Beitragvon Rala » 04.08.2012, 21:37

Hallo Gerda,

(entschuldige meine späte Antwort, ich schaff's zurzeit nicht so oft hier rein) danke auch dir! Freut mich! :-)

Liebe Grüße,
Rala

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 17.03.2013, 10:34

Hallo Rala,

eben habe ich deine Geschichte gelesen.

Zeitweise musste ich an Kafka denken, den ich, außer einer kleinen Erzählung ("Die Verwandlung") nie gelesen habe.

Langsam wird mir bewusst, dass ich in diesem Forum von wirlkich guten Schriftstellern und Dichtern umgeben wird. Von ihnen zu lernen ist mein Hauptanliegen.

Die Lektüre deines Textes hat mich reicher gemacht.

Am Anfang dachte ich, hier spricht eine Schausspielerin, vielleicht ist es auch so, dann, langsam, wurde mir bewusst, hier wird eine Entführung dargestellt, das Erlebnis einer entführten Frau.

Vielleicht steht das Ganze für das Leben? Eine Allegorie also?

Ich weiß es nicht, kann nur raten.

Eine vollkommene Beherrschung der Sprache.

In meiner Seele konnte ich das Meiste nachvollziehen. Wie man dunkle Naturgewalten auf sich wirken lässt.

Draußen schneit es. Ein dunkler, pechscharzer Rabe lässt sich auf einem Ast nieder. Er bebbt vor Leben. Ich denke, er sei das Herz des Baums.

Ich bin tief beeindruckt von deinem Text. Er hinterlässt Spuren in mir.


LG


Carlos

Rala

Beitragvon Rala » 09.04.2013, 22:21

Hallo Carlos (unbekannterweise),

entschuldige, dass ich so spät antworte, ich komme in letzter Zeit nicht wirklich oft dazu hier reinzuschauen. Es freut mich sehr, was du schreibst, danke! :-)

Liebe Grüße,
Rala


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