Der Grund über dem Kopf -- Oder: Wie Begriffe enthaupten

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 16.12.2013, 02:16

Ich möchte diesen Beitrag verstanden wissen als einer unter: "Essays, Reden, Kritik, Satire, Glossen, Kolumnen, Prosa und Kultur".

Über "Essays, Reden, Kritik, Satire, Glossen, Kolumnen, Prosa und Kultur" steht noch eine weitere Übertitelung, nämlich "Kritisches, Satirisches & Humoriges". Ich hasse diese zusätzliche Übertitelung! Ich habe diese dreifache Und-Verknüpfung schon immer gehasst! Sie ist sinnlos, unlogisch, undramatisch, grob. Ich weigere mich, diesen Beitrag unter "Kritisches, Satirisches & Humoriges" zu setzen! Dies ist ausdrücklich ein Beitrag unter "Essays, Reden, Kritik, Satire, Glossen, Kolumnen, Prosa und Kultur". Nicht unter "Kritisches, Satirisches & Humoriges". Bin ich verstanden worden? Ich wiederhole: -- Nein, ich wiederhole nicht.

Und noch was. Zwar ist auf dem Portal diese Rubrik mit diesem Schild für Blöde markiert:
Bild
Dennoch ist in meinem Beitrag hier absolut nichts ironisch gemeint! Dieses bescheuerte Schild! Wo soll ich denn meinen Beitrag sonst hinschicken? Unter "Aphorismen"? Unter "Märchen"?

Nun zum Schriftstück:




Der Grund über dem Kopf -- Oder: Wie Begriffe enthaupten

Wenn der eine mehr bekommt und der andere weniger, reden wir dann über Strafe oder über Belohnung? Die Lehrerin fragt Fritzchen, wie dieser Baum heißt. Er weiß es, er wird gelobt. Sein Schwesterchen soll die Hauptstadt von Dänemark nennen. Sie weiß es nicht, sie wird nicht gelobt. Ist das nun eine Belohnung Fritzchens, oder eine Bestrafung seines Schwesterchens durch Lobentzug? Wo genau ist die Mitte zwischen Lob und Strafe? Gibt es diese Mitte überhaupt? Wahrscheinlich nicht. Wo gestraft, da auch belohnt, und umgekehrt.

Es ist eine Belohnung, nicht ins Straflager zu müssen. Es ist eine Strafe, keinen Kuss zu bekommen.

Herr Meier hat Solarzellen auf dem Dach, Frau Müller nicht. Herr Meier wird belohnt durch Steuerermäßigung, Frau Müller muss mehr bezahlen. Wird hier nun Meier belohnt, oder Müller bestraft? Hat Steuerermäßigung eine Straf- oder eine Belohnungsfunktion?

Verheiratete zahlen weniger Steuer. Somit müssen frei gepaarte eine Geldstrafe bezahlen, Verheiratete nicht.

Die Mathematik ist eine sehr ehrliche Sprache!

Die Kassiererin im Supermarkt beäugt Opa Schmidts Einkaufswagen, denn es könnte ein unbezahlter Artikel drin liegen. Das tut die Kassiererin bei allen Kunden. Reden wir hier über persönliche Verdächtigung oder über ... ja wie soll man das nennen? ... über einen allgemeinen anonymen Sieb? Ein Sieb, ein Filter, das alle lieben Menschen prüft, und nur die Diebe auffängt. Wenn der Siebende weiß, dass der Großteil des Siebguts aus lieben Menschen besteht, was tut der Siebende somit? Verdächtigt er jeden? Oder siebt er nur Diebe? Wo ist die Mitte zwischen Verdächtigen und Suchen?

Wenn ich mein Auto abschließe, oder meine Haustür, verdächtige ich dann mit diesem meinem Misstrauen jeden Mitmenschen? Hat diese Schutzhaltung eine Verdachtsfunktion, oder eine Siebfunktion, in dem Sinn, dass sie nur Einbrecher gegen die Wand laufen lässt, während sie liebe Menschen nicht gegen die Wand laufen lässt?

