Buchtipp Rundbrief August 2013 von Renée
- BlauerSalon
- Beiträge: 187
- Registriert: 01.07.2005
Rundbrief August
Buchtipp und Besprechung Rundbrief August 2013 von Renée // Das Jagdgewehr von Yasushi Inoue
Vorbemerkung zum Autor:
Yasushi Inoue ist ein japanischer Schriftsteller, dessen Leben sich in etwa innerhalb des vorigen Jahrhunderts erstreckt. Er wächst bei seiner Großmutter, einer ehemaligen Geisha, auf, studiert Literaturwissenschaften und wird rasch zu einem der bekanntesten japanischen Schriftsteller seiner Zeit. In seinen kurzen Romanen schildert er eine moderne japanische Gesellschaft, deren traditionelle Grundlagen dennoch spürbar sind. Er ist ein Meister der Form und versteht es, dem Leser einen leicht zu folgenden Erzählfluss anzubieten, ohne ihm das Durchscheinen einer vielschichtig unterlegten Kulturgeschichte Japans zu ersparen.
Das Jagdgewehr
Als ich mich entschloss, etwas zu diesem Buch zu schreiben, war mir vom Inhalt nur noch wenig in Erinnerung. Da war noch ein Rauschen, wie das vom Meer, oder vom Wald her, oder auch von einer Muschel, die man sich ans Ohr hält. Das weiße öde Flussbett. Das Haori-Gewand, die Jagdgewehrszene im Spiegel. Die kleinen Geschenke von Midori an Shoko. Ich brauchte mich allerdings nicht anzustrengen, um mich an die Passiv-Aktiv-Lektion zu erinnern, die von Saiko im letzten Teil erzählt wird. Eine Grammatiklektion! Eine Lektion in Sachen Geschlechterrollen, das zumindest hatte ich im Gedächtnis behalten.
Die Handlung des Romans lässt sich einfach zusammenfassen: Ein Dichter wird von einem alten Schulfreund darum gebeten, für seine Zeitschrift für Jagdliebhaber ein Gedicht zu verfassen. Als das Gedicht veröffentlicht ist, hat der Dichter Skrupel, da er feststellt, dass dieses Gedicht keineswegs den Geist der Zeitschrift widerspiegelt, sondern die Einsamkeit eines Mannes beschreibt, an dem das Jagdgewehr wie leblos erscheint. Doch bald meldet sich bei ihm ein Mann, der glaubt, sich in dem portraitierten Jäger wiederzuerkennen . Er drückt dem Dichter seine Bewunderung darüber aus, dass er so präzis habe beobachten können. Sogar seine seelische Verfassung habe der Dichter erraten.
Der Mann, den der Erzähler Josuke Migusi nennt, kündigt im selben Schreiben an, dass er dem Dichter drei weitere Briefe zuschicken werde, in der Hoffnung, diese mögen ihn interessieren.
Ich streue drei Textauszüge ein, die den Charakter der Schreiberin veranschaulichen sollen, und beginne mit Shoko, der Tochter Saikos, die alle Protagonisten kennt, aber deren komplexe Gefühlsverflechtungen nicht einmal ahnt. Sie schreibt an Josuke, von dem sie bis zuletzt nicht wusste, dass er der Geliebte ihrer Mutter war.
„Ich hatte vor, dir einen Brief zu schreiben, nach dessen Lektüre Du Lust verspürst, Dich mitsamt deiner Pfeife von dem herrlichen Wind mächtig durchblasen zu lassen, (…)“
Shoko, S. 20
So entdeckt der Dichter und nach und nach der Leser, Josukes kompliziertes Liebesleben. Nach Shokos Brief folgt der seiner Gattin, Midori, und der Brief Saikos schließt das Kapitel der Frauen ab. Eine Betrachtung des Dichters bildet den Schlussteil eines schmalen Bändchen, das nichtsdestoweniger Roman genannt wird. Jeder der Briefe enthält eine Abrechnung mit dem Adressaten: unsentimentale Transkriptionen des eigenen Erlebens, und der Spuren, die das Eigene beim Anderen hinterlässt.
Dass der Roman den Titel „Das Jagdgewehr“ trägt, gibt dem Text gleich eingangs Brutalität und Schärfe, der sich keiner der Protagonisten entziehen kann. Doch wer ist Urheber dieser Brutalität? Josuke, dessen Rang ihm erlaubt, zwei Frauen an sich zu fesseln? Oder Saiko, die ihrer Tochter den Vater entfremdet, weil jener untreu war und sie ihrer Liaison mit Josuke frönt? Oder Midori, die sich dazu gedrängt fühlt, ihrer Verwandten Saiko noch vor ihrem Tod mitzuteilen, dass sie vom ersten Tag an Zeugin der beginnenden Untreue ihres Mannes war?
Ein Zusammenhang mit Titel und Gewehr zeigt sich, außer in der Rahmenerzählung nur ein einziges Mal. Dazu kommt allerdings die Tatsache, dass diese drei Frauen sich von ihrer verwundbaren Seite offenbaren, und ihnen also vom Erzähler etwas von der Verletzlichkeit des scheuen Rehs verliehen wird, einer Ebene, auf der sich Jäger und Wild begegnen.
