Buchtipp Rundbrief April 2014 von Zefira

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BlauerSalon
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Beitragvon BlauerSalon » 01.04.2014, 07:39



Rundbrief April


Buchtipp und Besprechung Rundbrief April 2014 von Zefira //
Der Distelfink (The Goldfinch)
von Donna Tartt



Die Geschichte beginnt mit einer Explosion: Theo Decker, New Yorker, dreizehn Jahre alt, besucht mit seiner Mutter eine Ausstellung alter holländischer Meister, als in den Räumen des Museums eine Bombe hochgeht. Seine Mutter kommt dabei ums Leben; der Junge verlässt, verwirrt und desorientiert, im allgemeinen Durcheinander unbemerkt das Museumsgebäude, in der Tasche ein kleines, unermesslich wertvolles Gemälde aus der Ausstellung, das Porträt eines angeketteten Vogels. Nach der Explosion ist für Theo nichts mehr wie vorher. Er hat keine Familie, denn der Vater hat ihn und die Mutter schon seit langem verlassen, und die Großeltern kennt er kaum; sie wollen ihn nicht. So kommt er zunächst im Haushalt eines Schulkameraden unter, dann taucht plötzlich doch noch der Vater auf – ein alkohol- und medikamentensüchtiger Berufsspieler – und nimmt ihn mit nach Las Vegas, wo der Junge, weitgehend sich selbst überlassen, der allgemeinen Wohlstandsverwahrlosung erliegt. Erst mit sechzehn kehrt Theo nach New York zurück. Inzwischen ist er selbst medikamentenabhängig, von Panik- und Depressionsanfällen geplagt; das Unglück im Museum hat er nie verwunden. Auch als Erwachsener (der Roman endet, als Theo Ende zwanzig ist) bleibt er instabil - inzwischen Antiquitätenhändler und genialer Verkäufer gefälschter Möbel. Kurioserweise ist es ausgerechnet das kleine Vogelporträt, das ihn auf Umwegen in den Abgrund reißt. Die Verbindung mit einem Jugendfreund, dem Gangster Boris, mündet am Ende in das, was man wohl (wenn man nicht allzu viel verraten will) eine „blutige Eskalation“ nennen muss. Der Roman endet zwiespältig, nicht ohne Hoffnung für die Zukunft, aber mit einem Zug Resignation, der kaum besser ist als gar keine Hoffnung.

„Tue nichts, was du nicht rückgängig machen kannst“ ist einer der Lehrsätze, die sein Freund und Wahl-Vater, der sympathische Möbelrestaurator Hobie, dem Ich-Erzähler Theo beibringt (eigentlich auf den Restaurationsprozess bezogen). Theos persönliche Fehlentscheidung – die Mitnahme des Vogelbildes aus dem Museum – ist zu diesem Zeitpunkt bereits geschehen und nicht mehr rückgängig zu machen. Das Porträt des „strammen kleinen Gefangenen“, wie Theo es beschreibt, „ein Fingerhut voll Tapferkeit … nicht scheu, nicht einmal hoffnungslos, hält er entschlossen seine Stellung“, ist zugleich die Freude und der Fluch seines jungen Lebens. Der Besitz des Bildes hält ihn im Zustand dauernder Unruhe (es befindet sich auf der Liste gestohlener Kunstwerke und kann ihm fünfzehn Jahre Knast einbringen), aber es ist auch die einzige greifbare Verbindung zu seiner Vergangenheit, nachdem sogar das Haus, in dem er mit seiner Mutter gewohnt hat, abgerissen wurde, um einen Luxusblock Platz zu machen … Wie schon in ihren früheren Romanen, „Die geheime Geschichte“ und „Der kleine Freund“, arbeitet Donna Tartt mit einigen Mitteln des Kriminalromans; so baut sie mehrere unerwartete Wendungen ein (von denen zumindest eine so genial erdacht ist, dass ich mich beim Lesen vor Begeisterung geschüttelt habe), aber „Der Distelfink“ ist ebenso wenig ein Krimi wie seine Vorgänger. Es ist vor allem ein Entwicklungsroman über den Versuch eines entwurzelten Jugendlichen, so etwas wie Beständigkeit zu finden in einer Welt, in der die Erwachsenen fast ausnahmslos Gescheiterte sind, verzweifelt damit beschäftigt, so zu tun, als wäre alles in Ordnung.