Juli Zeh, die ich sehr schätze, hält sich derzeit mit derlei Begrifflichkeiten auf: Sie meint, dass mit der Schnüffelei der NSA aus jedem Menschen eine Verdachtsperson gemacht wird. Ich sage, diese Formulierung ist belanglos, denn man könnte diese Schnüffelei ebenso ein Durchkämmen nennen; natürlich weiß die NSA, dass die meisten Menschen nichts böses tun. Die NSA-Gauner können nicht dermaßen psychopathisch veranlagt sein, dass sie in jedem Menschen einen Terroristen sehen. Vielmehr durchkämmen sie das Gute, um Schlechtes herauszufiltern. Kann man so etwas einen Generalverdacht nennen? Sollen wir dann auch die Sieberei an den Flughäfen, an den Großveranstaltungen abschaffen? Ist jeder Passagier, jeder Konzertbesucher ein Verdächtiger, oder werden hier lediglich liebe Leute gesiebt? Wo ist die Mitte zwischen Verdacht und Sieb? Es gibt keine Mitte, glaube ich.

Zusammengefasst: Anstatt sich an solchen bipolaren Begrifflichkeiten aufzuhalten, die ja gar nicht abschaffbar sind (aufgrund ihrer Verknüpfung mit ihrem eigenen Gegenpol), sollten all die Schriftsteller, die bei Juli Zeh unterschrieben haben und sich gegen die Schnüffelei der NSA wenden, dies aus folgendem Grund tun: Privatheiten gehen andere Leute nichts an, Punkt. -- Und sich gegen die Schnüffelei der NSA wenden nicht aus dem Grund, dass vermeintlich aus jedem ein Verdächtiger gemacht wird. Mit letzerem Argument, mit dieser Begrifflichkeit, verpufft der Gegenangriff sofort. Die Gegenangreifer sollten ihre Energie nicht in einer derartigen Begrifflichkeitsdebatte verschwenden, dafür ist das Problem zu massiv. Die NSA ist ein Riesendrecksverein. Es geht da außerdem auch um politische und wirtschaftliche Spionage. Das ist in meinen Augen weniger ein philosophisches, vielmehr ein kriminelles Problem.




Arbeitstitel war: "Begrifflichkeiten zerdeppern die Hauptsache"
Zuletzt geändert von Pjotr am 04.01.2014, 16:20, insgesamt 2-mal geändert.

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Hetti
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Beitragvon Hetti » 16.12.2013, 06:50

Hallo Pjotr,

vielleicht erzielt dein Essay eine größere Wirkung, wenn du die beiden letzten Absätze, deren Intension und Argumente ich sehr interessant und wichtig finde, an den Anfang des Textes stellst. Die jetzige Einführung wirkt auf mich schwach und unspezifisch, fast hätte ich nicht bis zum Ende gelesen.

Viele Grüße
Dede

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 16.12.2013, 10:13

Schon im alten Rom wurden Kinderreiche Familien belohnt ...

Belohnen, bestrafen, loben, tadeln ... Das tun die Menschen seit eh und je, es gehört zu unserem sozialen Dasein.

Die alte Frau, der wir underen Platz überlassen, belohnt uns mit einem Danke, mit einem Lächeln.

Wer unsympathisch ist wird durch unsere Ablehnung oder durch unser Ignorieren bestraft.

Wir selbst praktizieren täglich das: Wir belohnen, wir bestrafen.

Lob und Tadel wird auch täglich praktiziert.

Und das Wichtigste, das Geld, ob wir es wollen oder nicht, spielt dabei eine große Rolle.

Spätestens nach der Lektüre eines Testaments lassen die meisten Menschen die Maske fallen.

Im Bezug auf diese "Spionage" Geschichten: Wäre es soweit gekommen, wenn der Anschlag auf die Twin Towers nicht stattgefunden hätte?

Es gibt keine "Guten" und keine "Bösen": Wir selbst, wir alle sind Beides.

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nera
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Beitragvon nera » 16.12.2013, 14:36

sowas kann man einen generallverdacht nennen! einen psychophatischen!
lg

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 16.12.2013, 15:22

Hallo Hetti, vielleicht hast Du Recht. Ein Minimum an Einführung bleibt aber notwendig, um auf das Mittenprinzip vorzubereiten.

