Zeitlosigkeiten

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Rita

Beitragvon Rita » 04.01.2015, 20:24

Zeitlosigkeiten

Ich fliehe, ich jage den Zeiten
davon, die Handvoll Leben im Gedächtnis,
meine Trauer trifft auf leere Gesichter,
lebensgefährliche Gleichgültigkeit

Und doch, ein zwei Fenster Rapunzels
öffnen sich, zeitweise, aus Verlegenheit,
da bleibt Raum für Geflüstertes
von oben herunter

Mangels Beweisen verurteilt,
versündige ich mich an Wahrheiten,
Zweifeln zugeneigt, nicht jung genug,
Einfalt zu Psaltern umzudichten

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 05.01.2015, 13:29

Guten Tag, Rita,

den mittleren Teil finde ich interessant, bildlich betrachtet. Könnte man an "da bleibt Raum für Geflüstertes" noch etwas schleifen?

Statt "bleibt" vielleicht ein sinngemäß ähnlicher, aber bildhafterer Begriff?

Und, ist "Geflüstertes" optimal? Wäre "Geflüster" zu einfach? Oder: Geflüstere, Geflüsterei ...


Ahoy

P.

Rita

Beitragvon Rita » 05.01.2015, 14:50

Guten Tag, Pjotr,

hast du eine Idee für deinen Vorschlag?

Ciao, Rita

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Beitragvon Pjotr » 05.01.2015, 15:01

Lese ich das richtig? Das Ich ist kein Rapunzel; das Ich ist unten, das rapunzelige ist oben, und von da oben kommt Geflüster herunter?

Rita

Beitragvon Rita » 05.01.2015, 15:14

Lieber Pjotr,

ja, das ist ein Gedicht, bei dem man sich einiges denken kann.

Ciao, Rita

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Beitragvon Pjotr » 05.01.2015, 16:28

Aus Deiner Antwort schließe ich, vermute ich, Du selbst meinst es eher anders herum: Das Ich ist ein Rapunzel. -- Wie auch immer, ich merke, das ändert nichts am Bild vom "Raumbleiben".

Mal überlegen ...

Und doch, ein zwei Fenster Rapunzels
öffnen sich, zeitweise, aus Verlegenheit,
lassen Flüsterblasen frei *
von oben herunter


* Oder:
hauchen Flüsterdunst
hauchen Flüsterdunst hinaus
befreien Flüsterdunst
Flüsterballone steigen
entlassen Flüstereien
Flüsternetze spinnen
zöpfen Geflüster aus dem Arrest
da bleibt Raum für Geflüstertes (original)


Hmm, ich weiß auch nicht. Irgendwas bildhaft räumliches ...


Ahoy

P.

Rita

Beitragvon Rita » 05.01.2015, 16:45

Pjotr, so leid es mir tut, dich enttäuschen zu müssen, da schließt du falsch. Rapunzel ist nicht das LI. Du kennst doch sicher das Märchen von Rapunzel? Das ist die, die oben im Turm eingesperrt ist und immer ihren blonden Zopf wegen der Verpflegung heraushängen muss. In meinem Gedicht fungiert sie als Metapher, so viel verrate ich dir.

Ciao, Rita

Niko

Beitragvon Niko » 05.01.2015, 16:50

hallo rita,
ich finde dieses gedicht - ich sag es jetzt enmal unvollkommen: berührend. für mich, nach meiner lesart ist es ein statementgedicht. selbstzweifelnd, zweifelnd überhaupt und auch einsichtig auf der anderen seite.
die rapunzel-stelle gefällt mir. wer sagt denn, dass mit "geflüster von oben" rapunzel (die ja oben im turm ist) gemeint sein muss? der turm ist nicht das ende von "oben", pjotr.

ich bewundere deine offenheit in diesem gedicht. und diese verlyrisierte offenheit macht deinen text groß. kompliment, rita!!!

geneigte grüße - niko
Zuletzt geändert von Niko am 05.01.2015, 17:05, insgesamt 1-mal geändert.

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Beitragvon Pjotr » 05.01.2015, 17:04

Rita, das enttäuscht mich nicht. Mein erster Eindruck war ja: Rapunzel ist nicht das LI.

Ich kenne die Sache mit dem Zopf. Hast Du meine Vorschläge gelesen? Da kommt einmal "zöpfen" vor.

Rita

Beitragvon Rita » 05.01.2015, 17:42

Pjotr,

gelesen habe ich deine Vorschläge. An meinem Gedicht aber schrammen sie forsch vorbei. Aber vielleicht ist das Gedicht auch zu kompliziert für dich, du brauchst es vielleicht einfacher wegen der Sprache, nehme ich an. Die Sprache ist komplex, metapherndurchsetzt, ein Gedicht für Erwachsene sozusagen, mit einem Hauch ins Philosophische.
Da ist mit Rapunzel nichts erklärt. Demnächst stelle ich was Einfacheres ein, dir zuliebe.

Ciao, Rita

Rita

Beitragvon Rita » 05.01.2015, 17:50

Lieber Niko,

ein etwas komplizierteres Gedicht, du versuchst dahinterzukommen und triffst es so ungefähr, sage ich mal. Aber was verstehst du unter einem Statementgedicht? Für mich ist es ein Gedicht, ohne Statement. Danke fürs Kompliment, kann ich gebrauchen.