Donna Tartt führt ihren Erzähler mit meisterhafter dichter Sprache (und großartig übersetzt) direkt in unser Mit-Gefühl und unsere Sympathie. Allerdings muss man sich mit den Alkohol- und Drogenexzessen des Erzählers abfinden, was möglicherweise die Lesefreude etwas trübt; für meinen Geschmack wurde schon in der „Geheimen Geschichte“ und zum Teil auch im „Kleinen Freund“ zu viel gesoffen und gekokst. Immerhin muss man Theo zugute halten, dass er wegen seiner posttraumatischen Panikattacken auf Medikamente angewiesen ist und auch von Wolke sieben aus erstaunlich gut den Alltag meistert – inwieweit die Autorin hier möglicherweise etwas verharmlost, kann ich nicht beurteilen.

„Zwischen der Realität auf der einen Seite und dem Punkt, an dem der Geist die Realität trifft, gibt es eine mittlere Zone, einen Regenbogenrand, wo die Schönheit ins Dasein kommt, wo zwei sehr unterschiedliche Oberflächen sich mischen und verwischen und bereitstellen, was das Leben nicht bietet: und das ist der Raum, in dem alle Kunst existiert und alle Magie … und alle Liebe.“

Nachtrag: Das titelgebende Porträt existiert wirklich, ist auf dem Vorsatzblatt des Romans zu sehen und auch online bei Wikimedia zu finden, siehe hier: http://commons.wikimedia.org/wiki/File: ... uselang=de

Der Distelfink von Carel Fabritius, 1654. Ich habe eine Quelle im Internet gefunden, in der behauptet wird, dass das kleine Vogelporträt in Holland eine ähnliche Bedeutung hat wie für uns in Deutschland der Dürer-Hase. Es ist „die“ Tier-Ikone.


@Anna Rinn-Schad


Klimperer

Beitragvon Klimperer » 10.04.2014, 18:32

Ich habe es gleich käuflich erworben. Es wird allerdings lange dauern, bis ich anfange, es zu lesen.

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 10.04.2014, 19:55

Ich hatte das große Glück, ein Vorabexemplar geschenkt zu bekommen, und zwar im Rahmen einer Leserunde bei den Büchereulen. Die Meinungen in der Leserunde waren sehr gemischt. Ich hatte das (leider seltene) Leseerlebnis, vollkommen abtauchen zu können - es war wie ein Rausch.

Viel Freude damit!
Zefira
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ecb

Beitragvon ecb » 17.04.2014, 07:26

Selbst mache ich leider einen weiten Bogen um alles, was nach Krimi riecht, aber dies hier bedeutet dir sicher etwas, Zefira - oder?

http://www.fnp.de/nachrichten/vermischt ... 141,816016

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 17.04.2014, 09:53

Vielen Dank, das freut mich sehr!
(Und ein Krimi ist es wirklich nicht - es sei denn, man nennt jedes Buch, in dem etwas Ungesetzliches vorkommt, einen Krimi.)

Sonnige Grüße von Zefira
Zuletzt geändert von Zefira am 17.04.2014, 12:56, insgesamt 1-mal geändert.
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ecb

Beitragvon ecb » 17.04.2014, 12:51

Heute in meiner Bibliothek bestellt. :daumen:

Mucki
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Beitragvon Mucki » 17.04.2014, 12:59

Habs mir auf meine Liste gesetzt. Danke für den Tipp, Zefi!

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 17.04.2014, 13:09

Und dann würde ich von euch allen gern eure Meinung zu dem Punkt hören, den ich als "genial erdachte unerwartete Wendung" bezeichnet habe.
Das war eine Stelle, bei der mir das Buch fast aus der Hand gefallen ist .... ich konnte es einfach nicht fassen ... :mrgreen:
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