Hallo Klimperer, und vielleicht auch: Hallo alle anderen Leser: Ich glaube meine Erläuterung des Mittenprinzips ist nicht angekommen. Mir geht es nicht um die Erkenntnis, dass Menschen loben und strafen.

Mit geht es um das Problem dergestaltiger Begrifflichkeiten, welche vorgaukeln, zwei bestimmte Begriffe seien Punkte auf einer Skala zwischen A und B. Als gäbe es auf dieser Skala eine neutrale Mitte. Als ob eine Bestrafung von B niemals gleichzeitig eine Belohnung von A sein könnte, sondern nur entweder das eine oder das andere. Ich sage, das ist nicht möglich. Ebenso wie es nicht möglich ist, die Begriffe Verdacht und Suche auf ein und dieselbe Skala zu setzen, als gäbe es eine neutrale Mitte zwischen diesen beiden Qualitäten. Ich sage, das ist nicht möglich. Verdacht und Suche -- ähnlich wie Strafe und Belohnung -- können sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern gehen miteinander einher. Deshalb halte ich es für extrem mühselig, mit solchen Begrifflichkeiten zu argumentieren. Solche Argumente funktionieren nicht.

Weiteres Beispiel: "Die Maut gilt ja nicht für Ausländer, sondern nur für Nichtinländer". Dieses Argument funktioniert ebenso wenig wie: "Wir wollen Kinderlose nicht bestrafen, sondern die Ehe belohnen", oder: "Wir verdächtigen Sie nicht, wir suchen nur den Täter". Egal welche Seite des Kommas man befürwortet, dieses bipolare Prinzip der Argumentation funktioniert nie!


Ahoy

P.

pjesma

Beitragvon pjesma » 16.12.2013, 16:05

nicht getadelt ist schon gelobt ;-)
lg

Mucki
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Beitragvon Mucki » 16.12.2013, 17:00

pjesma hat geschrieben:nicht getadelt ist schon gelobt

Bei manchen Menschen ist das leider tatsächlich so, bzw. "muss" so interpretiert werden. ,-(

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nera
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Beitragvon nera » 16.12.2013, 18:35

das wort "verdacht" sagt ja erstmal gar nichts über schuld und unschuld aus, oder strafe/ belohnung. es bedeutet nur, dass ich, er, sie, es, man, argwöhnisch bin/ ist. und es gibt doch schon eine skala, wo etwas anfängt zu kippen, zb. zwischen suche und verdacht und pathologisch wird.

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nera
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Beitragvon nera » 16.12.2013, 19:15


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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 16.12.2013, 19:34

nera hat geschrieben:das wort "verdacht" sagt ja erstmal gar nichts über schuld und unschuld aus, oder strafe/ belohnung. es bedeutet nur, dass ich, er, sie, es, man, argwöhnisch bin/ ist. und es gibt doch schon eine skala, wo etwas anfängt zu kippen, zb. zwischen suche und verdacht und pathologisch wird.

Ich meine auch, das Wort "Verdacht" sagt nichts über Schuld, Unschuld, Strafe, Belohnung aus. Ich sehe darin keinen Zusammenhang, auch keine Problematik. Überhaupt ist das nicht die Problematik, die ich meine.

Wenn Du das Wort "pathologisch" auf eine Skala setzst, dann skalierst Du den Begriff "pathologisch", nicht den Begriff "Verdacht". Ich finde nicht, dass der Begriff "Verdacht" definiert werden kann über die Intensität einer Krankhaftigkeit. Wenn ich beispielsweise George W. Bush verdächtige, im Fall X zu lügen, dann fußt mein Verdacht ja nicht auf einer Krankhaftigkeit meinerseits. Trotzdem nenne ich das Verdacht. Oder Misstrauen. Das ist für mich einerlei. Genauso wie Friseurin oder Friseuse, Lehrling oder Azubi. Ich bin der Meinung, dass solche Sprünge von einem Begriff zum nächsten nur Pseudosprünge sind, um abzulenken von der Hauptsache, nämlich dem Ziel an sich.

