Indische Bäume

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Klimperer

Beitragvon Klimperer » 17.05.2013, 18:38

Wir hatten gerade unsere Koffer ausgepackt, als das Telefon klingelte, eine junge, männliche Stimme fragte auf Deutsch, ob wir mit dem Zimmer zufrieden seien, ob alles in Ordnung wäre. »Ja, ja, alles ist sehr gut«, stammelte ich. Da lachte der junge Mann am Telefon und sagte: »Ich bin es, ich warte hier unten im Foyer auf euch.« Fünf Minuten später fuhren wir mit dem schnellen Aufzug hinunter. Da war er, Diego, mein Sohn. Schon seit Jahren hat er keine Haare mehr auf dem Kopf, oder er rasiert sich gründlich. Die dichten Haare, das Einzige, das ich ihm hätte vererben können ... Trotzdem finde ich, dass er sehr gut aussieht, gerade mit dieser Glatze, er hat ein schönes und sehr männliches Gesicht. Es muss gegen neun Uhr abends gewesen sein, wir liefen zu einem Lokal etwa fünf Minuten entfernt, brauchten aber dreimal so lange, weil Heike nur sehr langsam gehen kann. Aber ich habe es nie eilig, wenn ich mit ihr zusammen bin.
Vor dem Eingang des Lokals saß ein bewaffneter Wächter, wie vor fast allen Lokalen. Wenn jemand eine Tasche bei sich hat, muss man sie öffnen, aber ein Blick oder ein schneller Griff reichen ihm. Diese Menschen stehen aber nicht als bezahlte Fremde, als Söldner da, sie scheinen zum Laden zu gehören, auch wenn sie das natürlich für Geld tun. Bezahlte Patrioten, könnte man sagen.
Es waren einige Kellner beiderlei Geschlechts da, sofort kam eine Kellnerin zu uns, Diego unterhielt sich kurz mit ihr, uns wurde ein Tisch empfohlen, und da saßen wir etwa eine Stunde. Wir hatten im Flugzeug gegessen und wollten nur etwas trinken, ich ein Bier, Heike einen Weißwein, Diego Wasser. Er trinkt keinen Alkohol und keinen Kaffee, er trinkt nur Wasser.

Wir liefen zurück zum Hotel. Diese Stadt erinnerte mich an Guayaquil, der Verkehr, der Lärm, die Häuser, die Straßen, die Hitze. Im Unterschied dazu gibt es hier aber viele Bäume. Diego erklärte uns, dass die großen Bäume neben dem Hotel, die in der ganzen Stadt anzutreffen sind, vor hundert Jahren aus Indien eingeführt wurden. Man wählte sie aus wegen ihrer wunderbaren weißen Blüten ... Nur, hier entstehen solche Blüten nicht, weil die Fliegen oder Bienen fehlen, die in Indien dafür sorgen. Man sieht nur überall auf dem Bürgersteig schwarze Kügelchen, die täglich gekehrt werden müssen.

Benutzeravatar
Pjotr
Beiträge: 6828
Registriert: 21.05.2006

Beitragvon Pjotr » 18.05.2013, 02:44

Hallo Carlos,

wenn mir im Internet ein Text begegnet, breche ich meist nach den ersten zwei Sätzen aus Langeweile ab. Wie schaffst Du es bloß, dass ich Deine Geschichten immer zu Ende lese? Wie geht das? Ich will das wissen. Am flüssigen, eingängigen Schreiben allein kanns nicht liegen. Wahrscheinlich sind es so unterbewusste gedankliche Verknüfungen, die das Lesen spannend machen. Ich glaube, bei Deinen Geschichten habe ich immer das Gefühl, es kommt noch was. Und es kommt auch tatsächlich was. Auf stille Weise. Gedankenbrücken bauen sich still auf. Ich liebe Brücken.

Zufälligstmerkwürdigerweise habe ich vor ein paar Minuten, bevor ich Deinen Text sah, im Forum einen Kommentar geschrieben, in dem die Wörter "Gully" und "kehren" vorkommen. -- Das ist jetzt eine andere Art von Gedankenbrücke, nicht das, was ich eben meinte. -- Aber als ich gerade "Guayaquil" und "täglich gekehrt" las, ... Du hast das ein paar Stunden vor meinem Kommentar geschrieben. Es hat sich zufällig überkreuzt. Na, jedenfalls, Guayaquil scheint so eine Art Gully zu sein :-)

Zurück nach oben: Ich meine eigentlich Gedankenbrücken innerhalb Deiner Geschichten. Wie etwa Glatze, Blüten. Volles, blühendes Haar. Umkehrung (schon wieder kehren): Alt und vollhaarig, jung und glatzig, Trennung vom Heim, Bäume getrennt vom Heim, getrennt von den Fürsorgern, den Bienen daheim ... solche Denkverknüpfungen, still im Hintergrund, bewusst oder unbewusst ... ich vermute, das ist das wichtigste Gewürz in Deiner Kunst.


