WORT DER WOCHE
- jede Woche ein neues Wort als Musenkuss -
Lyrik, Prosa, Polyphones, Spontanes, Fragmente, Schnipsel, Lockeres, Assoziatives, Experimentelles
- alles zu diesem Wort - keine Kommentare - alles in einem Faden - 7 Tage Zeit -
~ Arglist ~
WORT DER WOCHE ~ Arglist ~
Ende des 15. Jahrhunderts beobachten Historiker hinter den sogenannten sieben Bergen bei den fiesen Zwergen den ersten Vorstoß des Arglismus. Viele dieser frühen Arglisten erfahren jedoch heftigen Widerstand seitens der Tunlichsten. Einen weiteren Vorstoß wollen sie -- und mit ihnen Karl der Gute, ein großer Tunlichst -- vermeiden.
§ 211
Mord
(1) Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft.
(2) Mörder ist, wer
aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen,
heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder
um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken,
einen Menschen tötet.
In meinem ersten strafrechtlichen Seminar ging es um diesen Text, und ich kann mich erinnern, dass jemand fragte, was unter „heimtückisch“ zu verstehen sei. Es kamen alle möglichen Antworten. Unter anderem: „mit Arglist“.
Arglist statt Heimtücke, das ersetzt ein Metawort durch ein anderes. Aber so viel habe ich verstanden, dass es um ein Element der Täuschung ging.
Ungefähr fünfunddreißig Jahre später stand ich in der Fußgängerzone in Schlüchtern und wusste den Weg zum Autohaus, wo mein Auto zwecks Inspektion stand, nicht mehr. Ich fragte einen Dicken mit zugedeckeltem Kaffee, der an mir vorbei auf sein Auto zulief. Den Zündschlüssel aus der Jackentasche fingernd, bellte er rückwärts zu mir hin: „Steigen Sie ein, ich fahre sowieso in die Richtung, ich setze Sie dort ab.“
Ich habe wohl einen Sekundenbruchteil zu lange gezögert, ihn gemustert, wie er da stehen geblieben war, mit seinem Starbucks Coffee-to-go, blauem Schal in der hellen Lederjacke, die Haare aschblond, nach hinten gewischt aus einem Gesicht, das entfernt (sehr entfernt) an Alan Rickman erinnerte; ach, es war wirklich nicht Alan Rickman, nur eine entfernte Ahnung davon, sonst hätte ich nicht diesen einen Sekundenbruchteil gezögert, der ihm den Kommentar eingab: „Ich bin ganz harmlos!“
Ich stieg in seinen Wagen, es ging um drei Ecken, die Fahrt dauerte keine fünf Minuten. Alan Rickmans Remittendenausgabe ließ keine Anzeichen von Mordlust erkennen. Ich stieg beim Autohaus ab und verabschiedete mich höflich dankend.
Die meisten von uns haben genug Krimis geguckt, um zu wissen, dass junge Mädchen, die zu Fremden ins Auto steigen, umgebracht werden. Das ist eine zwingende Folge. Wer eine Fremde im Alter von, sagen wir mal, unter 22 Jahren im Auto mitnimmt und ihr die Kehle durchschneidet, handelt folglich nicht arglistig. Er hat genau das getan, was von ihm erwartet wird.
Ich dagegen bin ein Mensch aus der real world, zudem über fünfzig, eine schattenhafte Existenz auf dem Weg vom Wollgeschäft (wo ich Wolle zum Sockenstricken gekauft habe, wie sich das für eine Frau meines Alters gehört) zum Autohaus. Dass mir just dann jemand in die Quere kommt, der sich einbildet, eine Frau wie ich besäße eine durchschneidenswerte Kehle, damit konnte ich nicht rechnen. Alan Rickmans schlichte Sentenz „ich bin ganz harmlos“ verschob die Waagschale zur krassen Arglist.
Ja. Ich male mir das eingehend aus, auf der Fahrt nach Hause, die Auffahrt in den Kreisel zur A66 haben sie schon wieder geändert, es geht plötzlich nicht mehr linksherum, ich muss ganz zurück durch den Ort, das ist einfach nur dreckig, und unterwegs blitzt mich auch noch so ein rotes Licht an – ach, Alan Rickman ...