Den intimen Kern dieses Romans, in dem sich das Jagdgewehr als männliches Attribut, als tödliches Instrument dem Leiden, dem Glück, kurz dem Leben mit all seiner Angst und seinen Gefahren gegenübersieht, bildet die vorhin schon erwähnte Grammatiklektion. Eine Mädchenklasse lernt den Unterschied zwischen „lieben“ und „geliebt werden“, zwischen Aktiv und Passiv. Wie man sich sehr gut vorstellen kann, macht alsbald ein Zettel in der Mädchenklasse die Runde, mit der Frage: Was möchtet ihr lieber: „lieben“ oder „geliebt werden“? Nur ein Mädchen entscheidet sich für „Lieben“.
Diese Frage stellen sich alle drei Frauengestalten des Romans, bis zum Schluss. Wer ist der Gatte? Was macht ihn so, wie er ist, und wie könnte er sein, wenn er anders wäre? Wie sollte ein Mann sein? Diese Frage stellt sich Midori:
„Zu meinem großen Leidwesen habe ich noch keinen Mann gefunden, den ich, ohne mich schämen zu müssen, als meinen Geliebten bezeichnen dürfte. Ein solcher müsste vor allem zwei Eigenschaften haben: einen reizvollen, zitronenfrischen Nacken und klare männliche Linien an den Hüften wie eine Antilope.“
Midori, S. 49
Ob nun Lieben und Geliebt werden im Mittelpunkt steht, oder Jagen und Gejagt werden, Inoues Text erzählt noch etwas anderes. Er umreißt das Bild einer japanischen Gesellschaft, die auf „Sehen“ und „Gesehen werden“ aufbaut. Vor den Augen des Lesers erscheinen wie auf einer inneren Leinwand eine Reihe von Schlüsselerlebnissen der drei weiblichen Hauptfiguren, aber auch des erzählenden Dichters und des rätselhaften Mannes mit Jagdgewehr: Jeder entwickelt visuelle Stationen der Begegnung. Inoue führt den Leser in einen bebilderten Liebesgarten, in dem Altäre gerichtet sind: der Mann mit Jagdgewehr am weißen Fluss, die hohe Dame im Haori-Mantel, das Schulmädchen, das ins Schulheft schreibt, der Besuch Midoris bei Saiko, Midori mit ihren Liebhabern und die eindringlich geschilderte Szene, als Josuke sein Gewehr auf Midori richtet.
Jede dieser Figuren hat neben ihren jeweils unterschiedlichen Abhängigkeiten ihre eigenständige Existenz. Obwohl Inoue deutlich die Tragik der Frauen darstellt: die sich selbst als Verbrecherin verdammende Saiko, die hintergangene Midori, die von der Liebesgeschichte der Mutter verschreckte Shoko, so liegt ihm offensichtlich daran, aus diesen Frauengestalten keine erstarrten Gefühlssäulen herauszubilden. Jede lebt ihre Kontingenz mit wachem Verstand.
„So lange ich lebe, will ich Midori-san, die ganze Welt, und auch dich und mich selber betrügen – das ist mein Schicksal.“
Saiko, S. 92
Trotz der mehr oder weniger verborgenen Rivalität zwischen Saiko und Midori gibt es zwischen den beiden Frauen eine stets offen gelassene Tür, daran ändert auch Saikos Selbstmord nichts. Man kann die letzte Begegnung zwischen den beiden Frauen sehr unterschiedlich interpretieren. Sie jedoch ausschließlich als Midoris Rache an Saiko wahrzunehmen, würde dem Text nicht gerecht werden. Denn Midori kommt nicht in der Absicht, Saiko aufzuklären. Es ist der Anblick des Haori-Umhangs, der Midori fassungslos macht. Die Worte, die aus ihr herausbrechen, sind sowohl Instrumente ihrer Rachegelüste als auch Zeichen einer lange verheimlichten Niederlage. Saiko findet dadurch einen dramatischen Abgang und eine noch weiterreichende Kenntnis sich selbst betreffend.
Letztlich verbindet alle Protagonisten des Romans das Bedürfnis, etwas von dem Verborgenen und möglicherweise vom Veröden des bedrohten inneren Selbst zu vermitteln. Ein Selbst, das sich im Kampf mit dem Ich befindet. So kann die kurze Begegnung zwischen dem Dichter und dem Jagdgewehr tragenden Josuke, die den Roman einleitet, als Konsequenz jener Briefe gesehen werden. Denn auch Josuke sieht sich letztlich genötigt, sein Wissen mitzuteilen. Er ist der Mann, der am Flussbett steht und der das Wasser darin zum Veröden gebracht hat. Josuke hat eine öffentliche, gesellschaftliche Existenz, er ist der Mann mit Hund und Jagdgewehr, dahinter versteckt sich, wie er selbst sagt, eine große innere Wüste.
Die gleich eingangs im Gedicht formulierte Synthese des Romans ist folglich das Gegenteil einer Enthüllung oder Aufklärung. Alles Zugetragene ist dem Leser der Briefe, der uns in dem Gedicht in Begleitung seines Hundes und mit geschultertem Gewehr entgegen kommt, bereits bekannt. Wie jeder Text geht auch dieser in die Richtung des Unbekannten im Innern. Es offenbart sich in jedem der Schreibenden das versteckte Ich, ein zweites Ich, ein Selbst, Josuke nennt es die Schlange. Eine Schlange, von dem die Legende sagt, dass jeder sie in sich trägt, jenes geheime Selbst, das nicht versteckt zu werden braucht, so tief ist es verborgen. Josuke Misugi findet in dem Bild der Schlange, die jeder in sich trägt, eine Erklärung für die Fremdheit, die in allen Beziehungen heranwächst: die Schlange als Symbol für ein gespaltenes, sich selbst untreues Ich.
Wer ist online?
Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 6 Gäste