Nastrovje

P.

Mucki
Beiträge: 26644
Registriert: 07.09.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mucki » 18.05.2013, 16:36

Hola Carlos,

dieser Satz
Klimperer hat geschrieben:... wir liefen zu einem Lokal etwa fünf Minuten entfernt, brauchten aber dreimal so lange, weil Heike nur sehr langsam gehen kann. Aber ich habe es nie eilig, wenn ich mit ihr zusammen bin.

ist einfach wunderbar, er drückt so viel Liebe aus. :stern:

Saludos
Gabriella

ecb

Beitragvon ecb » 18.05.2013, 20:01

Etwas Wesentliches, Eigentliches schimmert für mich aus deiner kleinen Geschichte hervor - etwas vom Möglichen und vom Gewordenen und wie Mensch damit umgehen muß; und kann.

Sehr gern gelesen, Carlos :daumen:

Liebe Grüße
Eva

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 20.05.2013, 10:54

Hallo Pjotr, Gabriella, Eva,

ich danke euch sehr für eure Rückmeldungen.

Ohne sie hätte es wenig Sinn, weiter im Forum zu schreiben. Man sucht ja Widerhall und ist neugierig auf die Reaktionen

Ich weiß, was es bedeutet, wenn niemand sich meldet, viele von uns machen auch gelegentlich diese Erfahrung, aber damit kann man leben, wenn andere Beiträge doch ein Echo finden.

Ich fürchte, Pjotr, dass das Meiste, was ich schreibe, dich nicht begeistern kann, mir reicht es vollkommen, wenn die eine oder andere Geschichte dir zusagt. Die Hoffnung aber, immer besser zu schreiben, gebe ich nicht auf.

Danke Gabriella, für deine Worte. Was ich da schrieb klingt ans Pathetische und es ist nicht immer einfach, es wirklich zu praktizieren, aber ich bemühe mich.

Schön wäre es Eva, wenn das, was du empfindest, nicht eine zufällige Wirkung wäre.

Ich danke euch herzlichst,

Carlos

Benutzeravatar
Pjotr
Beiträge: 6828
Registriert: 21.05.2006

Beitragvon Pjotr » 20.05.2013, 13:49

Klimperer hat geschrieben:Ich fürchte, Pjotr, dass das Meiste, was ich schreibe, dich nicht begeistern kann, mir reicht es vollkommen, wenn die eine oder andere Geschichte dir zusagt.

Hallo Carlos,

diese Geschichte hier und Deine anderen, die ich gelesen habe, gefallen mir alle sehr gut.

Ich weiß nicht ob das angekommen ist.

Deine Antwort klingt so, als wäre mein Kommentar negativ bei Dir angekommen.


Ahoi

P.

Mucki
Beiträge: 26644
Registriert: 07.09.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mucki » 20.05.2013, 14:10

Hola Carlos,
Klimperer hat geschrieben:Danke Gabriella, für deine Worte. Was ich da schrieb klingt ans Pathetische und es ist nicht immer einfach, es wirklich zu praktizieren, aber ich bemühe mich.

für mich klingt es überhaupt nicht pathetisch. Er ist schnörkellos, einfach als Feststellung geschrieben und drückt diese tiefe Liebe aus. Deshalb mag ich diesen Satz so.

Saludos
Gabriella

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 20.05.2013, 19:07

Hallo Pjotr, hallo Gabriella,

Pjotr, dein Lob hat mich überglücklich gemacht! Ich habe aber Angst, in der Zukunft nicht mehr vorhandene Erwartungen zu erfüllen. Was du geschrieben hast, habe ich stolz anderen Menschen gezeigt ...

Gabriella, ich danke dir, dass du es so siehst. Morgen fahre ich wieder mit Heike nach Paris... Es ist nicht viel, was wir sehen können, im Grunde immer das Gleiche, weil wir uns wirklich wie zwei Schnecken fortbewegen.

Ich melde mich sobald wie möglich wieder.

Euer Freund,


Carlos


.


Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 5 Gäste