Mord
(1) Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft.
(2) Mörder ist, wer
aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen,
heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder
um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken,
einen Menschen tötet.
In meinem ersten strafrechtlichen Seminar ging es um diesen Text, und ich kann mich erinnern, dass jemand fragte, was unter „heimtückisch“ zu verstehen sei. Es kamen alle möglichen Antworten. Unter anderem: „mit Arglist“.
Arglist statt Heimtücke, das ersetzt ein Metawort durch ein anderes. Aber so viel habe ich verstanden, dass es um ein Element der Täuschung ging.
Ungefähr fünfunddreißig Jahre später stand ich in der Fußgängerzone in Schlüchtern und wusste den Weg zum Autohaus, wo mein Auto zwecks Inspektion stand, nicht mehr. Ich fragte einen Dicken mit zugedeckeltem Kaffee, der an mir vorbei auf sein Auto zulief. Den Zündschlüssel aus der Jackentasche fingernd, bellte er rückwärts zu mir hin: „Steigen Sie ein, ich fahre sowieso in die Richtung, ich setze Sie dort ab.“
Ich habe wohl einen Sekundenbruchteil zu lange gezögert, ihn gemustert, wie er da stehen geblieben war, mit seinem Starbucks Coffee-to-go, blauem Schal in der hellen Lederjacke, die Haare aschblond, nach hinten gewischt aus einem Gesicht, das entfernt (sehr entfernt) an Alan Rickman erinnerte; ach, es war wirklich nicht Alan Rickman, nur eine entfernte Ahnung davon, sonst hätte ich nicht diesen einen Sekundenbruchteil gezögert, der ihm den Kommentar eingab: „Ich bin ganz harmlos!“
Ich stieg in seinen Wagen, es ging um drei Ecken, die Fahrt dauerte keine fünf Minuten. Alan Rickmans Remittendenausgabe ließ keine Anzeichen von Mordlust erkennen. Ich stieg beim Autohaus ab und verabschiedete mich höflich dankend.
Die meisten von uns haben genug Krimis geguckt, um zu wissen, dass junge Mädchen, die zu Fremden ins Auto steigen, umgebracht werden. Das ist eine zwingende Folge. Wer eine Fremde im Alter von, sagen wir mal, unter 22 Jahren im Auto mitnimmt und ihr die Kehle durchschneidet, handelt folglich nicht arglistig. Er hat genau das getan, was von ihm erwartet wird.
Ich dagegen bin ein Mensch aus der real world, zudem über fünfzig, eine schattenhafte Existenz auf dem Weg vom Wollgeschäft (wo ich Wolle zum Sockenstricken gekauft habe, wie sich das für eine Frau meines Alters gehört) zum Autohaus. Dass mir just dann jemand in die Quere kommt, der sich einbildet, eine Frau wie ich besäße eine durchschneidenswerte Kehle, damit konnte ich nicht rechnen. Alan Rickmans schlichte Sentenz „ich bin ganz harmlos“ verschob die Waagschale zur krassen Arglist.
Ja. Ich male mir das eingehend aus, auf der Fahrt nach Hause, die Auffahrt in den Kreisel zur A66 haben sie schon wieder geändert, es geht plötzlich nicht mehr linksherum, ich muss ganz zurück durch den Ort, das ist einfach nur dreckig, und unterwegs blitzt mich auch noch so ein rotes Licht an – ach, Alan Rickman ...
Zuletzt geändert von Zefira am 28.01.2014, 09:44, insgesamt 1-mal geändert.
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
(Ikkyu Sojun)
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
(Ikkyu Sojun)
Zum Thema Arglist las ich einmal einen Aufsatz, der war auffällig gut geschrieben, intelligent und witzig. Ich kann mich noch genau erinnern, wann ich den las, und sogar, wann der veröffentlicht wurde: Im Jahr 2014, in der Nacht vom 27. auf den 28. Januar. Ich las ihn in einem blauen Salon, in einem kommentarbefreiten Séparée.
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