Ciao, Rita

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Beitragvon Pjotr » 05.01.2015, 18:14

Rita, es ist nur dieses "da bleibt Raum für Geflüstertes". Die Phrase "da bleibt" erscheint mir aus poetischer Sicht zu banal. Und "Geflüstertes" klingt mir unnötig holprig. Das Geflüsterte an sich ist doch gleichsam Geflüster, selbst wenn es passiv abgeschlossen sein soll.

Nifl
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Beitragvon Nifl » 05.01.2015, 20:02

Herrlich mal was Ungereimtes von dir zu lesen.
Das Gedicht konstituiert drei Bildkreise, die in Strophen voneinander abgesetzt sind und durch das Sterben verklammert werden.

Der Titel ist Programm, zeigt bereits ein dialektisches Spannungsverhältnis durch seine Paradoxie an, obwohl es keine Wortschöpfung ist, einzig durch die
Pluralisierung und Substantivierung herausgestellt. Etwas Zeitloses hat Bestand vergleichbar einer "angehaltenen Zeiten", ist aber auch der Tod.

Das wird in der ersten und zweiten Zeile nochmal vertieft, denn wer gleichzeitig jagt und flieht
befindet sich im Stillstand, in einem unwirklichen Schwebezustand, ähnlich wie bei einem Unfall, wenn man alles in Zeitlupe erlebt. Und für mich spielt die erste Strophe auch so einen Unfall an, mit dem finalen Film, der abläuft ("die Handvoll Leben im Gedächtnis")."Wenn ein Individuum stirbt/stürzt". Gefällt mir sehr, nur das Doppelleben würde ich vom Ausdruck her überdenken.

Die zweite Strophe ist tatsächlich sehr dicht. Rapunzel/Märchen besitzt ein vielfältiges Referenzfeld. Für mich eine Jugendmetapher, ein Leergesichtiger der ersten Strophe bekommt zeitweise ein Gesicht, schaut von oben zum "Gestürzten", flüstert zu ihm, wird aber auch wechselweise sein eigenes junges Ich. Für mich ein Sterbeprozess.

In der dritten Strophe wird es dann auch konsequent religiös (versündigen/Psalter) und könnte den Tod symbolisieren. Ein Jüngerer hätte es noch geschafft die Wahrheiten umzudichten, LyI blickt aber der Wahrheit/dem Tod ins Auge und versündigt sich damit am Leben.

Hat auf jeden Fall Spaß gemacht sich damit zu beschäftigen.

Gruß
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)

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nera
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Beitragvon nera » 06.01.2015, 02:05

niflchen, das sterben hier ist doch eher das sterben von wahrheiten, was das auch immer ist. und ziemlich viel selbstmitleid des lyrischen ichs. dass die gesichter, denen es begegnet, leer sind, gleichgültig sind, macht dieses leben doch eigentlich erst lebensgefährlich. welchen zeiten jagt, flieht denn das lyrische ich davon? welchen konnservierten leben trauert es nach? es wünscht sich doch eine zeitloskeit? etwas was ewig ist? hier steckt für mich das paradoxe.
die rapunzelstrophe ist für mich auch die spannenste. rapunzel ist ja ziemlich isoliert, solange sie in diesm turm gefangen ist. da kommt nur die mutterhexe, klettert tag für tag an ihrem haar hoch und ansonsten ist da niemand in ihrem einsamen turm.
da muss das hübsche mädchen doch recht naiv sein.
und außer dieser zauberin weiß ja niemand, dass es sie gibt. bis zu diesem moment, wo dieser verführerische prinz auf der jagd (!) am turm vorbei kommt und sie singen hört. zwei leute also, die den turm und rapunzel kennen. das lyrische ich ist entweder der prinz oder die hexe. und da wird dann geflüstert. aus verlegenheit? oder gelegenheit? (ein unzulässiger einwurf) und was heißt schon von oben herunter? freilich, erstmal von oben herunter. madam wohnt ja in einem turm. (wird gefangen gehalten in einem turm) aber beide möglichen lyrischen ichs wissen wie man hochklettert. nämlich am haar der begehrten. das haar ist ziemlich oft symbol für stärke, lebenskraft und deshalb ist diese rapunzelmetapher naheliegend und trotzdem irgendwie suspekt. mal abgesehen davon, dass rapunzel schwanger wird mit zwillingen,, aber in eine ödniss (?) berfrachtet wird, nachdem ihr die hexenmutter die haare (!) abgeschnitten hat, der prinz erblindet, die hexe nicht mehr auftaucht, das augenlicht des prinzen durch tränen gerettet wird und sich alles in wohlergehen auflöst. natürlich nicht für die hexe.
so. also mit dieser rapunzel flüster das lyrische ich aus verlegenheit von oben herunter? das ist wirklich spannend.
die letzte strophe ist dann wieder etwas layomant.
"mangels beweisen verurteilt" hallo? spricht da das mutterhexenlyrischich? "versündige ich mich an wahrheiten" ? hallohallohallo? wie geht das denn? das ist doch ein kryptisches kauderwelsch. das sich mächtig anhört. ich könnte auch sagen: stimmungsbildene rhetorik, die nicht hält, was sie verspricht, wenn man sie auflöst.
wenn ich nun deiner analyse folge, nifl, spricht sich das lyrische ich in seinem rapunzel-jugendspiegel selbst einfalt zu und reflektiert über da sterben. das zeitlose. die verschiedenen zeitlosigkeiten. aber mit dem statement, nicht jung genug zu sein, einfalt zu lobgesängen zu dichten, erhebt sich das lyrische ich wieder über das leben. ein dilemma.
ein bewegender text. aber er wäre bewegender, ehrlicher, wenn er ohne selbstmitleid auskäme.


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