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Beitragvon nera » 16.12.2013, 22:32

nun wenn ich aber hansguckindieluft verdächtige, mir feindlich gesinnt zu sein, weil er mich nicht beachtet hat, hat das doch eine andere wertigkeit auf der skala, wie wenn ich die gesamte struwelpetermanschaft für verdächtig halte, weil sie mit hans.....in einem buch versammelt sind. wenn ich dann jeden aspekt der geschichten jedes protagonisten des buches auf eventuelle feindseligkeiten durchkämme, wirds schräg. ab einem bestimmten punkt nennt man das paranoia, eine krankheit, die zb. sehr typisch für die diktators der welt ist und war.
wenn man dann das wort "schnüffeln" durch das wort "durchkämmen" ersetzt, hört sich das doch gleich viel netter an und ebenso nett hört es sich an, wenn ich "ausspionieren" durch "terrorbekämpfung" ersetzte. verrutscht hier nicht das komma.
wenn ich dich richtig verstehe, meinst du mit der hauptsache, dem ziel, der wunsch nach kontrolle. aber genau dieser wunsch alles zu kontrollieren, ob nun militärisch, aus sicherheitsgründen, politisch oder wirtschaftlich, löst solch ein argwöhnisches verhalten oft/ meistens aus.

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Beitragvon Pjotr » 16.12.2013, 23:43

nera hat geschrieben:wenn ich dich richtig verstehe, meinst du mit der hauptsache, dem ziel, der wunsch nach kontrolle.

Zum Beispiel. Ja.

Zum Beispiel das Ziel, die Kontrolle über die eigene Privatheit wieder zu erlangen, und das Ziel, die NSA jeden Tag mit dreihundert Stinkbomben zu bewerfen.

Ob ich nun als Terror-Verdächtiger definiert werde oder nicht, ist mir egal, ich will einfach meine Privatheit wieder haben. Das ist mein Ziel. Das ist die Hauptsache.

Wir hatten schon mehrmals ähnliche Debatten hier. Ich finde, dass oftmals zuviel geschwafelt wird, um das Ziel herum, anstatt das Ziel direkt anzugehen. Im Feminismus ist das manchmal der Fall. Oder wenn in einer heiligen Schrift um Rat gesucht wird, beispielsweise in der Frage des Tötens; ich muss nicht debattieren, wie Gott dies und jenes wohl gemeint haben könnte, oder ob dies und das ein Verstoß ist oder nicht -- ich will einfach keinen Menschen töten. Ich will das nicht. Punkt.

Ich will nicht von der NSA ausspioniert werden. Punkt.

Ich will jetzt einen Kaffee trinken. Punkt.

Ich werde meine Haustür abschließen, weil ich den Verdacht habe, dass einige Menschen hier rein wollen. Punkt.

Ich will kein Soldat sein. Punkt.

Ich will, dass Frauen und Männer die gleiche Würde und den selben Lohn verdienen. Punkt. (Ich will das einfach so. Mich interessieren keine Höhlenmenschengeschichten. Naturalistische Fehlschlüsse schon gar nicht. Auch keine grammatischen Gender-Problematiken, die am Ziel nur vorbeischießen.)

Es tut mir weh, bei einer Tierschlachterei zuzusehen. Ich will das nicht, weil es mir weh tut. Punkt. Schmerz ist, oder ist nicht. Schmerz ist indiskutabel. Er ist unbeschwafelbar.

Und so weiter.

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Beitragvon Mucki » 16.12.2013, 23:52

Pjotr hat geschrieben:Schmerz ist, oder ist nicht. Schmerz ist indiskutabel.

Das Problem ist wohl der Mensch an sich. Zum obigen, zitierten Satz: Jeder Mensch hat eine andere Schmerztoleranzgrenze. Für den einen ist z.B. eine Spritze mit großen Schmerzen verbunden, der andere lacht darüber. Für manche ist Schmerz sogar mit Lust verbunden, etc. etc.
Das kann man m.E. nicht so absolut sagen. Dazu sind wir Menschen viel zu verschieden und vllt. auch zu sehr Tier.

Das Absolute kann man wohl nur für sich selbst behaupten, hm.

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Beitragvon Pjotr » 16.12.2013, 23:57

Ja, sicher. Daher nenne ich oben ja auch nur Sachen, die mich schmerzen.


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